Ganz und gar
#11
Es kam aus dem Sumpf. Aus ihrem, nach Moos und Fröschen und feuchtem Laub duftendem Sumpf. Es kroch über den grünen Boden, grub die dürren Krallen tief hinein und riss Wunden in die Erde, die nie wieder heilen würden, setzte Schatten in die Welt, bis es nichts mehr außer der Dunkelheit gab.
Es war nicht mehr ihr Sumpf, und sie verlor sich, verlor sich in der Dunkelheit. Sie spürte noch das weiche Moos unter nackten Fußsohlen, konnte es jedoch nicht mehr sehen, hörte allein den eigenen rasselnden Atem als sie rannte, das kriechende Ungeheuer hinter sich. Es kam aus dem Sumpf und war hinter ihr her, kam immer näher, egal wie weit sie rannte, ohne einen Weg im Dunkeln finden zu können.

Nackte Sohlen schlugen dumpf über nachgiebigen Boden, sie rannte weiter, bis plötzlich, nach einer langen, angsterfüllten Ewigkeit, ein Licht zwischen den Bäumen aufblinkte. Erst eines, dann zwei, drei, zehn, mehr - unzählige Glühwürmchen schwebten durch die Nacht, weit ab vom verschlungenen Pfade.
'Man darf Glühwürmchen nicht folgen...sie sind in Wirklichkeit Totenlichter.'
Sie durfte nicht... doch das Ungeheuer kam näher, sie konnte die Erde hinter sich reißen und bluten hören. Sie durfte nicht...

Nackte Sohlen schlugen dumpf über nachgiebigen Boden als sie den Pfad verließ. Lichter schwirrten in wildem Tanz durch die Luft, und die Toten wiesen ihr den Weg.



Gwendolin wachte auf einen Schlag auf, ohne zu schreien. Sie öffnete einfach die Augen und starrte zur vom Rauch verfärbten Küchendecke, so lange, bis sich der eigene Atem wieder beruhigt hatte.
Zwielicht...die Sonne war noch nicht aufgegangen, die Nacht jedoch längst auf dem Rückzug. Ein Blick durch den Türbogen in den Vorraum ließ die schlafende Gestalt des Leibeigenen erkennen, in seiner eigenen Ecke zusammengerollt. Im ganzen Haus war nichts zu hören.
Als wäre gestern nichts passiert, auch bloß ein Alptraum gewesen. Das Mädchen versuchte es sich einen Moment lang auszumalen, es wäre ganz genau so, doch die wackligen Beine als sie aufstand, und die nagende Müdigkeit, die doch keinen Schlaf mehr gestattete, gemahnten zu deutlich an die viel zu kurze Ruhe - und den Grund dafür. Verschenkt. Ein letztes Spielzeug für einen alten, verrückten Mann.

Sie schauderte, kratzte sich einmal schmerzlich fest über die Oberarme und trottete dann auf weichen Knien in den halbdunklen Innenhof hinaus, das Wasserfass ansteuernd. Ihr Rücken tat auch noch weh... nein, das würde in keinerlei hinsicht ein schöner Tag werden.
Kaltes Wasser im Gesicht und an den Gliedern, die Kälte kroch tief unter die Haut, tat jedoch kaum viel dazu, sie aufzurütteln. Sie nahm es hin, zum Haus zurückkehrend um ihre Körbe für das Feld bereit zu machen. Es galt die Tiere zu füttern, den Weizen zu gießen...später wollte Greta noch Gerstenschrot haben.
Irgendwie drehte die Welt sich weiter, ganz ohne sich für den Abgrund vor ihren Füßen zu interessieren.

Die Stadt raste heute an ihr vorbei, als sie über die Straßen trottete. Aus dem Wirtshaus um die Ecke kam die Wirtin hervor, wollte ihr ein Körbchen in die Hand drücken... Gwen verstand nicht wieso, verstand nichts von dem Gerede der Frau, während jene mit diesem Körbchen vor ihrer Nase herumwedelte. Worte waren heute schwer zu verstehen. Wahrscheinlich wollte man ihr bloß etwas verkaufen. Sie zog jedenfalls ohne weiter, das Tavernenweib fahrig umrundend, flog durch endlos scheinende Straßen, bis eine Regung den Blick einfing.
Nein, keine Regung...bloß eine dreckige Fensterscheibe, aus der ihr Spiegelbild herausstarrte. Nun, zumindest das, wovon man allenthalben sagte, es sei ihr Spiegelbild: Sie selbst konnte nicht glauben, dass das verzogene, blutige Ding hinter dem Glas ihr eigenes Spiegelbild sein sollte. Es gruselte sie davor.
Heute jedoch machte das Ding keine Faxen, es starrte sie bloß stumm an, und Gwen hielt den Blick, zumindest länger als sonst. Genau so lange, um zu verstehen, was da noch hinter dem Glas lag. Plötzlich hielt das Rasen der Stadt an.

Die Feldkörbe fielen ihr aus der Hand als sie sich halb umwandte und den kleinen Laden betrat, die dürren Finger um jenen einen Schilling in der Tasche geschlossen, den Onkel Gaius ihr geschenkt hatte. Alles, was sie an Geld besaß... es würde reichen müssen.

"Was kann man für euch tun, Fräulein?"

Das Misstrauen war deutlich in der müden Stimme des Inhabers zu hören - den Haaren nach zu urteilen, war er eben erst aus dem Bett gekrochen. Gwen wandte sich herum und deutete mit der Linken zur Auslage.

"Was wollt ihr für den hier?"

Die eigene Stimme klang raschelnd leise in ihren Ohren, der Mann schien sie jedoch gut genug zu verstehen.

"Fünf Schilling...Fräulein."

"Ich habe nur einen."

Die Lippen des Händlers krümmten sich etwas, abfällig vielleicht, ehe er sich träge umblickte und schließlich halb von ihr abwandte. Gleich würde er sie herausschicken...

"Hier. Den könnt ihr für einen Schilling haben. Nicht das neueste Stück aber... euch reicht das womöglich."

