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Gwendolin Grünthal

Ganz und gar nutzlos - das war das erste Gefühl des heutigen Tages. Gwendolin war sich nicht sicher, ob es bloß ein Gefühl war oder ein Überbleibsel der nächtlichen Träume. Sie konnte sich nicht genau daran erinnern, womit die Dunkelheit ihren Schlaf gefüllt hatte, doch es blieb die dumpfe Ahnung lähmender Angst und Schuld. Wenigstens war sie davon nicht aufgewacht. Und das war mit Sicherheit gut; wäre sie wieder von einem Alptraum wach geworden, hätte das sicher auch Njal aus seinem wenigen Schlaf gerissen, und sie hätte sich den ganzen folgenden Tag über deswegen noch Vorwürfe gemacht. Doch nun, da kleine Schmetterlinge aus Licht in den ersten Sonnenstrahlen tanzten und ihr über die Nase kitzelten, wichen die Schatten rasch zurück - allein die nagende, wenngleich gewohnte Erkenntnis eigener Nutzlosigkeit blieb.
Die junge Frau seufzte leise, versuchte eines der geflügelten Sonnengeschöpfe mit den Fingerspitzen zu fassen, scheiterte wie stets daran, und stand schließlich auf. Es war noch still - nur oben, aus einem der Herrenzimmer, hörte man dumpf jemanden schnarchen. Sie schlich durch die Küchentüre in den Innenhof, wusch sich, Resten über den Boden schleichenden Nachtnebels ausweichend, und huschte dann auf die Straße hinaus.

Wenngleich das Haus Ganter noch schlief, so war Löwenstein doch bereits im Aufwachen begriffen. Gwen staunte auch nach all der Zeit noch darüber, wie riesig und geschäftig die Königsstadt sich präsentierte(sie war sich dummerweise nicht ganz sicher, wie lange sie mit der Familie schon in Löwenstein weilte, und hatte für sich beschlossen, dass es bestimmt mindestens schon ein Mondeslauf war). Sogar die auf dem Marktplatz aufgestapelten, in Leinen gewickelten Leichen wirkten irgendwie so beschäftigt, dass sie sich sicher war, würde sie herantreten und das Wort an eines der reglosen Bündel richten, jenes streng antworten würde, sie möge das Todesprozedere doch bitte nicht stören. Einen Moment lang hing sie dieser Vorstellung nach - genug, um beinah von einem vorbeidonnerden Karren überfahren zu werden.

"Pass auf Mädchen!"

Der heisere Ruf des das Gefährt lenkenden Bauern hallte noch in der Morgenluft, obgleich er schon vorbeigefahren war. Gwen nahm es sich als guten Vorsatz für die Zukunft vor, wandte sich um, stolperte über die eigenen Füße und fiel beinah vor die Räder des nächsten Karrens, der zum Marktplatz rollte. Sie drückte sich an die nächstbeste Hauswand und sah strafend zu ihren Schuhen hinab. Die junge Frau war sich recht sicher, dass Schuhe die Wurzel solchen Übels waren. Ihre letzten hatte sie erfolgreich in irgendeinem Teich versenkt gehabt, als sie in Servano einreisten - aber leider hatte ihr Gideon neue besorgt, und nun ging das Elend von Neuem los. Wer war bloß auf die verrückte Idee gekommen, Schuhe zu tragen? Wie sollte man denn sicher stehen, wenn die Füße vom Boden getrennt waren? Es machte keinen Sinn. Sicher, ohne Schuhe bekam man Schrammen und lief sich manchmal die Füße blutig, doch das wäre ihr immer noch lieber gewesen, und so hielt sie allein der drohende Ärger davon ab, auch dieses Paar irgendwo zu... "verlieren".

Gwen seufzte, zog sich Schuhwerk dennoch von den Füßen, behielt es aber sicher in der Hand. Das war zumindest eine zeitweilige Lösung des Dilemmas.
Mit dem kühlen, mal schartigen, mal glatten Straßenpflaster, das sich nun gegen die nackten Sohlen schmiegte, lief es sofort besser. Man konnte nun den Herzschlag der Straße spüren, und damit war es keine Frage mehr, wohin der nächste Schritt zu setzen war. Dem nächsten Holzwagen wich sie mit Leichtigkeit aus, drehte beinah eine Pirouette, und tänzelte dann weiter, sah dem Treiben auf den unter ersten Sonnenstrahlen aufblühenden Straßen zu.
Irgendwer schüttete aus einem offenen Fenster den Inhalt eines Putzeimers heraus und traf beinah eine frühe Brötchenverkäuferin, die sogleich zu keifen begann. Ein recht breites Weibsbild scheuchte schwerfällig ihren Nachwuchs voran, welcher da noch den Schlaf in den Augen stehen hatte und gegen Wände zu laufen drohte. Zwei Bauern lieferten sich ein Wortgefecht darüber, wer als erster seinen Wagen in eine enge Gasse lenken sollte, unterstützt von unablässigem Bellen eines Straßenhundes. Und so ging es weiter und weiter. Stadtwachen, Bürger, Tagelöhner und Bettler zogen durch die Stadt und füllten sie mit immer mehr Lärm und Leben. Sogar einer Hure begegnete sie - in Erinnerung daran, dass es sich von Huren fernzuhalten galt, hatte Gwen natürlich sogleich die Straßenseite gewechselt.

