Von der Eule auf der Jagd nach dem Hasen
#4
Wind weht


Als sie in jener Nacht aus ihrem traumgeplagten Schlaf erwachte, fand sie sich in einen Zustand existentiellen Zweifels versetzt und was vorher nur eine dunkle Ahnung gewesen war, trat nun als unumstößliche Gewissheit auf. Sie war - wie sooft - einem Versehen aufgesessen und es war ihre rege Phantasie gewesen, die ihre Wünsche mit seiner Rückkehr erfüllte hatte. Es konnte nicht wahr sein und nun, da er weg war, war es klar: Er war ihr Irrtum, ihre Lebenslüge und immer, wenn sie ins Bodenlose zu stürzen drohte, spannte er das Netz, das sie auffing und wiegte sie in trügerischer Sicherheit. Bis sie dann - so wie in dieser Nacht - von einem Moment der Klarheit heimgesucht wurde und sich mit der Härte einer anderen Realität konfrontiert sah. Er war tot und selbst wenn ihn die Götter oder ihre Vorstellung auferstehen ließen, dann nicht für sie. Mit dem fliehenden Lächeln auf seinen Lippen wusste er alles seine Person betreffende zu verbergen und sie hatte es sich zur Angewohnheit gemacht seine Erklärungen nicht auf den Prüfstand ihrer Fragen zu stellen.

Er hatte längst getan wozu sie nicht fähig gewesen war. Er hatte sie verlassen und er würde sie wieder verlassen und wieder würde er keinen Anlass finden sich zu rechtfertigen. Er war der Schwerpunkt, um den ihre Bahnen in konzentrischen Kreisen verliefen und jeder Versuch eigene Wege zu beschreiben, ließ sie nur die träge Schwere ihrer Abhängigkeit spüren. Sie war längst nicht der einzige Trabant in diesem Universum mit seinen eigenen Gravitationsgesetzen und mit seinen eigenen Fallgeschwindigkeiten und in der Peripherie dieses Kosmos war sie zum stummen Beobachter geworden. Nein, sie sagte nichts. Sie ließ ihn im Dunkeln über ihr Misstrauen, ihre Ängste und Hoffnungen und machte sich damit des gleichen Vergehens schuldig. Sie hatten sich gegenseitig zu Betrügern gemacht, jeder auf seine Weise und doch niemals auf eigene Kosten.

Aber jetzt, da eine andere Gestalt aufgetaucht war und ihr Nachsinnen andern Ortes gebündelt war, spürte sie einen frischen Luftzug durch ihr Leben wehen und sie wandte ihr Gesicht dem Wind entgegen, der aus einer Richtung kam, in die selbst ihre Träume nicht gewiesen hatten …


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RE: Von der Eule auf der Jagd nach dem Hasen - von Cleo Graupel - 12.07.2013, 21:44



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