Die junge Frau blinzelte zum emporgehaltenen, kleinen Dolch in der Hand des Trödlers. Die Klinge setzte am Übergang zum schmucklosen Heft bereits Rost an, schien jedoch noch scharf.
Sie lächelte versonnen und hob den Blick.

"Oh... das ist nicht für mich. Das wird ein Geschenk."
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#12
Auf Gwendolins bescheidenem Heulager ist ein äußerst luxuriöses Stück Lammbauchpergament zu finden, nicht wirklich erkennbar adressiert, aber mit Inhalt. Wer das genau dorthin gelegt hat, das kann keiner sagen, noch kann's einer wissen.

Ode an G.

Hörst du wie der Sumpf dich ruft, im kalten Frühlingswind.
Bleiche Schreie aus der Gruft, an deinem Ohr so lind.

Rufen "Gul-Gul, Gul-Gul" dich, du zuckersüßes Kind.
Unser Herz schlägt einen Stich, wenn wir zusammen sind.

Bräut zum Mann und 'Gam zum Weib, durch stahlgeformte Pflicht.
Voll Begehren an dei'm Leib, bist Gul-Guls Leibgericht.

Im engen Verblöbnis,
gez. Gul-Gul Ganter, Held, Meister, Uralter, Herzensdieb, Gourmand
[Bild: 3aijnmyw.jpg]
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#13
Rot war so eine... dumme Farbe. Viel zu viele Dinge waren rot, gute wie schlechte, man konnte es nie genau einordnen. Mit anderen Farben war es wesentlich einfacher. Grün zum Beispiel. Grün stand für Laub und frisches Gras und manchmal auch für Jauche, die dennoch einmal etwas Hübsches gewesen war. Oder Gelb, die Farbe der Sonne und des Goldes. Beides Dinge, die für Lisbeth am wichtigsten waren - und damit stand Gelb auch für Lisbeth. Daneben gab es Grau, das trüben Himmel und tote Haut mit sich trug und ganz und gar nicht begrüßenswert schien, oder das Braun von Dreck und nasser Erde.

Rot allerdings... Rot war komplizierter, umso mehr, wenn andere Farben ins Spiel kamen. Rot auf Weiß beispielsweise, etwas, wovon sie in letzter Zeit beständig träumte. Was war es? Blut auf heller Haut oder Himbeersaft auf weißem Laken? Gwendolin hätte es nicht sicher sagen können, was das Bild vor ihrem inneren Auge umso beunruhigender machte.
Rot zeigte sich derweil ebenso in unschuldigen Mohnblumen, die ihre Köpfchen hier und da zwischen den Weizenähren auf dem Felde reckten, wie auch in Kriegszeiten, um plötzlich für Tod und Verderben zu stehen. Die Robe des Mithrasnovizen heute Morgen war auch rot gewesen...

Das Mädchen runzelte die Stirn, sich vorsichtig den Weg durch sonnenerhitztes Weizen bahnend, um einige der dort entdeckten Mohnblumen zu pflückten. Ja, es war sogar das gleiche Rot gewesen, wie es schien - und doch völlig anders. Bei den Blumen leuchtete es lebendig, sogar wenn man sie von der Erde trennte und zu einem Strauß band, die Mithrasrobe hingegen trug den selben Ton in einer festen Strenge zur Schau, die irgendwelche Blümchen, noch dazu an Orten, wo sie gar nicht hingehörten, ganz und gar nicht dulden würde.
Nicht, dass der Novize allzu streng oder unfreundlich zu ihr gewesen wäre, im Gegenteil... wahrscheinlich hätte sich manch einer über sein Angebot gefreut.
Was kann die Kirche für euch tun?

Sie verzog die Lippen etwas. Gar nichts, diese Antwort hatte ihr auf der Zunge gelegen. Natürlich hatte sie es nicht so ausgesprochen. Und doch wäre es ehrlich gewesen, bei aller Höflichkeit: Gar nichts.
Gwen war sich gar nicht sicher, wann die Resignation sich eingeschlichen hatte, um den Platz furchtbestimmten Glaubens einzunehmen. Vielleicht als sie bei der Beichte log und nicht bestraft wurde. Vielleicht noch früher, als die kleine Welt der letzten Jahre Bröckchen für Bröckchen unter ihren Füßen auseinanderzubrechen begann, bis sie nicht mehr sagen konnte, wem und was man glauben konnte, und die Wände des Tempels darauf stumm verblieben. Vielleicht auch tatsächlich erst heute früh, als der nette junge Mann kirchlichen Beistand anbot und ihr einfach nichts einfiel.
Gar nichts. Hässliche Worte, und ein noch hässlicheres Gefühl, als damit ein weiteres Stück altgewohnten Bodens unter ihren Füßen hinwegbrach und in eben diesem Nichts verschwand. Das Nichts war übrigens auch grau.

Gwendolin schauderte leicht und suchte sich mehr auf ihren Strauß zu konzentrieren. Vielleicht konnte sie auf dem Rückweg noch einige Kornblumen hinzutun, sie hatte oben auf den Feldern welche gesehen. Rot und Blau verstanden sich prima, die Farben eines sommerlichen Sonnenunterganges. Vielleicht würde sich so ein Strauß in der Küche gut machen. Vielleicht jemanden zum Lächeln bringen. Ja..das konnte sie heute Abend machen.

Die junge Frau stapfte wieder auf den Weg hinaus, die leuchtende Blumenbeute vorsichtig mit beiden Händen haltend. Es würde am Besten sein, das Sträußchen solange im Schatten des kleinen Landhofes abzulegen, schließlich gab es bis zum Abend noch mehr als genug zu tun. Das Feld wollte noch gegossen werden, die Apfelbäume von Raupen befreit, die Hühner brauchten frisches Heu und die Pferde gehörten gebürstet - ganz davon abgesehen, dass sie heute unbedingt mit ihren Reitübungen weitermachen wollte. Beim Herabsteigen fiel sie immer noch viel zu oft hin, und das war durchaus peinlich nach einer ganzen Woche des Übens. Onkel Gaius wäre sicher nicht erfreut, wenn das Problem in einigen Tagen noch immer bestünde. Vielleicht würde er es ihr dann sogar wieder verbieten...