Als das Mädchen endlich das Stadttor passierte, musste es schließlich mit einiger Verwunderung feststellen, dass die Sonne schon ein gutes Stück hinaufgewandert war. Manchmal lief die Zeit auch einfach nicht wie sie sollte - damit konnte man sich nur abfinden. So hob sie auch heute nur die Schultern und eilte die staubige Straße hinab, die das Stadtpflaster ablöste. Die Pferde hatten sicherlich längst Hunger.

Gwendolin Grünthal

Manchmal waren die Tage gut. Sie fingen oft mit Sonnenschein an - wenn es auch lange kein sicheres Anzeichen war - und endeten mit einem lila Samthimmel. An solchen Tagen wurde kaum geschrieen, es gab keine Schläge, kein Gepetze und keine nennenswerten Strafen. Andere Tage jedoch verliefen ganz und gar nicht gut. Sie kündigten sich oftmals gar nicht an, nur schlug die Stimmung so plötzlich um, als wäre bei klarem Himmel ein dräuendes Gewitter aufgetaucht. Die Farben waren an solchen Tagen etwas kälter, und die letzten Sonnenstrahlen tauchten den Abend in ein bluttriefendes Rot. Früher hatten die guten Tage überwogen. Seit sie in Löwenstein waren jedoch ... seit dem sah sie den Bluthimmel am Abend viel häufiger als sonst.

Gwen hätte gern dem Umzug dafür die Schuld gegeben, und noch lieber Zobel, der gleich einem schwarzen Stachel aus dem Kreis der Angstellten ragte und mit jedem Schritt Unfrieden zu stiften schien. Nur stimmte das nicht - all der Streit der letzten Zeit war nur die Folge von etwas Anderem. Wovon, das hätte sie nicht zu sagen vermocht, aber sie fühlte es, fühlte es vom Schopfhaar bis in die Fußsspitzen hinein, fühlte es an einem Ziehen in den Fingerspitzen und am Druck um die Schläfen, fühlte es an den sich häufenden Alpträumen und den Schatten, die sich länger und frecher aus den Ecken herauswagten als je zuvor. Irgendetwas lag in der Luft. Irgendetwas, was noch nicht da war, aber ganz unweigerlich kommen würde: Und alles Unglück und Bosheit um sie herum waren nichts Anderes, als das nervöse Umherrasen von Vögeln vor einem Sturm.

Natürlich wollte sonst niemand etwas bemerkt haben. Und wenn doch, so sprach man es nicht aus. Sie jedenfalls hütete sich davor, irgendetwas zu sagen. Sowas würde ohnehin nur in schiefen Blicken oder einer Ohrfeige enden, je nachdem, wer es hörte. Genau wie damals, als ihr keiner das mit dem Gnom unter dem Anwesen in Nortgard glauben wollte.

Keiner ausser Njal, versteht sich, der das boshafte kleine Wesen schließlich vertrieben hatte. Er hatte sie zwar nicht zusehen lassen, aber das war auch besser so gewesen - sie hätte vor Angst sicherlich etwas Dummes gemacht gehabt. Dieses Mal jedoch fiel ihr nicht ein, was Njal tun könnte. Wie sollte man auch etwas abwehren, was gar nicht da war und weder Gestalt noch Gesicht hatte? Und so hatte sie bislang nicht einmal dem Leibeigenen etwas erzählt gehabt. Er war ohnehin ständig damit beschäftigt, sie aus Schwierigkeiten zu retten.
Wie ein Märchenprinz. Nur ohne Schwert. Und ohne Pferd. Und ohne glänzende Rüstung. Und ohne güldenes Haar, das dramatisch im Wind wehen konnte. Und auch darüber hinaus ohne jegliche Prinzenhaftigkeit. Aber sonst ganz genau so.
Dass er in letzter Zeit immer stärker den alten Göttern anhing, das gefiel ihr allerdings nicht recht. Man wusste nie, ob Mithras so etwas nicht strafen würde - von Onkel Godwin mal abgesehen. Und der neuerdings gruselige Onkel Gawin, der diese Entwicklung so sehr bestärkte, würde in keinem der Fälle ein guter Schutz sein.

