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Normale Version: Von der Eule auf der Jagd nach dem Hasen
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Im Hafen


Es war allseits bekannt und auch Cleo wusste, dass man vom Hafen nicht auf die Stadt schließen konnte, denn so wie das Äußere eines Menschen keine Auskunft über seine Seelenlandschaft gab, so verriet auch ein Hafen nichts über die Stadt, deren Zugang er ermöglichte. Jedenfalls galt es das in Anbetracht des Löwensteiner Hafens zu hoffen, denn obwohl ihre Ankunft bereits zwei Wochenläufe zurücklag, hatte sie von der Stadt nicht mehr gesehen als die lose Ansammlung heruntergekommener Hütten auf dem Gelände des alten Hafenviertels.

Sie musste sich allerdings eingestehen, dass sie keinerlei Bestrebungen an den Tag gelegt hatte, diesem unbefriedigenden Umstand Abhilfe zu schaffen und so war es auch nicht verwunderlich, dass die Stadt jenseits des Hafenviertels zum Gegenstand phantastischer Überlegungen wurde und ihre Vorstellungskraft ein Stadtbild weit jenseits der Grenzen physikalischer Gesetzmäßigkeiten entwarf. Inmitten dieser Stadt hatte man eine riesige Mühle auf einem Hügel errichtet und die Götter selbst brachten ihre gewaltigen Flügel zum Schwingen, sodass Tag und Nacht und zu jeder Jahreszeit Mehl gemahlen wurde und alle Bürger das ganze Jahr über mit Brot versorgt waren. Ein Müller mit dickem Bauch und einer weißen Stoffhaube auf dem Kopf, stieg jeden Tag die ungezählten Stufen in einem aus dem Stein gehauenen Treppenaufgang empor und wachte von seinem erhöhten Standpunkt aus über die Geschicke der Stadt. Selbst ihre klägliche Existenz war ihm nicht verborgen geblieben und sie spürte im Bewusstsein seiner wachsamen Augen ein Gefühl von Sicherheit in ihr aufkeimen. Ja, die Götter mussten Müller sein.

Nur in der Nacht, wenn der Wind im Schornstein pfiff und die hölzernen Wände zum Leben zu erwachen schienen, wenn die Schatten langsam auf sie zu krochen und die Dunkelheit die Geister aus ihren Ecken hervorlockte, dann war sie voller Angst und die alte Befürchtung ihr Bruder könnte sie hier finden, raubte ihr den Schlaf. Erst das Morgengrauen beruhigte sie wieder. Nein, es war undenkbar, dass sie hier gefunden werden konnte. Niemand interessierte sich für sie oder den Grund ihres Aufenthaltes und wenn sie doch jemand nach ihrem Namen fragte, dann nannte sie sich Cleo. Nach dem Grund ihres Aufenthaltes erkundigte sich niemand, denn er war für alle unmittelbar einsehbar. Sie war eines der ungezählten Mädchen, die vor ihrer Familie oder ihrem Herren geflohen und an den Hafen der Stadt gespült worden waren. Sie wurden von den Wirten aufgelesen und es dauerte nicht lange, bis sie zum ersten Mal mit einem Gast auf eines der Zimmer geschickt wurden. Solche Mädchen hatten keinen Namen und sie brauchten auch keinen, denn sie teilten alle das gleiche Schicksal. Irgendwann waren sie dann einfach verschwunden.


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Laub und Staub


Sie hatte sich eigentlich vorgenommen ihr Geld nicht mehr in diese Spelunke zu tragen und schon gar nicht um damit den billigen Fusel zu bezahlen, der ihr dort vorgesetzt wurde. Er betäubte zwar die Sinne und machte sie stumpf und unzugänglich für äußere Eindrücke, aber um den Preis finsterster Kopfschmerzen, die sie am nächsten Tag heimsuchten und sie glauben ließen, ihr Kopf wäre zwischen einen Schraubstock geklemmt, der mit jedem Geräusch, das an ihr Ohr drang, enger geschraubt wurde. Sie hatte mit diesem Vorsatz auch nur gebrochen, weil in dieser Nacht eine dichte Nebeldecke zwischen den Gassen des Hafenviertels hing und die Feuchtigkeit durch den dünnen Stoff ihres Kleides bis ins Gebein sickerte und ihre Glieder klamm und steif werden ließ.