Sie presste die Lippen zusammen und beschleunigte den Schritt.
Ja... mehr üben, Müdigkeit hin oder her. Das Heu bei den Hühnern ausstreuen konnte sie direkt auf dem Weg zur Koppel, und das Feld konnte dann bis hinterher warten. Die Raupen auch. Vielleicht würden sich die Kriechtierchen bis dahin ohnehin in Schmetterlinge verwandelt haben und von selbst wegfliegen. Bestimmt würden sie das. Dann würde da noch jede Menge Zeit sein, um Kornblumen zu sammeln.
Von derlei Gedanken beschwingt lächelte sie schon wieder leicht, und die Welt schien ein klein wenig zurückzulächeln. Der Mohn wippte leichtsinnig in ihrer Hand, die Plättchen in ihrem Gurtbeutel klapperten fröhlich dazu, und für einige Momente vergaß sie die schmerzenden Füße und die grauen Ängste der letzten Tage. Heute nicht...heute gab es Mohn und Schmetterlinge.


Für einige Momente. Dann verschwand alles wieder. Dann lagen die Blumen am Boden des Heulagers verstreut, rahmten ein fallen gelassenes Pergament ein, das sich gleich einer eklen Made wieder zusammengerollt hatte, und die Wände dröhnten und ächzten um das Mädchen herum.
Sie stolperte schwindelig zurück, presste sich die Hände an die Ohren, um die Kakophonie um sich herum nicht mehr hören zu müssen. Es half überhaupt nicht.
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#14
Sie hatte nicht viel Schlaf bekommen. Eigentlich gar keinen richtigen. Das lag allerdings nicht an der Arbeit, wie sonst oft in der letzten Zeit: Vor einigen Tagen hatte Gwendolin feststellen müssen, dass, wenn man nur genug Vorarbeit geleistet hatte, es irgendwann erstaunlich wenig zu tun gab. Wenn man die Keller einmal ausgefegt hatte, musste das tagelang nicht mehr gemacht werden. Mehr als ein Mal am Tag Staubwischen musste man auch nicht, und eine einmal gründlich entmistete Koppel blieb frecherweise entmistet, wenn man jeden Tag das Geschäft des Selbigen aufräumte. Kurzum, ihr Plan, möglichst viel zu arbeiten, erlitt einen raschen Sturzflug, und das war durchaus ein Problem. Am Ende ging es um Wert, und die Wenigsten würden ihr zustimmen, dass die durchwachte Nacht irgendeinen Wert besaß.

Zumindest ließ es sich nicht in Heller berechnen, einem Leibeigenen den Kopf zu halten während jener ein geschätzt halbes Fass Kartoffelschnaps wieder loswurde. Es brachte auch überhaupt nichts Nützliches hervor, hernach noch lange bei ihm zu sitzen, über das wirre Haar und die geschundenen Finger streichend, einfach für den Fall, dass er den Bottich nochmal brauchte oder nach einem Becher Wasser verlangen sollte. Und als sie endlich etliche Zeit später, als der Atem des Schlafenden ruhiger und gleichmäßiger wurde, hinausgegangen war um den Bottich im Kanal zu reinigen, hatte sich in einem schmalen Strich am Horizont bereits das erste Morgengrauen angedeutet.
Also hatte Gwen der kurzen Versuchung wiederstanden, das noch etwas müffelnde, hölzerne Gefäß dem ein oder anderen Familienmitglied über den Kopf zu stülpen - ein plötzlicher, aber sehr verlockender Gedanke, aus irgendeiner Ecke des erstaunlich wachen Verstandes hervorgekrochen - und war direkt zu den Feldern hinabgewandert, nur um die dortige Arbeit wiederum schneller und früher erledigt zu bekommen als sonst.


Schnell genug jedenfalls, um nunmehr mit einem Becher warmer Milch im Gras zu sitzen, den Sonnenaufgang zu beobachten und über Wert und Unwert der letzten Nacht speziell und des eigenen Seins im Allgemeinen nachzugrübeln. Dabei fanden die sich träge windenden Gedanken alsbald zu einem toten Punkt: Wie wollte man überhaupt den Wert von Irgendetwas feststellen?
Natürlich konnte man beispielsweise Arbeit irgendwie berechnen, aber 'irgendwie' war keine verlässliche Größe. Und dann waren da noch Dinge, die gar nicht messbar schienen. Wieviel war ein Sonnenaufgang wert? Sicher, niemand würde je auf einen verzichten wollen, aber würde jemand dafür bezahlen? Wie bemaß sich der rettende Atemzug eines beinah Ertrunkenen? Die Milch in ihrem Becher hatte einen festen Preis auf dem Markt, aber was kostete es, wenn sie noch dampfend frisch war und die im kühlen Morgenwind klammen Finger wärmte?
Kurzum: Es war schwierig mit dem Wert, und über den eigenen ließ sich nur mit Sicherheit sagen, dass dieser zu gering war. Das hatte Onkel Gaius recht überzeugend dargelegt. Wäre es anders, würde man sie nicht verschenken wollen.

Wenn es denn so einfach war...
Ihr fielen noch ganz andere Worte von Onkel Gaius dazu ein, zusammen mit einer Zahl, die immer größer und drohender schien. 21. Nummer 21. Wo waren die anderen 20 hin? Interessierte es wirklich niemanden? Nahm man es bloß hin? Oder wusste man sehr wohl Bescheid? Wenn ja, wer? Onkel Godwin bestimmt, aber wer noch? Onkel Gawin, der so auffällig unauffällig kaum noch zu erblicken war? Gornelius, der so gar nicht überrascht gewirkt hatte? Warum war Gerwulf nach all seinen Reisen ausgerechnet jetzt zurückgekehrt? Warum interessierte sich Herr Jarcath auf einmal dafür, wem sie vertraute?