Die junge Frau schürzte die Lippen unzufrieden und schloss das Koppeltor hinter sich. Nach den Aufregungen des vergangenen Tages war sie heute außergewöhnlich früh hinausgegangen. Ehrlicherweise war sie schlicht geflohen bevor es weiterging, aber das musste ja keiner wissen. Der gerade erst dämmernde Himmel war heute trübe, so dass sich die Stimmung der Sonne aber auch gar nicht abschätzen ließ, also wollte sie lieber Abstand halten.
Sie tätschelte im Vorübergehen den neugierig hervorgestreckten Kopf eines der jüngeren Hengste, ging um den Zaun herum, und ließ sich schließlich mit der Eleganz eines angeschossenen Huhns in taubedecktes Gras plumpsen. Gwen zog die Beine an, in der kühlen Nässe fröstelnd, legte die dürren Arme um jene und das Kinn auf den Knieen ab, vergrub die bloßen Zehen in der feuchten Erde, und starrte auf die halb im grauen Nebel verborgene Wiese am anderen Ufer. Sie war noch nie drüben gewesen, und malte sich früh morgens gern aus, was wohl auf der anderen Seite warten mochte - außer der offensichtlichen Wiese. Vielleicht wohnte hinter dem bald steil aufragenden Hügel ja ein Drache. Ein sehr leiser und schüchterner zwar wohl, aber immerhin... unmöglich war es nicht.

Heute allerdings wollte sich der Drache einfach nicht herbeifantasieren lassen; ihre Gedanken waren noch immer bei dem Gespräch am vorigen Abend. Die alten Götter... sie erinnerte sich nicht an viel über sie. Sicher, sie wusste Einiges - das Meiste dank Njal, und Einiges auch von Onkel Gawin - aber sie erinnerte sich kaum. Dabei waren sie früher da gewesen, das wusste sie noch. Damals, im Sumpf.

Sie erinnerte sich auch nicht an allzu Vieles über den Sumpf. Da waren einzelne, abgerissene Bilder, mehr Empfindungen als alles Anderes. Sie erinnertes ich an den Duft von sonnengewärmtem Moos und an das strahlende Blau von Vergissmeinnicht an trockeneren Plätzchen. Sie wusste noch wie die Bäume dort nach dem Regen gerochen hatten, und wie unangenehm es war, wenn einem kalte Tropfen von einem plötzlich schwankenden Ast in den Kragen hineinliefen. Da war auch der saure Geschmack von Moosbeeren, die erst mit Honig richtig genießbar wurden und im Sommer sämtliche Wiesen bedeckten, die gleich grünen Inseln aus dem Moor ragten. Es hatte natürlich auch Gefahren gegeben: Glühwürmchen durfte man nicht folgen, sie waren in Wirklichkeit Totenlichter, die einen ins Verderben führten, und man sollte niemals vom Pfade abweichen, wenn man den Weg nicht genau kannte.
Manchmal waren da auch Trommeln im Sumpf gewesen: Wenn Gwen die Augen schloss, sah sie sich an der hölzernen Türschwelle sitzen und jenen lauschen.
'Lauf ihnen nicht nach...es ist noch zu früh'. Irgendeine Stimme hatte das damals bei solchen Gelegenheiten gesagt gehabt. In ihrem Kopf klang sie warm und vertraut, aber das Mädchen hätte nicht mehr sagen können, wem sie gehörte, noch ein Gesicht zu der Stimme herzaubern.

Und dann, irgendwann, war die Dunkelheit gekommen und erst in Nortgard wieder zurückgewichen. Der Sumpf war fort, und mit ihm die alten Götter, die irgendwo dort zwischen Moosberen und flatternden Glühwürmchen geblieben waren. Vielleicht waren sie noch im Moor zu finden - vielleicht auch ganz verschwunden. Nach der Dunkelheit war da nur das gleißende Licht des Sonnengottes gewesen, und das ließ keinen Platz für grüne Schatten unter regennassen Bäumen. Sie schloss die Augen und seufzte... heute waren auf der anderen Flussseite Trommeln zu hören. Beinahe.

Gwendolin Grünthal

Sie hatte es ihnen gesagt. Sie hatte es gesagt. Nur zugehört hatte niemand.

Der Tote hatte sie angestarrt. Die ganze Zeit über als sie auf dem Feld arbeitete. Beim Unkraut jäten, beim Wasser holen, beim Abzupfen von kleinen Käfern von den Blättern junger Pflänzchen - sie spürte den reglosen, starrenden Blick in ihrem Rücken. Manchmal kam Wind auf und rüttelte an der Leiche. Dann quitschte das Seil leise und es wirkte fast, als wolle der Mann von seinem Baum herabkommen. Gwen konnte nicht sagen wie oft sie deswegen vor Schreck das Wasser verschüttet hatte und neu laufen musste: Ihre Hände waren jedenfalls rot und und schmerzten, als sie endlich fertig war. Hernach war sie so schnell zurück in die Stadt geflüchtet, wie ihre Füße sie nur trugen, weg von dem schrecklichen toten Blick und dem Quietschen des Seiles, doch schien sie die Fratze der Leiche auch dort aus jedem Fenster heraus anzustarren. Nur Räuber, so hatte es das freundliche Fräulein vom Orden erzählt. Sie würden ihr nichts mehr tun können.