Die Nacht war längst hereingebrochen als sie den schmalen Gang betrat, der zur Gaststube führte. Die schwarze Holzvertäfelung, die fast bis unter die Decke reichte, hatte über die Jahre hinweg all den Rauch und die Feuchtigkeit der Umgebung aufgenommen und verströmte nun ihrerseits einen beißenden Geruch im Raum. Sie atmete die abgestandene Luft tief in ihre Lungen ein und damit eine Atmosphäre, die von nichts als enttäuschten Hoffnungen und bitterer Armut zeugte.

Cleo gesellte sich zu ein paar Männern, die sich um einen wurmstichigen Tisch aus massiven Holz versammelten und einander den Seemannsgarn auftischten, den ihr benebelter Geist zu dieser Stunde noch zu erdenken imstande war und bald lockerte der Schnaps auch ihre Zunge und sie erzählte allerhand von kleinwüchsigen Menschen, die einst ihren Keller bewohnten und einem Mann, der sich weniger für Frauen als die jungen Knaben aus der Nachbarschaft interessierte. Es war die Rede von einem gefundenen und tausendfach verlorenem Zuhause, von Schuld, einem Schaf, einem Kind, Tod und Verzweiflung und eine langen und besinnungslosen Flucht. Es war eine Geschichte, die in dieser Variante einzigartig war und doch ein Schicksal beschrieb, das an diesem Tisch jeder erlebt hatte. Es war die Geschichte davon alles zu gewinnen und alles zu verlieren.


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Jenseits des Tages


Sein Tod hatte sie mehr geprägt als sein Leben. Er war mittlerweile länger tot als sie ihn zu seinen Lebzeiten gekannt hatte. Das waren nur ein paar Monate gewesen und doch, ein Jahr nach seinem Aufbruch in den Wald, verging noch immer kein Tag, an dem sie nicht an ihn gedacht hätte, an dem sie nicht versucht hätte, sich sein Gesicht zu vergegenwärtigen. Die Erinnerungen begannen bereits zu verblassen und ihrer Phantasie blieb überlassen wozu ihr Gedächtnis nicht imstande war. Unaufhörlich entwarf es das Bild eines Menschen, das ihn verklärte und nur noch ihren Wünschen gerecht wurde. War das Leben, das sie geführt hatten, so glücklich gewesen wie die Vorstellung davon? Sie lebte in einer Vergangenheit, die nie gewesen war und dachte an eine Zukunft, die nie kommen würde.

In den seltenen, klaren Momenten, die plötzlich und unvorhergesehen über sie hereinbrachen, fragte sie sich, ob sie überhaupt Freunde gewesen waren. War es nicht viel eher so gewesen, dass sie in bederseitiger Abhängigkeit aneinander gefesselt waren und sich aus Trotz ihrer Lage gegenüber ihre Zuneigung nur vorgegaukelt hatten?

Er hatte immer mehr eingefordert als er zu geben bereit war, mehr für sich veranschlagt als für andere. Er war zu viel schuldig geblieben und als er dann in den Wald gegangen war, war der Tag gekommen, an dem die Rechnung beglichen werden sollte und er sah sein Schicksal über sich hereinbrechen, wie ein Gewitter an einem schwülen Tag. Aber wie immer verfehlte der Ratschluss des Gläubigers den Schuldner und so war sie es gewesen, die darunter zu leiden hatte. Er war schließlich tot.

Ein Jahr und viele Tagesreisen später ließ ihre Lage selbst für das beschönigende Auge von Cleo zu wünschen übrig. Sie war allein und wenn sie es nicht war, dann wünschte sie sich alleine. Ihre Seele und ihr Körper waren gedemütigt und die Leute in der Taverne machten sich nicht mehr die Mühe ihre Stimmen zu dämpfen, wenn sie über sie sprachen. Das Mädchen mit den Däumlingen im Keller. Sie war viel zu stolz es zu leugnen, schließlich war es wahr - gewesen.


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Wind weht


Als sie in jener Nacht aus ihrem traumgeplagten Schlaf erwachte, fand sie sich in einen Zustand existentiellen Zweifels versetzt und was vorher nur eine dunkle Ahnung gewesen war, trat nun als unumstößliche Gewissheit auf. Sie war - wie sooft - einem Versehen aufgesessen und es war ihre rege Phantasie gewesen, die ihre Wünsche mit seiner Rückkehr erfüllte hatte. Es konnte nicht wahr sein und nun, da er weg war, war es klar: Er war ihr Irrtum, ihre Lebenslüge und immer, wenn sie ins Bodenlose zu stürzen drohte, spannte er das Netz, das sie auffing und wiegte sie in trügerischer Sicherheit. Bis sie dann - so wie in dieser Nacht - von einem Moment der Klarheit heimgesucht wurde und sich mit der Härte einer anderen Realität konfrontiert sah. Er war tot und selbst wenn ihn die Götter oder ihre Vorstellung auferstehen ließen, dann nicht für sie. Mit dem fliehenden Lächeln auf seinen Lippen wusste er alles seine Person betreffende zu verbergen und sie hatte es sich zur Angewohnheit gemacht seine Erklärungen nicht auf den Prüfstand ihrer Fragen zu stellen.