Gwen runzelte die Stirn und sah sich plötzlich nervös auf der leeren Wiese um.
Die friedliche Morgenstimmung war dahin: Irgendetwas war umgeschlagen, ließ die Schatten länger erscheinen, die Sonnenstrahlen röter, den Wind nervöser. Irgendetwas...irgendetwas das an ihren Gedanken nagte und ihr keine Ruhe mehr ließ. Keine Ruhe...nur noch mögliche Feinde hinter einem jeden gleichgültigen oder freundlichen Gesicht. Und dass hier keiner zu sehen war, bedeutet vielleicht nur, dass sie sich versteckten. Irgendwo im Gebüsch beim Fluss, oder hinter den Bäumen an der Straße. Irgendwer hatte schließlich auch den Brief im Heulager abgelegt gehabt, und da hatte sie auch niemanden gesehen. Wer sagte denn, dass sie nun allein war? Dass nicht gleich jemand...


Es war Schmerz, der sie in die Wirklichkeit zurückriss, so überraschend, dass Gwendolin leise aufschrie und den halb geleerten Milchbecher fallen ließ.
Die Schatten wichen zurück... Sie war allein. Da war nichts außer der aufgehenden Sonne, den nahen Hühnern, und dem Geräusch des eigenen, rasch schlagenden Herzens. Die junge Frau atmete durch, schämte sich beinah vor sich selbst als der Blick auf die rechte Handfläche und den feinen Schnitt darauf fiel - eine deutliche Spur des zu festen Griffs um den Dolch unter dem Stoff ihres Kleides. Sie tastete in letzter Zeit öfter danach; das Gefühl kühlen Metalls an den Fingerkuppen wirkte regelrecht tröstend. Und in Momenten wie diesen auch noch hilfreich.
Gwen schnaubte leise aus und stand auf, sich nach dem nunmehr leeren Becher im Gras bückend. So ein Dolch war jedenfalls viel mehr Wert als er kostete.
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#15
Sie sah die verschwundenen Worte ganz genau. Nun, verschwunden war womöglich das falsche Wort - vielmehr waren sie nie geschrieben worden. Und doch sah Gwendolin sie, Buchstabe für Buchstabe. Sie quollen hinter dem nach Druckerschwärze riechendem Text auf der Zeitungsseite vor ihr hervor, duckten sich spielerisch unter starren Zeilen hindurch, krochen über jede noch so kleine freie Stelle, um mit dem nächsten Lidschlag wieder zu verschwinden.
Die meisten dieser Worte würden auch nie geschrieben werden. Sie waren nicht wie Andere auf einen späteren Zeitpunkt geschoben, oder aber aus Langeweile wieder fallen gelassen worden, nein. Es war lediglich so, dass diese speziellen Worte zu speziellen Wahrheiten gehörten, für die auf dem billigen Papier der Gösselpost kein Platz blieb; kein Platz bleiben durfte. Gewisse Dinge würden dem Haus zu sehr schaden, hatte Onkel Gaius erklärt. Mit gewissen Leuten konnte man sich einfach nicht anlegen, ohne, dass es auf die Familie zurückfiel.

Das hatte Gwen verstanden. Sie verstand alles gut, was Onkel Gaius erklärte. Wahrscheinlich lag es daran dass er nicht schrie und auch sonst nichts... Feindseliges machte. Mit Feindseligkeit kam sie so gar nicht zurecht, da begann es ihr vor Angst stets in den Ohren zu rauschen und hektisch vor den Augen zu flimmern, und wie wollte man so noch etwas verstehen können? Meistens reichte es sogar, bloß irgendetwas Unangenehmes zu erwarten; da verweigerten ihr Kopf und Zunge peinlicherweise den Dienst, noch lange bevor irgendetwas geschehen konnte. Dann war es besser zu schweigen und nur zu sprechen, wenn man auch wirklich aufgefordert wurde, um schließlich bei der erstbesten Gelegenheit um irgendwelcher dringender Dringlichkeiten willen, die man doch tatsächlich bis zu jenem Moment ganz vergessen hatte, zu entschwinden. Bestenfalls fanden diese Dringlichkeiten irgendwo weit weg statt.

Onkel Gaius jedenfalls löste magischerweise seit einiger Zeit keinerlei Fluchtgedanken mehr aus, mehr noch: Ihr Kopf blieb so wunderbar glasklar wenn sie mit ihm sprach, dass sie sich ehrlich auf jede Besprechung freute, ebenso, wie sie in ehrlichem Eifer seine Zeitung zum eigenen Interesse machte. Die junge Frau hatte Zeit ihres Lebens nur sehr wenige eigene Interessen gehabt, und die meisten davon erst aufgebracht, weil Njal Dieses oder Jenes beachtenswert fand. In ihrem eigenen Geist bildete sich nur selten etwas, was sie selbst für der Verfolgung Wert halten konnte - umso einfacher ließ es sich da für all das begeistern, was einem Anderem wichtig war, jemandem den sie mochte und der sich die Muße nahm, ihr die eigenen Interessen näher zu bringen.
Also begeisterte Gwendolin sich, erst nur für die ersten kleinen Aufgaben und die hohe Kunst des richtigen Stifthaltens, dann für die Fragen und Arbeit, die hinter einem jeden Artikel steckten, und schließlich für all den Tross an Kleinigkeiten und Feinheiten, die sich da hinter dem unauffälligen Wort "Zeitung" versteckten. Nicht, dass sie sich einbildete, auch nur die Hälfte zu kennen: Aber sie lernte, und sie wollte lernten.