Gwen hatte es ihr gesagt. Und als Antwort eine Schale Beeren mit Sahne bekommen.

Die Angst vergaß sich irgendwann im Laufe des Tages, verging am geschäftigen Treiben im Hause Ganter und der Nervosität, welche die junge Frau befallen hatte, als Godwin sie mit in die Universität befahl.
Sie wusste bald nach dem Betreten des imposanten Gebäudes, dass ihre eigene Schnapsidee vom Vortage, sich womöglich in der hohen Lehranstalt umzuschauen, nichts weiter als eine Schnapsidee war. Sie passte so wenig zu den Anwesenden, wie Agneta die Kuh zu edlen Reitpferden (vor einigen Tagen hatte Gwen Agneta der Kuh kurzen Unterschlupf auf der Pferdekoppel gewährt, und trug sich noch mit einer recht lebendigen Erinnerung daran).
Ein Herr mit unglaublich gelegter Frisur und ebenso unglaublich rosigen Wangen war da, aus Silendir, so hieß es.
Eine blonde Frau aus der Jehann-Familie, die wahrscheinlich auch Gwendolins zahlreiche Onkel würde herumkommandieren können, wenn man sie nur in deren Nähe ließe.
Zu ihrem Erstaunen auch Herr Umbinor, der sich ganz und gar nicht als der Bösewicht mit Augenklappe und Hinkebein erwies, den sich die Fantasie des Mädchens bis dahin ausgemalt hatte.
Und noch eine ganze Menge anderer Leute, Lehrende und Lernende, allesamt voll mit klugen Fragen und zahllosen Worten dazu: Genug, dass sie bald den Faden verloren und hauptsächlich aus dem Fenster gestarrt hatte, bis eine Kopfnuss von Herrn - nein, Doktor - Loewi sie zurück in die Wirklichkeit brachte. Es war dennoch interessant gewesen, interessant, eine Universität zu sehen und all die klugen Menschen darin, die sie kaum noch an Leichen in den Bäumen denken ließen.

Sie war schließlich so beschwingt gewesen auf dem Nachhauseweg, dass sie den blutroten Unterton des Sonnenaufganges nicht mehr sah. Sie hätte wohl besser aufpassen müssen. Jemand anders hätte aufpassen müssen. Sie hatte es ihnen ja gesagt.

Es lief alles gut, plötzlich. Herr Greiffenwaldt, die neue Wache, wollte gern ihre Pferde sehen (nicht, dass Gwendolin sie jemals laut als "ihre Pferde" bezeichnet hätte - am Ende gehörte ihr gar nichts), und Gideon, der sich seit der Ankunft in Löwenstein so rar gemacht hatte, kam mit. Sie freute sich - über die Gesellschaft, über den Spaziergang, die Pferde und die Geschichten ihrer Begleiter, auch wenn ihr diese die Ohren glühen ließen. Wie stets also, wenn Gideon irgendwas erzählte. Sie freute sich sogar über die Ankündigung Greiffenwaldts, ihr mit der Koppel und auf dem Felde zu helfen, auch wenn sie beim besten Willen nicht verstand, warum er sich mit solch unmännlicher Drecksarbeit abgeben wollte. Vielleicht wollte er ja auch bloß eine Ausrede haben, nicht immer Wache stehen zu müssen. Natürlich hatte Gwen in diesem Falle nicht vor, ihn zu verpetzen. Niemand mochte Petzen.

Sie hatte es ihnen gesagt. Und sie redeten über Frauen und anrüchige Anekdoten.