Er hatte längst getan wozu sie nicht fähig gewesen war. Er hatte sie verlassen und er würde sie wieder verlassen und wieder würde er keinen Anlass finden sich zu rechtfertigen. Er war der Schwerpunkt, um den ihre Bahnen in konzentrischen Kreisen verliefen und jeder Versuch eigene Wege zu beschreiben, ließ sie nur die träge Schwere ihrer Abhängigkeit spüren. Sie war längst nicht der einzige Trabant in diesem Universum mit seinen eigenen Gravitationsgesetzen und mit seinen eigenen Fallgeschwindigkeiten und in der Peripherie dieses Kosmos war sie zum stummen Beobachter geworden. Nein, sie sagte nichts. Sie ließ ihn im Dunkeln über ihr Misstrauen, ihre Ängste und Hoffnungen und machte sich damit des gleichen Vergehens schuldig. Sie hatten sich gegenseitig zu Betrügern gemacht, jeder auf seine Weise und doch niemals auf eigene Kosten.

Aber jetzt, da eine andere Gestalt aufgetaucht war und ihr Nachsinnen andern Ortes gebündelt war, spürte sie einen frischen Luftzug durch ihr Leben wehen und sie wandte ihr Gesicht dem Wind entgegen, der aus einer Richtung kam, in die selbst ihre Träume nicht gewiesen hatten …


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"Gib mir einen Menschen!"


Bleiernes Schweigen, finsterste Kopfschmerzen. Cleo war auf der Suche nach dem ausführlichen Alleinsein in einen der Särge gekrochen und hatte den Deckel zugemacht. Sie starrte in die Dunkelheit und lauschte dem Gehämmer, das von draußen an ihr Ohr drang und sie wissen ließ, dass Lew damit beschäftigt war das marode Wagenrad des Schubkarrens zu reparieren. Es eierte. Sie erwog den Sarg nie wieder zu verlassen und jetzt, da es zu regnen begann und die schweren Tropfen auf den Deckel ihrer neuen Behausung fielen, war sie davon überzeugt die richtige Entscheidung zu treffen, wenn sie den Sarg zu ihrem künftigen Aufenthaltsort erkor. "Und irgendwann", dachte sie bei sich, "bin ich dann tot." Da fiel ihr der Pfirsich ein, den sie vom Hof mitgebracht hatte und sie atmete seinen Duft tief durch die Nase ein.

Rückblickend betrachtet waren ihr die Pfirsiche am liebsten gewesen. Sie rieb ihn an der Wange und die zarte Haut, die das saftige, orange Fruchtfleisch umspannte, verschaffte ihr ein Gefühl von Geborgenheit und einen Moment des Friedens. Pfirsiche, das Haus den ganzen Tag nicht verlassen, die kleinen Würmer essen, die aus der Matratze krochen, Fingernägel kauen, Lew, wenn er ihr mit beiden Augen zuzwinkerte, das alles war ihr am liebsten gewesen und die Gedanken daran ließen einen Augenblick der Wehmut an ihr vorüberziehen.

Todesursache: Schulden. Zwei Gulden, dreißig Schilling und dreiunddreißig Heller, oder zweihundertdreißig Schilling und dreiunddreißig Heller, oder dreiundzwanzigtausenddreiunddreißig Heller. Ihr wurde immer schwindlig, wenn sie sich die Zahl vergegenwärtigte, also unterließ sie es und verwendete ihre Verstandeskraft stattdessen darauf Überlegungen ganz anderer Natur anzustellen. Wie lange würde es dauern bis sie endlich tot war und wenn ja, würde ihr der Sarg gehören, in dem sie starb und wenn nein, dürfen Tote in der Nacht Unkraut jäten? Sie hatte irgendwann gehört, dass Verträge mit dem Tod enden und sie kannte Lew und wusste deshalb auch, dass er zu Verträgen ein flexibles und eher bequemes Verhältnis pflegte.

Es war Abend und schließlich Nacht geworden und Cleo erwachte erst im frühen Morgengrauen wieder. Sterben war unfassbar langweilig und durstig war sie auch ...

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