Das mit der Wahrheit war nun die neueste Lektion gewesen. Man konnte nicht alles in die Welt hinausschreiben, was interessant oder sogar wichtig war, nicht, wenn plötzlich die ganze Familie betroffen sein konnte. Es galt abzuwägen, und so blieben nach und nach all die ungeschriebenen Worte auf der Strecke, trugen eine Wahrheit mit sich, die niemals aufs Papier finden würde. Oder zumindest... vorerst nicht.
Das war auch so eine Sache mit der Wahrheit. Man konnte sie verschweigen und verstecken und unter einem Haufen halbgarer Banalitäten begraben, die die Marktweiber zum tuscheln und die feinen Herren zu unzufriedenem Stirnrunzeln brachten, aber aus der Welt schaffen ließ sie sich nie. Gewissermaßen war die Wahrheit unsterblich, und wahrscheinlich war es diese Eigenschaft, die ihr all die pathetischen Sprichworte einbrachte, die so durch Amhran geisterten und gern zitiert wurden, wenn es etwas Bedeutungsvolles zu sagen galt - meistens dann, wenn der Sprechende sich irgendwie ungerecht behandelt fühlte.

"Die Wahrheit wird eines Tages ans Licht kommen", sagte man dann etwa, oder auch "Die Wahrheit wird triumphieren". Eigenartigerweise war damit stets nur die Wahrheit über die Anderen gemeint, und das zeigte deutlich genug, dass aller Pathos einem Trugbild zum Opfer gemacht wurde. Tatsächlich war die Wahrheit nichts was erstrahlen oder triumphieren konnte. Die Wahrheit war nichts... Schönes oder auch nur Erhabenes. Sie war hart und klamm und mit so vielen Ecken und scharfen Kanten ausgestattet, dass es gänzlich unmöglich war, mit ihr zusammenzustoßen und unbeschadet davonzukommen. Sie offenbahrte sich nicht majestätisch, sondern schlug einem mit aller Härte ins Gesicht und manchmal alle Zähne aus.
Gewissermaßen hatte die Wahrheit also viel mit einem Straßenschläger gemein, oder mit einer dieser rohen selbstgemachten Keulen, aus denen allerhand krumme Nägel herausguckten, und ebenso wie Schläger oder unangenehm spitze Gegenstände versteckte sie sich gern im Dreck.

Das war dann auch der Punkt, an dem Gwen sie fand. Onkel Godwin hatte sie mal auf diese Weise den Jehanns vorgestellt, als jemanden, der gut im Dreck wühlen konnte, bis irgendetwas dabei herauskam - vielleicht auch nur, weil der Dreck frustriert aufgab. Das Mädchen hielt diese Theorie nicht für gänzlich abwegig, wenngleich sie sich zunehmend mit eher metaphorischem Dreck beschäftigte. Die Regeln blieben die Selben wie auf dem Felde: Wenn man lange genug wühlte, fand man auch etwas.
Manchmal konnte man dann darüber schreiben, manchmal nicht, doch all die spitzen und rostigen Funde verschwanden nie. Sie blieben da und warteten nur auf eine Gelegenheit. Doch solange es dafür nicht Zeit war... solange versteckten sich all die dreckigen kleinen Wahrheiten zwischen den Zeilen, winkten hier und da zwischen dunklen Buchstaben und starren Worten hervor, man musste nur wissen, dass sie da waren.

Gwendolin wusste es. Und der Gedanke, die kleinen stacheligen Biester irgendwann, irgendwem in sein selbstzufriedenes Gesicht schleudern zu können bis dieser nur noch Blut und Zähne spucken konnte, fühlte sich unheimlich gut an.
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#16
[Bild: pre-p5490374.jpg]

Hastig sieht er sich im Raume um, welcher sich nach kurzer Orientierungslosigkeit als Empfangsraum des Nordhauses heraus stellte. Von der Türe dröhnt lautes Gepolter und Geschrei zu Ihm. Draussen scheint jemand mit Vehemens Einlass in das Haus zu fordern. Ein Blick über die Schulter und er kann flüchtig unter anderem seine Töchter und Gwendolin erblicken, welche mit angstvollem Gesicht in eine Ecke gekauert da sitzen. Den Blick wieder nach vort wendend erkennt er Gawin und Markus, beide stehen bewaffnet vor der Türe und schauen mit ernstvoller Mine einander an und diskutieren wohl wie es scheint. Er selbst wird erst jetzt gewahr das auch in seiner Hand eine Waffe liegt und wohl auf Ihre Verwendung wartet. Sein Atem geht schneller und sein Herz pocht fester. Er wendet sich neuerlich zu den hinter Ihm befindlichen um. "Geht hernieder in das Lager und verbarikadiert Euch im Archiv!", schnart er mit der gewohnt tiefen Stimme. Ohne lange zu warten machen sie sich dann auf durch die Türe hinab in den Keller. Guntram selbst wendet sich wieder vor gen Türe und greift die Klinge fester. Nur der schimmrige Kerzenschein erhellt das Zimmer und schaffte eine unbehagliche Athmosphäre. Ein Knacken an der Tür, dann ein knirschen und die stabile Türe gab unter dem Druck der auf sie Eindringenden von aussen nach. "Achtung, macht Euch bereit..!", meinte Gawin und da kamen auch bereits die ersten Halunken in das Haus gestürmt. "Wer nicht Zahlt muss eben anderweitig zahlen!", schrie einer der sie anführte und scheinbar das Oberhaupt war. Dieser verdammten Räuber hatten es also geschafft sich hinein zu kämpfen. Die wenigen Ganter leisteten erbitterten Wiederstand und konnten die Anstürmenden eine Weile aufhalten, doch Mann um Mann fiel. Sie zogen sich erst zurück ins Treppenhaus, dannm weiter die Treppe hernieder. Schlussendlich wurde Guntram durch einen Streich gegen seinen Kopf bewusstlos geschlagen.

Als er erwachte fand er sich am Boden des Archives wieder, um Ihn herum lagen die Unterlagen verteilt. Dokumente welche die Geschichte des Hauses Ganter und den ganzen Stolz darstellten. Von den Schränken waren keine unangetastet geblieben und drüben in der Ecke erkannte er Gaius, welcher zusammengesunken dort saß, eine klaffende Wunde an seinem Hals zeugte davon das sich das Leben aus seinem Körper verabschiedet hatte. Weiter links sah er einige der Räuber welche sich an den Mädchen zu schaffen machten. Hass stieg in Ihm auf als er gewahr wurde was dort gerade geschah. Er versuchte sich zu erheben und beginn finster zu grollen. "Nana, wo willst du denn hin Alterchen?", meinte eine Stimme hinter Ihm als er auch schon den Steich spürte gegen seine Beine, er sackte in sich zusammen und keuchte. Dann ein neuerlicher Hieb und Dunkelheit umfasst Ihn.