Es ging alles so schnell, dass Gwen nicht hätte genau sagen können, wann die Schatten näher gekrochen waren. Mit einem Male waren Männer auf dem Weg. Sie hatte im ersten Moment noch gedacht, die Toten wären doch noch herabgekommen, und erkannte dann erst, dass es falsch war - und doch richtig. Diese hier lebten; Und trugen den Alpdruck des Todes doch so sichtbar mit sich, dass Gwendolin vor Angst hätte schreien können. Vielleicht hatte sie auch geschrieen, die junge Frau wusste es nicht mehr so genau. Das Wortgefecht voran geriet immer heftiger, die Welt drehte sich schneller und schneller, die Schatten heulten gierig auf, und als Gideon sie anwies, nicht hinzusehen, stürzte der Horizont um. Sie sah es nicht, aber es roch nach Blut, so durchdringend dass sie glaubte, den Geruch nie wieder aus der Nase zu kriegen.
Das Mädchen erinnerte sich kaum noch daran, was nach diesem Moment geschah. Jemand schriee, man zerrte sie voran, und sie selbst wusste in ihrer Not nicht anders, als nach Njal zu rufen. Immer und immer wieder - bis der Leibeigene plötzlich, tatsächlich da stand und sie festhielt. Sie hatte das Gesicht in seine Schulter gedrückt, bis nichts Anderes mehr zu sehen und zu hören war. Es war erst da, dass der Blutgeruch sie verließ und die Schatten verstummten.

Sie hatte es ihnen gesagt. Die Toten würden andere Tote anziehen. Sie hatte es gesagt. Nur zugehört hatte niemand.

Gwendolin Grünthal

"Ich habe aber nicht die Meisten."

Sie war sich nicht sicher, was zuerst da gewesen war - die Worte und dann die Sicherheit darüber, dass sie stimmten, oder aber die Erkenntnis selbst. Vielleicht war beides gleichzeitig da. Zeit ließ sich einfach schwer bestimmen, und wenn sie nervös war, umso mehr. Und Gwendolin war nervös, nervös und aufgeregt zugleich, was es überhaupt nicht besser machte.
Sie hatte ja nur an der Tür stehen wollen. Die Tür aufmachen. Das was Njal sonst tat, aber Njal war beschäftigt, mit all den Dingen, die sie selbst nicht konnte. Also hatte sie sich an die Tür gestellt um vor den wichtigen Gästen zu knicksen und ihnen die Mühe des Klinkendrückens zu ersparen. So wie es sich gehörte. Sie hatte wirklich nützlich sein wollen, und es sogar zum größten Teile geschafft, nicht vor Nervosität zu stottern, wenn es an die Begrüßung der hohen Herren ging. Das war gut. Ihre Onkel hassten es, wenn sie stotterte, und Herr Jehann nicht minder - letzteren hatte sie jedoch glücklicherweise nicht begrüßen müssen.

Sie hatte wirklich nur die Türe öffnen wollen. Und plötzlich waren da Leute. Erst der freundliche Sonnenlegionär, der sich so groß und glänzend neben ihr postiert hatte, dass ihr das mit dem geradeaus Sprechen kaum noch schwer fiel. Wie konnte man da auch noch Angst haben? Wahrscheinlich würde so jemand alle ihre Hauswachen auf einmal verprügeln können - aber das hatte Gwen natürlich nicht laut gesagt. Dann Herr Dragan, bei dem sie sich zwar noch immer nicht erinnern konnte, woher zum Geier sie ihn kannte, der ihr das jedoch nicht nachzutragen schien. Eine kleine rothaarige Frau mit einem so breiten Grinsen, dass man die ganze Zeit mitgrinsen wollte. Schließlich Herr Hadson, der zwar wie stets höchst merkwürdiges Verhalten an den Tag legte, den sie jedoch trotzdem gern sah. Und sie alle waren nett, und lustig (bis auf Herr Hadson vielleicht), und so ganz und gar liebenswürdig dass sie vor Freude hätte hüpfen können.
Also hatte die junge Frau nicht nein gesagt, als man ihr plötzlich Pilze schenkte. Erst einen, dann zwei, dann mehr und mehr und mehr bis ihre beiden Kleidertaschen voll waren und ganz unansehnlich abstanden - so viel irgendwann, dass sie sich tatsächlich einbildete, zur Auszählung gehen zu können. Kurz.

"Ich habe aber nicht die Meisten."

Gwen wusste dass es stimmte, nur nicht, ob die Worte oder die Sicherheit darüber zuerst da waren. So unglaublich viele Pilze jetzt auch in ihren Taschen steckten, es war nicht genug. Kein Zweifel daran.
Sie ging trotzdem zur Auszählung - halb vor Aufregung, zumindest mitmachen zu können, halb weil sie Garion, den nun mit stolz angehaltenem Atem geduzten Sonnenlegionär, und die grinsende Rothaarige nun wirklich nicht enttäuschen wollte, nachdem sie all die Pilze bekommen hatte. Dann standen sie vor, Njal zählte hoch und dann...kam alles viel schlimmer.

Nein, sie hatte nicht die meisten Pilze. Aber doch viel zu viele. Plötzlich stand sie da vorne, klaubte mit zittrigen Händen den Inhalt ihrer Taschen auf den Tisch, und eine hübsche Blonde neben ihr tat ungleich eleganter genau das Selbe.

