Von der Eule auf der Jagd nach dem Hasen
#1
Im Hafen


Es war allseits bekannt und auch Cleo wusste, dass man vom Hafen nicht auf die Stadt schließen konnte, denn so wie das Äußere eines Menschen keine Auskunft über seine Seelenlandschaft gab, so verriet auch ein Hafen nichts über die Stadt, deren Zugang er ermöglichte. Jedenfalls galt es das in Anbetracht des Löwensteiner Hafens zu hoffen, denn obwohl ihre Ankunft bereits zwei Wochenläufe zurücklag, hatte sie von der Stadt nicht mehr gesehen als die lose Ansammlung heruntergekommener Hütten auf dem Gelände des alten Hafenviertels.

Sie musste sich allerdings eingestehen, dass sie keinerlei Bestrebungen an den Tag gelegt hatte, diesem unbefriedigenden Umstand Abhilfe zu schaffen und so war es auch nicht verwunderlich, dass die Stadt jenseits des Hafenviertels zum Gegenstand phantastischer Überlegungen wurde und ihre Vorstellungskraft ein Stadtbild weit jenseits der Grenzen physikalischer Gesetzmäßigkeiten entwarf. Inmitten dieser Stadt hatte man eine riesige Mühle auf einem Hügel errichtet und die Götter selbst brachten ihre gewaltigen Flügel zum Schwingen, sodass Tag und Nacht und zu jeder Jahreszeit Mehl gemahlen wurde und alle Bürger das ganze Jahr über mit Brot versorgt waren. Ein Müller mit dickem Bauch und einer weißen Stoffhaube auf dem Kopf, stieg jeden Tag die ungezählten Stufen in einem aus dem Stein gehauenen Treppenaufgang empor und wachte von seinem erhöhten Standpunkt aus über die Geschicke der Stadt. Selbst ihre klägliche Existenz war ihm nicht verborgen geblieben und sie spürte im Bewusstsein seiner wachsamen Augen ein Gefühl von Sicherheit in ihr aufkeimen. Ja, die Götter mussten Müller sein.

Nur in der Nacht, wenn der Wind im Schornstein pfiff und die hölzernen Wände zum Leben zu erwachen schienen, wenn die Schatten langsam auf sie zu krochen und die Dunkelheit die Geister aus ihren Ecken hervorlockte, dann war sie voller Angst und die alte Befürchtung ihr Bruder könnte sie hier finden, raubte ihr den Schlaf. Erst das Morgengrauen beruhigte sie wieder. Nein, es war undenkbar, dass sie hier gefunden werden konnte. Niemand interessierte sich für sie oder den Grund ihres Aufenthaltes und wenn sie doch jemand nach ihrem Namen fragte, dann nannte sie sich Cleo. Nach dem Grund ihres Aufenthaltes erkundigte sich niemand, denn er war für alle unmittelbar einsehbar. Sie war eines der ungezählten Mädchen, die vor ihrer Familie oder ihrem Herren geflohen und an den Hafen der Stadt gespült worden waren. Sie wurden von den Wirten aufgelesen und es dauerte nicht lange, bis sie zum ersten Mal mit einem Gast auf eines der Zimmer geschickt wurden. Solche Mädchen hatten keinen Namen und sie brauchten auch keinen, denn sie teilten alle das gleiche Schicksal. Irgendwann waren sie dann einfach verschwunden.


[Bild: unyl.jpg]
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Von der Eule auf der Jagd nach dem Hasen - von Cleo Graupel - 28.06.2013, 00:41



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