Wenige Augenblicke später schreckte er auf und sah rasch um sich, der Puls wie auch der Atem rasten und in der Dunkelheit versuchte er sich zu orientieren. Als er langsam etwas erkennen konnte wurde er gewahr das er sich auf seiner Bettstatt im Schlafsaal befand. Schweiß rann Ihm über das Gesicht. Nur langsam konnte die Ruhe in Ihm die Oberhand gewinnen und er erhob sich. Einen Mantel über werfend ging er die Stufen hernieder und nahm Kurs auf die Küche. Dort nahm er sich einen Kelch Weines und ließ diesen die Kehle hinunter stürzen bevor er sich an den Tisch setzte. Die Hand durch das Gesicht wischend seufzte er. "Das Haus hatte schon immer Feinde, aber nun gab es Jene die man sieht und Jene die man nicht sieht. Wir müssen uns schützen, schleunigst. Mögen die Götter uns gewogen sein.", raunte er in das Halbdunkel und nahm neuerlich einen Schluck des Roten um seine Nerven wieder zu beruhigen. Er hasste solche Träume, mögliche Vorahnungen auf das was kommen mochte. Doch das Schicksal mag man auch selber lenken, das war seine Meinung. Nicht alles was einem die Götter in den Träumen zeigten musste die unabwendbare Zukunft sein, es ist nur eine Facette.
-- Familie - Stolz - Ehre --

[Bild: 60.jpg]

Guntram Ganter
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#17
An ihrem Heulager befindet sich überraschend ein edles Gemälde, in Öl gefasst.


[Bild: 3sngk3qu.jpg]
[Bild: 3aijnmyw.jpg]
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#18
Der blaue Fetzen flog schwer herunter, landete eine kleine Welle schlagend im Schlamm, und verschwand rasch im Maul eines Schweines.

Sie hatte von Nixen geträumt in der Nacht. Es waren ganz klar Nixen gewesen und keine Meerjungfrauen – ihnen fehlten die Fischschwänze, und sie waren auch ordentlich in zarte Nachthemden gehüllt. Das machte Sinn, schließlich waren Nixen nicht irgendwelche Fischweiber, sondern junge Frauen, die mal vor Unglück ins Wasser gegangen waren. Auch aus ersäuften Kindern boshafter Stiefmütter wurden Nixen – und die waren dann besonders traurig.
Nixen planschten daher nicht fröhlich umher, sondern kamen nur Nachts heraus, um im Mondschein zu tanzen. Deswegen sollte man Lichtungen an kleinen Waldgewässern nie bei strahlendem Mondesschein aufsuchen: Die tanzenden Mädchen würden einen unweigerlich mit in den Reigen und dann ins Wasser ziehen, um in der nächsten mondversilberten Nacht mit einer neuen Gefährtin durch nasses Gras zu hüpfen. Was mit den Männern geschah, wusste man allerdings nicht. Wahrscheinlich blieben die dann einfach tot.

Manchmal hatte es also durchaus Vorteile, eine Frau zu sein. Manchmal kam es Gwen auch wie eine ganz gute Idee vor, im Mondschein zu einem Weiher zu laufen: Der Gedanke, bis in alle Ewigkeit im grünlichen Wasser zu tauchen und Nachts auf Wiesen zu tanzen, statt Ställe auszumisten und Nachts vor Alpträumen aufzuwachen, hatte eine durchaus verlockende Seite.
Andererseits war da Njal, und den konnte sie nicht mitnehmen... also war sie nie zum Weiher gelaufen. Nicht mal bei ihrer Verlobung, wenngleich sie gerade da sehr gerne wäre. Im Wasser hätte Gulgul sie sicher nie gefunden. Hier oben sah es schon anders aus.


Gwen seufzte leise und warf den geschäftig umhertappsenden Schweinen einen Weiteren der bunten Streifen zu, die neben ihr auf dem Zaun hingen. Sie selbst saß ganz liderlich auf dem etwas schiefen Holzbalken, ließ die Beine ins Gatter baumeln und sah den Tieren beim Fressen zu. Die nackten Füße trommelten dabei leise ans sonnendurchwärmte Holz – mit das einzige Geräusch neben dem zufriedenen Grunzen der Schweine und dem Vogelgezwitscher drumherum.

Das hieß, wenn man nicht auf den Flüsterwald hörte. Der war zwar ein gutes Stück weiter weg, aber wenn sie nicht aufpasste, dann hörte sie den Wald stöhnen. Manchmal schrie er sogar, was besonders unangenehm und befremdlich war.
Vor zwei Tagen, als sie mit Njal dort herumgeklettert und gebadet hatte, war es jedenfalls noch nicht so schlimm gewesen. Da flüsterte der Boden nur ab und an, flüsterte von zu viel Blut und zu viel Tod, und die Bäume raschelten im Takt. Mittlerweile allerdings hörte man den Wald bis hierher zu den Gattern, und das konnte mit Sicherheit nichts Gutes bedeuten.
Tote zogen Tote an, und Blut noch mehr Blut. Das war offensichtlich, und beunruhigend genug, dass sie sich kaum auf die Arbeit zu konzentrieren vermochte. Nun... das ließ ihr wenigstens Zeit, etwas Anderes zu erledigen.