Sie hörte sich noch halb stottern dass sie wieder gehen würde, und Njal dem Sieg der Anderen zustimmen. Sie wusste auch noch, wie sie der Siegerin ihre eigenen Pilze herüberschob, damit die auch wirklich die Meisten hatte. Und dann hatte irgendwer von der rothaarigen Leuten die Stimme erhoben und...Dinge gesagt.
Keine besonders neuen Dinge, im Grunde. Natürlich war die Blonde viel hübscher. Natürlich war ihre eigene Nase krumm. Das so quer über den Platz hallen zu hören ließ die Welt dennoch in zitterndem Nebel verschwimmen. Irgendetwas in ihr zog sich zusammen und blähte sich schmerzlich wieder auf, wie ein riesiger Blasebalg, der mehr und mehr Druck machte, ohne dass es ein Ventil gegeben hätte.
Gwen wusste nicht mehr wie sie vom Platz gekommen war, sie war allein irgendwo in einer noch klaren Ecke ihres Verstandes erleichtert gewesen, dass sie nicht angefangen hatte zu heulen.

Kurze Zeit später heulte sie im Arm des Sonnenlegionärs Rotz und Wasser.


Das Mädchen hatte noch in der Nacht davon geträumt. Sie wusste nicht, wie oft, aber die verdammten Pilze schienen sich ihres gesamten Schlafes bemächtigt zu haben. Sie stand immer wieder da und gab die hässlichen kleinen Dinger weg, während irgendwer über ihre Nase lachte.
In den Träumen waren aber alle Leute rot, rot, rot... es floss ihnen über ihre Gesichter und in die lachenden Münder hinein, während sie selbst vorne stand und immer wieder die Pilze weggab, die einfach nicht weniger wurden.



Als sie wach wurde, war es noch beinah vollständig dunkel draußen. Allein ein heller Streifen im Osten kündigte den neuen Tagesanbruch an. Njal schlief... Mithras allein wusste, wann er eingeschlafen war und wieviel er noch hatte. Gwen bemühte sich sehr, den Leibeigenen nicht zu wecken, als sie aus dem leeren Zimmerchen schlich. Bestimmt würde er sich über frische Milch freuen, wenn er aufwachte. Drüben in der Stadt würde man ihm das ohnehin nicht mehr geben. Das Gras draußen war noch so feucht, dass ihr Rocksaum triefend nass war, als sie den Weg zur Koppel und wieder zurück vollendet hatte.
Der Schwarzhaarige oben schlief weiterhin, also ließ sie den vollen Eimer im Stall und setzte sich mit einem Holzbecher noch dampfend warmer Milch draußen in die Wiese. Die nassen Halme kitzelten ihre Füße und Beine, da, wo der Stoff des Rockes etwas hochgerutscht war. Sie sah zum anderen, in silbrigen Morgennebel gehüllten Ufer hinüber, und wartete darauf, dass ein Drache hinter dem Hügel emporstieg.

Galaria Ganter

Löwenstein

Heiss. Stechend. Schmerzhaft. Heisses Blut pulsiert stechend schmerzhaft durch ihre Adern. Mit jedem der tiefen, bewussten Atemzüge mit welchem die junge Frau versucht sich zu beruhigen folgt ein neuer Stich. Ein Stich auf Brusthöhe, welcher sie dazu bringt die Haut über ihrem Brustbein zu berühren. Die Lagen des Stoffes über der Haut über ihrem Brustbein. Wie gerne würde sie den Stoff zerreissen. Die Haut zerfetzen. Den Knochen zersägen und den Schmerz dieses elendigen Gefühls ihrem Brustkorb entreissen.

Wut.

Sie konnte gar nicht genau sagen, auf wen oder was. Sie würde gerne – vielleicht wäre es einfacher, wenn sie die geballte Ladung an einer einzigen Person herauslassen könnte. Nur eine einzelne, unwichtige, wichtige Person der alle, alle Schuld zugeschoben werden konnte. Der Wunsch, dass es eine solche Person gäbe war immens. Die Erkenntnis, dass es derer jedoch nicht nur eine gab, umso überfordernder. Warum musste sie ausgerechnet eine Frau sein? Wäre sie keine, könnte sie jetzt genauso heuchlerisch wie ihr Cousin Gideon unten auf auf der Gasse stehen und jeder Maid schöne Augen machen. Nicht dass sie wollte. Aber sie könnte.

Sehnsucht.

Fingerspitzen berühren die gläserne Scheibe, nah vor ihrem Gesicht. Sie sah den kleinen Bastard vorbeihuschen. Nein, kein passendes Objekt. Zu klein, zerbrechlich, süß und plustrig wie die Feldmäuse in Nortgard. Ein Karren wurde vorbeigerollt, beladen mit allerlei unterschiedlichem Holz. Wie gerne würde sie es berühren, die kantige, schartige Oberfläche unter ihrer zarten Haut spüren. Stattdessen blieb nur der kalte, gläserne Käfig. Ein junger Mann mit braunem Haar und dunklen Augen zog über die Gasse vorbei – rückte den Schmerz zurück ins Gedächtnis, ließ sie nach Luft schnappen wie eine Ertrinkende.

