Warten auf die Dämmerung
#10
Der Tag war vorübergezogen, auch wenn nur die subjektive Sicht der Brünetten das Voranschreiten des Tages so unspektakulär betiteln würde. Ein objektiverer Beobachter hätte andere Worte dafür gefunden und hervorgehoben, dass sie sehr wachsam, wie jeden Tag gewesen war, immer auf sehr spezifische Zeichen achtend. Er hätte die Mühelosigkeit hervorgehoben mit der sie sich fast wie ein Geist zwischen den Menschen bewegte, und das ohne irgendeine bewusste Mühe. Er würde erwähnen, dass sie dieser Tage gut daran tat nicht so viel zu trinken und dass sie gut im Futter lag.
Doch der Tag war vorüber, und während sich die Szenerie nur unwesentlich veränderte, nahmen die Darsteller andere Rollen ein und die Kostüme wechselten.

"Der Tag ist vorübergezogen, und hat dir nichts gebracht, und hier bist du und ziehst allein durch die Straßen."

Die Bibliothek hatte sie nicht lange gehalten, auch wenn sie sich eigentlich auf einen langen Arbeitstag dort vorbereitet hatte. Sie hatte sich sogar einen Krapfen für die Arbeit besorgt. Gut, vielleicht ging es mehr um den Krapfen als um die Arbeit, und vielleicht ging es gar nicht um den Krapfen. Etwas fehlte.
Ihr einziger Vorteil war, dass sie es verstand zu denken ohne zu sprechen, was sie in die vorzügliche Lage versetzte beim Denken einen Krapfen zu essen, auch wenn sie von ihrem Meister nur 8/10 Punkte dafür geerntet hätte, denn ihre Miene verriet ihre innere Rastlosigkeit zu deutlich.

"...die Liste kann noch warten. Es ist nicht so als würden sich die Leute darum reißen. Die meisten würden lieber einen Troll erschlagen als sich einen vernünftigen Gedanken vorab zu machen oder ein Gespräch zu suchen."

"Das klingt nach dir."


"Hasenkotze. Du hast mir in der letzten Zeit nicht wirklich über die Schulter geschaut, oder hab ich mit dem Birnenbrand endlich signifikanten Schaden angerichtet?"

Indessen war sie aus einer Gasse herausgetreten, einige Stufen emporgeschritten und hatte sich die beiläufige mentale Notiz gemacht, dass Fräulein Rauh gerade auf einem Wachgang war, ehe sie sich voran auf eine nahe Brüstung stützte, den Blick in die Ferne gewandt.

"Dafür müsstest du mehr trinken."

"Geht schneller als du d..."

Die Trotzreaktion wurde allerdings jäh unterbrochen und das keineswegs unerwartet.

"Wie passend. Du würdest wenn du wolltest."

Es war nicht dass sie hasste wenn er das Offensichtliche feststellte, sie rügte sich dafür sich aus reinem Reflex hinter einem so fadenscheinigen Bluff versteckt zu haben.

"Warum bist du immer noch hier?"

"Fang nicht wieder damit a..."

"Du bist allein. Wir wissen dass 'all das' dich so sehr von ihnen trennt. Sieh dich an, nicht einmal der Vogtin kannst du dich anvertrauen, wenn sie die Hand nach dir ausstreckt. Du kannst mich nicht immer betrunken genug machen dass ich dir sage dass es nur ist um sie zu schützen."

Ihre Zähne begannen zu mahlen, denn dieses Gespräch hatten sie öfter geführt, und jedes Mal hatte sie es gehasst an diesen Punkt zu kommen.
Sie war sich nicht ganz sicher wann ihre Hände den Weg in ihre Manteltaschen gefunden hatten. Das Gefühl des kalten, nicht allzu harten Metalls wirkte sofort vertraut und die Geste mit der sie sich den Ring in der rechten Manteltasche über den Ringfinger streifte wirkte sehr routiniert, ehe sie die Hand in der Tasche zur Faust ballte.

"Ach. Deswegen? Du denkst nicht dass du das etwas überbewertest?"

Die Beobachtungsgabe wunderte sie nicht, sie war eigentlich sogar stolz darauf, das war nur nicht der richtige Zeitpunkt dafür... ganz und gar nicht.

"Du erinnerst dich daran wie ich uns rettete indem ich dich außer Gefecht setzte?"

"..."

"Also solange du mich nicht gerade ins Hafenviertel eilen und Matrosen aus dem Bett deiner Mutter zerren siehst bleibst du bei deinen Aufgaben und ich bei meinen"


Diese spontane Hasstirade war schnell geformt und es war die Vehemenz die hier neben dem plötzlichen Redefluss den Ton angab. Dazu kam dass es natürlich sehr befriedigend war.

"Hast du gerade..."

"Ja."
Sie konnte das zufriedene Lächeln dazu nur schwer unterdrücken, und ehrlich gesagt beruhigte es sie von Herzen, dass sie den selben selbstironischen Humor stets teilten.

"Ich bin stolz auf dich."

"Ich werde sie nicht im Stich lassen.

"Verstanden."

"Danke."
Es war der sachliche Abschluss dieses Austauschs, der die Rastlosigkeit niederrang, auch wenn das Gespräch keinesfalls sachlich war. Sie hätte von Anfang verloren wenn dem so gewesen wäre.

Sie hatte gar nicht recht mitbekommen wie sie sich währenddessen weiterbewegt hatten und längst nicht mehr an der Brüstung standen. Nicht dass es Aufmerksamkeit erregt hätte, denn kurz darauf war sie wieder allein in ihren Gedanken und auf den Straßen Löwensteins.
Irgendwo mitten auf der Straße hielt sie in ihren Schritten noch einmal inne um träge zum Firmament emporzublicken. Es fiel von außen schwer zu sagen wonach sie Ausschau hielt. Ob die Sterne noch richtig standen? Ob die Sterne für etwas Bestimmtes richtig stehen? Eine Sternschnuppe? Oder gar der Stand des Mondes?
Aber nach kurzer Zeit wirkte sie zufrieden. Zufrieden genug um mit einem Lächeln leichter Wehmut wieder in Richtung der Bibliothek zu marschieren.

"Huh... hatte ich nicht einen Krapfen?"
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Warten auf die Dämmerung - von Violetta Winter - 26.09.2016, 10:44
RE: Warten auf die Dämmerung - von Violetta Winter - 03.04.2017, 19:03



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