Von der Eule auf der Jagd nach dem Hasen
#5
"Gib mir einen Menschen!"


Bleiernes Schweigen, finsterste Kopfschmerzen. Cleo war auf der Suche nach dem ausführlichen Alleinsein in einen der Särge gekrochen und hatte den Deckel zugemacht. Sie starrte in die Dunkelheit und lauschte dem Gehämmer, das von draußen an ihr Ohr drang und sie wissen ließ, dass Lew damit beschäftigt war das marode Wagenrad des Schubkarrens zu reparieren. Es eierte. Sie erwog den Sarg nie wieder zu verlassen und jetzt, da es zu regnen begann und die schweren Tropfen auf den Deckel ihrer neuen Behausung fielen, war sie davon überzeugt die richtige Entscheidung zu treffen, wenn sie den Sarg zu ihrem künftigen Aufenthaltsort erkor. "Und irgendwann", dachte sie bei sich, "bin ich dann tot." Da fiel ihr der Pfirsich ein, den sie vom Hof mitgebracht hatte und sie atmete seinen Duft tief durch die Nase ein.

Rückblickend betrachtet waren ihr die Pfirsiche am liebsten gewesen. Sie rieb ihn an der Wange und die zarte Haut, die das saftige, orange Fruchtfleisch umspannte, verschaffte ihr ein Gefühl von Geborgenheit und einen Moment des Friedens. Pfirsiche, das Haus den ganzen Tag nicht verlassen, die kleinen Würmer essen, die aus der Matratze krochen, Fingernägel kauen, Lew, wenn er ihr mit beiden Augen zuzwinkerte, das alles war ihr am liebsten gewesen und die Gedanken daran ließen einen Augenblick der Wehmut an ihr vorüberziehen.

Todesursache: Schulden. Zwei Gulden, dreißig Schilling und dreiunddreißig Heller, oder zweihundertdreißig Schilling und dreiunddreißig Heller, oder dreiundzwanzigtausenddreiunddreißig Heller. Ihr wurde immer schwindlig, wenn sie sich die Zahl vergegenwärtigte, also unterließ sie es und verwendete ihre Verstandeskraft stattdessen darauf Überlegungen ganz anderer Natur anzustellen. Wie lange würde es dauern bis sie endlich tot war und wenn ja, würde ihr der Sarg gehören, in dem sie starb und wenn nein, dürfen Tote in der Nacht Unkraut jäten? Sie hatte irgendwann gehört, dass Verträge mit dem Tod enden und sie kannte Lew und wusste deshalb auch, dass er zu Verträgen ein flexibles und eher bequemes Verhältnis pflegte.

Es war Abend und schließlich Nacht geworden und Cleo erwachte erst im frühen Morgengrauen wieder. Sterben war unfassbar langweilig und durstig war sie auch ...

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RE: Von der Eule auf der Jagd nach dem Hasen - von Cleo Graupel - 22.07.2013, 14:26



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