Wut

Haarschopf um Haarschopf in allen Variationen. Wenn auch die meisten rötlicher Natur. Kaum ein bekanntes Gesicht. Lediglich braunes, rotes, schwarzes, rotes, blondes, rotes Haar welches sich zu einem verschwommenen, einheitlichen und vor allem rotem Brei zusammenzog und ihr die Sicht nahm. Mit einem blinzeln löst sie die feuchten Tropfen, lässt jene ihre weichen Wangen hinabperlen. Noch ein brauner Haarschopf. Ungepflegt und fettig. Sich dem Haus nähernd. Ein Erneuter Stich. Heisses pulsieren in ihren Adern. Sengende Hitze. Makellose Haut, zu einer Faust geballt.

Sehnsucht

Zersplittertes Glas findet sich vor dem Ganterschen Anwesen, dringt in die Rillen zwischen den Pflastersteinen, knirscht unter den Füßen der Passanten und verteilt sich in der Stadt. Eine zerborstene Glasscheibe im ersten Stock. Ein junges, noch jugendlich anmutendes Mädchen mit verheulten, unschuldigen Gesichtszügen, die beinahe farblos grauen Augen vor Schreck geweitet, kauert in einer Ecke auf dem Boden. Angesengte Ärmel hochgekrempelt und verborgen, die Fingerknöchel blutig. Gestolpert, sagt sie, den Blick nicht vom Fenster lösend dabei.

Gwendolin Grünthal

"Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir so schrecklich leid."

Sie wusste nicht zu wievielten Male sie es sagte, die gleichen wenigen Worte. Anfangs stand sie, dann war sie vor ihm auf die Knie gefallen, immer wieder das Gleiche stammelnd - aber egal wie und wie oft sie sich entschuldigte oder um Verzeihung flehte, der Leibeigene starrte sie nur kühl an, ehe er sich wegdrehte und ging. Dann rannte sie hinter ihm her, rutschte auf nassem Pflaster aus, stand wieder auf und lief weiter bis er stehen blieb und es sich anhörte. Eine Weile...nur um doch weiterzugehen. Irgendwann verlor sie ihn, blieb allein auf nasser Straße zurück, vergeblich nach ihm rufend. Und jedes Mal war es bloß ihr Onkel der auftauchte.
Das bärtige Gesicht lächelte im Regen, und die Worte dröhnten laut genug, um das Prasseln von Regen und ihr eigenes Wimmern zu übertönen.


"Du hast nur mich."

Manchmal - Gwen hätte nicht sagen können, wie oft - riss sie das eigene Schreien aus dem Schlaf in die Dunkelheit der Küche zurück. Es waren diese Momente in denen der Schwarzhaarige tatsächlich da war, weder verschwunden noch wütend, und sie festhielt. Sie versuchte dann jedes Mal nicht wieder einzuschlafen; und fand sich doch bald um Vergebung flehend auf regennasser Straße wieder, immer aufs Neue, bis das erste trübe Licht des Tages den Träumen endgültig ein Ende setzte.


Die junge Frau hätte nicht genau sagen können, was sie am Tage machte: der ganze Morgen blieb in graue Beliebigkeit getaucht, an die sie sich kaum erinnern konnte. Eine Depesche war gekommen und hatte einen Feuerschweif hinterlassen, der bald verlöschte. Tante Georgia war da und drohte sie zu verheiraten, ohne dass sie sich hätte daran erinnern können, warum eigentlich. Herr Zobel war auch da und sie hatte kurzzeitig darüber nachgedacht, wie seine dumme Axt wohl mitten in seinem dummem Schädel aussehen würde. Auch dieser Gedanke ließ einen kleinen Feuerschweif zurück.
Darüber hinaus war sie sich jedoch nicht sicher, wer überhaupt im Hause war. Überall waren Geräusche von Leuten zu hören, Schritte und Stimmen, die jedoch stets aus anderen Räumen herüberhallten. Eine Weile lang versuchte sie, das Blut vom Boden aufzuwischen, bis es ihr nach etlicher Zeit gewahr wurde, dass sie mit ihrem Lappen im falschen Raum schrubbte. Als sie den richtigen Raum aufsuchen wollte, fand sie ihn aber nicht mehr.
Danach hatte sie sich eine Weile unter der Treppe versteckt und leise, ganz leise, damit es niemand sonst hörte, nach Njal gerufen. Zu leise wahrscheinlich, nachdem der Leibeigene nicht auftauchte.