Das Mädchen warf einen weiteren Fetzen hinein und horchte mit halb geschlossenen Augen dem zufriedenen Grunzen der fressenden Tiere. Zumindest wenn man den Wald gerade nicht hörte, schien alles hier... friedlich. Das Gezwitscher drumherum, der leichte Sommerwind und die Wärme von Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht, vermischt mit dem Duft sommerlicher Wiesen und der Tierkoppeln... gut, Letzteres war gewöhnungsbedürftig, aber mittlerweile mochte sie es.
Es gehörte zu einer übersichtlichen Sammlung unkomplizierter Dinge dazu, und wenn man sich nur auf jene konzentrierte, dann kam einem die Welt ganz sonnig und einfach vor. Als wäre nie was Schlimmes vorgefallen. Als wäre auch der gestrige Abend nie geschehen. Als wäre sie noch immer in der Zuflucht willkommen.

Dummerweise erinnerte die junge Frau sich natürlich sofort an den gestrigen Abend, kaum dass sie versuchte, nicht daran zu denken. Erinnerte sich an die vermaledeiten Kirschen (wie war sie auch auf die Idee gekommen, so etwas ernstlich verschenken zu wollen?), an den Streit, an das fremde Blut unter ihren Fingernägeln, das dort niemals hätte sein dürfen. Sie hätte sich gern wenigstens entschuldigt – nicht, dass eine Entschuldigung noch irgendetwas zurückbringen konnte – aber Njals Worte waren in dem Punkt klar gewesen. Und so blieb Gwendolin am Ende nichts übrig, als hier am Gatter zu sitzen und sich so oft es ging vorzustellen, der Abend wäre nie geschehen.

Sie presste die Lippen zusammen und warf einen weiteren Fetzen von dem, was mal ein Ölgemälde gewesen war, in den Schlamm. Fräulein Schwarzbrandt hatte recht... die Viecher fraßen wirklich alles.
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#19
Fenster konnten faszinierend sein. Sie konnten tumbes, sauber gewaschenes Desinteresse zur Schau tragen, oder einladend erleuchtet sein. Sie konnten Wärme ausstrahlen oder einen in blindem Entsetzen anstarren, bis man flüchten wollte. Des Winters kleideten sie sich in feinste Eiskristalle, und es waren stets die ersten offenen Fenster, die gleich Zugvögeln das Frühjahr einläuteten. Sie konnten einem natürlich auch deutlich zeigen wo man stand, nämlich draußen – und dieser Ort war es, an dem sich Gwendolin dieser Tage zum wiederholten Male fand.

Es war nicht so, als hätte sie jemand nach draußen verwiesen, aber eingeladen war sie natürlich auch nicht. Jemand wie sie hatte nicht unbedingt etwas an einer feinen Tafel verloren, das verstand sie recht gut. Natürlich hätte sie dennoch zumindest im Haus bleiben können, aber es hatte ihr bei solchen Gelegenheiten schon früher eher Freude bereitet, draußen zu sitzen und sich die Scherenschnitte von Gästen des Hauses in hell erleuchteten Fenstern anzuschauen, als drinnen zu lauschen. Von draußen sahen Festivitäten nämlich erstaunlicherweise oftmals fröhlicher aus, als sie tatsächlich waren.
Drinnen würde man meist nur höfliche Floskeln oder Gespräche über Politik hören – hier draußen konnte man sich aber Gesang und allerlei spannende Heimlichkeiten vorstellen, die an solch einer Feststafel ausgetauscht wurden. Also saß sie auch an diesem Abend draußen auf der Straße, starrte zu den hell erleuchteten Fenstern des großen Empfangsraumes hoch, und versuchte sich auszumalen, was dort Interessantes vor sich gehen mochte. Nur gelingen wollte es heute wider alle Gewohnheit nicht.
Vielleicht war es die Angst, die sie den zweiten Tag im beständigen Klammergriff hielt, mal lockerer lassend, mal die Kehle zuschnürend, und doch ohne jemals wirklich zu weichen. Vielleicht auch die Erinnerung an die Fenster der Zuflucht, die sie in der Frühe ganz genau so angestarrt hatte.


Einen Zweck hatte der Besuch bei der Zuflucht nicht gehabt: Die junge Frau war sich, schon als sie hinging, recht bewusst gewesen, dass sie niemals wirklich anklopfen würde. Aber sie wollte es sich ausmalen, wie es wohl wäre, hinter dem schweren Tor und den freundlichen Fenstern zu verschwinden, dort, wo sie keiner würde finden können. Nun, außer Njal, versteht sich. Sie würden dann drinnen bei einem Tee sitzen können, und sich wie im Flüsterwald Geschichten erzählen, und es gäbe keinen Grund, Angst zu haben.
Natürlich musste es bei der bloßen Vorstellung bleiben – trotz des Briefes, den sie vom Legionär erhalten hatte, konnte sich Gwendolin beim besten Willen nicht vorstellen, nun einfach hinein zuspazieren und nach Schutz zu fragen. Was hätte sie auch sagen sollen?

'Ich habe mich nicht entschuldigt und nicht gemeldet, aber nun, da meine Onkel mich womöglich für eine Hexe halten, möchte ich bitte beschützt werden'?

Das klang sogar ohne ausgesprochen zu werden bestenfalls lächerlich. Also hatte sie nur da gestanden und es sich vorgestellt, wie es hätte sein können, bis irgendein auf dem Weg zum Markt vorbeirumpelnder Karren sie von der Straße gescheucht hatte.


Und nun war es wieder Abend, und sie starrte wieder zu einem Fenster hoch, dieses Mal zu einem, hinter welchem ihre Familie geladene Gäste empfing, folgte mit müdem Blick den dunklen Scherenschnitten vor hell leuchtendem Hintergrund, und brachte keinerlei Phantasie mehr auf.
Heute gab es keinen Ball in ihrem Kopf – es blieb allein bleiernes Warten vor der Türe.
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#20
Wahrscheinlich war es eine dieser Situationen, bei denen man sich die Nase an einer Scheibe plattdrückte. Nein, sie war sich sogar ganz sicher dass es eine solche Situation war – nur hätte Gwendolin sich niemals getraut, ihre Nase an die glänzende Fläche zu drücken. Sie wusste recht genau, dass das anfassen fremden Fensterglases mit Fingern, Nasen, und anderen Körperteilen in schmierigen Abdrücken und Geschimpfe seitens etwaiger Ladenbesitzer endete. Manchmal hielten die Ladenbesitzer gar einen Besen in der Hand. Es war also alles in allem besser, schöne Dinge hinter Glas aus sicherer Entfernung zu betrachten.

