FSK-18 Nachtmahre
#2
"Woher hast du das?"
Der scharfe Unterton, seit langem eine Unterbrechung aus dem monotonem Greinen, lässt mich schnell aufblicken. Und ebenso schnell bin ich bei Phoebe und entreiße ihr ein Bündel, in welches sie gegriffen hat. Feiner Leinenstoff, dunkelgrün eingefärbt, fällt auf den Boden, bleibt zwischen uns liegen wie ein Mahnmal.
"Ist das ein Leinenhemd?" - "Das geht dich nichts an."
Ihr Blick sagt alles. Sie rechnet aus, wieviele kleine, weiße Kerzen dieses Hemd gekostet hat. Wie viele gottgegebene Mahlzeiten. Wieviele Wochen Miete. Ich hebe es auf, schüttel es aus und wende mich ab.
"Ich verstehe dich nicht mehr, mein Sohn."
Es ist diese stumme Anklage in ihrem Ton, in ihren Augen, in ihrer ganzen Haltung, die mich fertig macht. Die mich meinen Blick heben lässt, die Muskeln spannen sich an. Ich habe die letzte Nacht fast gar nicht geschlafen - die Träume vermischen sich, einzelne Fäden knüpfen neue Stoffe. Qual durch ihr schmerzverzerrtes Gesicht, Qual durch ihre Stimme. Die süße Qual, die neu hinzugekommen war. Das erste Mal seit fünf Jahren erhebe ich die Stimme gegen meine Mutter, und mein aufgestauter Frust findet ein Ventil.
"Schau mich nicht so an!" Ich höre von unter uns Schritte. Die Hausdame? "Schau mich verdammt noch mal nicht so an! Es ist mein Geld! Ich gehe jeden Tag hinaus, um die Miete für dieses Loch und das Essen auf unseren Tellern zu bezahlen! Ich zahle sogar für deine Kerzen, die du anzündest! Es ist mein Geld, mein Leben, also finde dich damit ab oder geh' und arbeite!"
Es ist kein besonders großer Ausbruch gewesen. Ich habe kaum mehr als die Stimme gehoben, aber seit Lilianes Tod habe ich ihr keine Widerworte gegeben, wenn es nicht um den Kirchengang ging. Ich habe Branwens Fest ein jedes Jahr nicht gefeiert, ebenso alle anderen Feste meines Glaubens; ich habe ihr das Geld für ihre Kerzen gegeben, ihr das Sonnensymbol am Hals gekauft, für Kleidung und Essen und ein Dach über dem Kopf gesorgt. Sie ist meine Mutter, und trotz ihrer Verfehlungen auf mich angewiesen, denn Liliane war ihr Sonnenschein, als mein Vater im Sumpf verloren ging, und ich war nie gut genug als Ersatz. Es hat mich nie so getroffen wie in diesem Moment - vielleicht wird es mich auch nie mehr so treffen wie heute. Aber wo sie so erschrocken dreinsieht, ein Schatten ihrer Selbst, dünn und eingefallen, krumm vor Kummer und Gicht, bereue ich meine Worte schon, auch wenn sie wahr sind. Vielleicht habe ich ihr deswegen einen Schilling auf den Tisch gelegt und bin gegangen. Soll sie eine Kerze für mein Seelenheil in Mithras Kirche entzünden.

Es ist schon dunkel draußen, aber ich kenne die Wege und meine Augen sehen gut im Sternenlicht. Der Mond ist noch nicht aufgegangen, und umso klarer leuchten sie - kalt und unerreichbar. Gedanken an den Tag kommen auf. An solchen Abenden denke ich gerne und viel über die Geschehnisse der letzten Tage nach. Der geplatzte Besichtigungstermin - eine größere Wohnung, verbunden mit mehr Arbeit, aber mehr Platz und Freiheit -, die Verletzung am Bein, die nur langsam heilt... Der Beutel liegt noch in meiner Hand, und ich lächele. Die Hochzeit. Egal, unter welchem wohlwollendem Gott diese gehalten wird, es ist eine Hochzeit. Und es stimmt mich freudig, es besänftigt mich. Ich muss nur an Mareis vergnügte Augen denken, und ein Lächeln krabbelt meine Mundwinkel hoch. Die Stadtmauern kommen in Sicht, und ich beschleunige meine Schritte. Ich würde erst spät wieder nach Hause kommen, wenn Phoebe fort oder eingeschlafen ist. Vielleicht gehe ich zum Friedhof. Ob Cleo noch wach ist? Sie erinnert mich an seine Schwester - der Blick immer fern, aufmerksam gegenüber so merkwürdigen Dingen, aber vor allem für das Schöne.

Die letzten Tage waren besser. Ich fühle es, als ich mich an die Mauer lehne und hoch blicke in die kalten Sterne. Besser als die letzten fünf Jahre allemal. Der Mahr kommt seltener, doch andere Träume nehmen Form an. Andere Ängste wallen auf. Nach fünf Jahren der Stille regt es sich wieder, und ich weiß nicht, wohin es mit mir geht.
"Was hast du gesehen?", flüstere ich und bedecke meine Augen. "Du hast immerzu ins Nichts geschaut... was hast du gesehen?"
Ihre sanfte Stimme antwortet mir nicht. Nicht einmal im Traum tut sie das, wo ich ihr doch so nah zu sein glaube. Ich fühle, wie meine Hände zu zittern beginnen. Und obwohl ich weiß, dass meine Sorgen so lächerlich klein sind, so unbedeutend, dass alles, was auf mich zukommen mag, nicht einmal eine Fußnote im Weltgeschehen hinterlassen würde, fühle ich mich hilflos, und im gleichen Zuge so lebendig wie noch nie.
[Bild: style5,Ceras.png]

[02:58:55] <Lisbeth> Das sagst du nur bis ich Ceras Bolzen ins Bein scheiße
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Nachtmahre - von Ceras - 02.07.2013, 18:13
RE: Nachtmahre - von Ceras - 03.07.2013, 21:25
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