Und das vor ihr war in jedem Falle ein besonders schönes Ding. Ein Kleid, besser gesagt. Es war aus himmelblauem Stoff gemacht, bei dessen Anblick sich Begriffe wie „Batist“ oder „Brokat“ aufdrängten. Das Mädchen war sich in beiden Fällen nicht sicher, welche Stoffe genau so bezeichnet wurden, aber es klang teuer, und das vor ihr sah nun einmal teuer aus. Sehr teuer, um genau zu sein. Und sehr elegant. Sie hatte keinen allzu gut entwickelten Sinn für Kleidung, aber dieses hier schrie „Eleganz“ ebenso deutlich wie seinen (nirgendwo ausgeschriebenen) Preis heraus.

Es war damit auch kein Kleid für jeden. Galaria...es war am ehesten etwas, was Galaria anziehen könnte, um endgültig wie eine Prinzessin auszusehen.
Greta konnte die junge Frau sich eher nicht darin vorstellen: Höchstens eine Greta, die die Rüschenärmel abschnitt, damit diese nicht allzu sehr störten. Wahrscheinlich würde sie jene auch noch auf eine Weise abschneiden, die ihr zustimmende Blicke und etliche Lacher einbrachte. Darin, die Lacher auf ihre Seite zu bringen, war Greta schließlich ebenso geübt wie Galaria im irgendwo Stehen und fabelhaft Aussehen.

Sich selbst...nun, sich selbst sah Gwendolin schließlich unter gar keinen Umständen in einem Stück wie diesem. Sicher, in ihrer kühnsten Vorstellung, da kam es manchmal vor dass sie solche Kleider trug. Und diese Kleider passten auch noch. In der Realität würde es wohl spätestens an diesem letzten Punkt scheitern, selbst wenn man sie aus irgendeinem wirren Grund in ein solches Prachtstück stecken sollte. Nicht, dass jemand verrückt genug dafür wäre.
Sie erinnerte sich noch gut daran, wie sie, noch drüben in Nortgard, einmal zu einem großen Familienfest zurechtgemacht wurde. Sie erinnerte sich bei dieser Gelegenheit vor allem an die schon bald auseinanderfallende Frisur, die zu engen Schuhe in denen sie ständig stolperte, und an ein Kleid, das magischerweise rasch wie ein Kartoffelsack an ihr ausgesehen hatte.

Gut, eigentlich war es eher logisch als magisch: Wenn es Leute wie Galaria gab, die sogar Kartoffelsäcke wie Ballkleider tragen konnten, musste es natürlich auch Leute wie Gwendolin geben, die genau das Gegenteil bewirken. Somit herrschte ein gewisses Gleichgewicht, und alle waren zufrieden... mehr oder weniger. Zumindest wussten alle, worin ihre Rollen bestanden.
Probleme begannen erfahrungsgemäß vor allem dann, wenn jemand ankam und beschloss, dass die Rollen so nicht passten.


Anscheinend war Onkel Gaius so ein jemand. Das gefiel ihr nicht. Ihr hatte es schon nicht gefallen, dass man sie überhaupt bemerkte – wie erwartet hatte das mittlerweile einen wahren Fels ans Sorgen mit sich gebracht. Was sollte erst werden, wenn man versuchte, ihre Rolle zu verändern, in welche Richtung auch immer?
Schlimmstenfalls ging es nicht und das würde für Enttäuschung sorgen. Wahrscheinlich würde ihr Onkel dann einfach jegliches Interesse an ihr verlieren und sie hätte tatsächlich nichts mehr zu tun, als Pferdemist zu schippen und den Boden zu schrubben (Ein verräterischer kleiner Teil von ihr wünschte sich am Ende auch genau dies. Pferdemist hatte etwas unglaublich Unkompliziertes an sich).
Bestenfalls würde es irgendwie funktionieren, sie würde etwas falsch machen und noch mehr Probleme produzieren, und dann wäre sie eine Enttäuschung und ein Problem... was aus dem „bestenfalls“ also sehr schnell ein „so richtig schlimmstenfalls“ machen würde.

Sicher, da stand die Behauptung im Raum, Onkel Gaius würde sich um sie bemühen. Das glaubte Gwendolin allerdings keinen Augenblick lang. Niemand bemühte sich plötzlich einfach so, ohne jeden Grund. Um sie am allerwenigsten. Dass dem Mann lediglich langweilig war, erschien also viel wahrscheinlicher. Schließlich war er auch ständig im Haus eingesperrt.
Ihm war langweilig und sie würde die Rechnung dafür erhalten, so einfach war das. Danach würde er sich ein neues Spielzeug suchen und sie würde zusehen können, wie sie weiter zurechtkam. Vielleicht wäre es ja einfacher, es von vornherein zu beenden. Vielleicht wäre es einfacher, ihm im Schlaf einfach die Kehle durchzuschneiden. Vielleicht wäre es sogar am Besten, ihnen allen die Kehlen durchzuschneiden. Bevor sie...


Gwendolin schnappte nach Luft, so panisch, als wäre sie beinah ertrunken – und so fühlte es sich auch an. Ihr Schädel schien schier zu platzen, als sie einige Schritte zurückwich vor dem moorbesudelten Kleid im Fenster, aus dem ihr das tote Ding zulächelte, welches angeblich ihr Spiegelbild sein sollte. Sie presste sich die Hände an die Schläfen, wimmerte leise auf, und wandte sich um.
Ein, zwei verwirrte Blicke früher Passanten folgten dem Mädchen als es die Straße hinab floh, vor dem blutigen Bild im Spiegel, vor dem Sumpf, der nicht mehr Ihrer war, vor den grässlichen Gedanken, die nicht ihr gehörten. Ganz bestimmt nicht ihr.
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