Der Nachmittag war gut vorangeschritten, ehe irgendeines von den Gesichtern im Haus sie hinausscheuchte nach den Feldern und Tieren zu sehen. Gwendolin war recht froh dass eine Straße hinabführte, so dass sie sich nich verlief. Den Weg erkannte sie wieder - vorbei am kleinen Tor, an dem Abhang, an den Leichenfeuern...

Nein. Nein, die Leichenfeuer waren neu. Die umgegrabene Erde im Feld auch. Ebenso all die Männer die ihr von Leichen erzählten. Leichen in den Feldern...die Ernte war hin. Das musste man im Haus weitersagen, soweit kamen die sich überschlagenden Gedanken noch. Sie selbst würde nichts abbrennen dürfen. Sie hatte schon mal die Küche in Brand gesetzt, und damals hatte Onkel Godwin ihr verboten, je wieder eine Fackel in die Hand zu nehmen. Das wusste die junge Frau noch genau, er hatte sich sehr deutlich ausgedrückt gehabt. Und sehr laut. Ihr Rücken juckte bis heute wenn sie daran dachte. Aber wer hätte schließlich auch gedacht, dass Öl so brennen konnte? Es sah doch beinah wie Wasser aus. Das machte überhaupt keinen Sinn, heute noch viel weniger als an allen anderen Tagen. Heute machte überhaupt nicht sehr Vieles Sinn.

Sie blieb auf dem Rückweg bei dem hell leuchtenden Totenfeuer stehen, ließ sich den Nieselregen in den Nacken laufen und starrte in die Flammen hinein. Es mochte recht eklig riechen, aber das Licht vertrieb das graue Durcheinander des Tages. Zumindest für eine Weile.
Vorsichtig streckte sie die Hand aus und schob die Münze an die richtige Stelle. Ein Schilling - geprägt 1367 in Nortgard. Eine hübsche Münze, wie sie fand. Sie war am Rand ein wenig beschädigt und sie war abgegriffen gewesen, aber nach etwas hingabevoller Politur glänzte sie nun wieder. Fast zärtlich nahm die dürre Frau die nächste Münze zur Hand, wieder einer Schilling. Erneut führte sie diese auf das Dach des kleinen Hauses.

Dreiundziebzigtausendfünfhundertunddrei Münzen hatte sie schon verbaut und nun ging es dem Ende entgegen. Es war ein ehrgeiziges Vorhaben, aber sie stand kurz vor dem Ende, dem finalen Stück. Nur der Wachturm des originalgetreuen Nachbaus der Nortgarder Grenzgarnison aus Münzen in einem üppigen Maßstab musste noch mit der krönenden Münze - einem Gulden aus Löwenstein mit dem Prägedatum von 1397 versehen werden. Fast etwas Zittrig streckte sie die Hand aus, führte die Münze auf den Zinnenring aus Hellern und steckte sie aufrecht in einen Schmalen Schlitz den sie in der Konstruktionsphase schon gelassen hatte.

Fertig - vollendet - wunderschön.

Endlich war sie fertig und für einen Moment wieder glücklich. Nach all dem Leid, all den Schlägen, all den Demütigungen und der mangelnden Anerkennung für ihr Tun verspürte sie kurz das prickelnde Gefühl der Freude durch ihren knöchrigen Leib fahren. Der Hauch eines Lächeln wanderte auf ihr Antlitz und sie blickte sich fröhlich auf dem Dachboden über den Schlafgemächern um. Hier oben würde sie niemand finden. - Erneut lächelte sie still vor sich hin.

Ein Krachen, ein Bersten, Gebrüll. Der Eiserne Erpel war Heim gekommen und drosch in seiner ewig schlechten Laune die massive Eichentür zu. Dem Knall der Undankbarkeit des Patriarchen folgte ein Miniaturerdbeben das dass Haus zum erzittern brachte. Nichts ungewöhnliches, nichts schlimmes wäre da nicht eine Miniaturburg aus Münzen auf dem Speicher errichtet wurden. Der Turm erzitterte nur schwächlich als die 1397ner Guldenmünzen aus Löwenstein kippte und eine im historischen Kontext bedeutungslose Kettenreaktion auslöste.

An diesem schönen Sommertage hörte man am Nachmittag wie ein sehr leises metallisches Rascheln von einem lauten Schrei gefolgt unterbrochen wurde.

Gwendolin Grünthal

Sie war nicht mehr unsichtbar.

Gwendolin verzog die Lippen und ließ die kleinen, über Zeit gelblich angelaufenen Knochenplättchen gegeneinander klacken. Sie konnte sich überhaupt nicht erklären, wie das hatte passieren können. Es war ihr nichts bewusst, was anders als früher sein sollte, und doch...plötzlich sah man sie. Plötzlich nahm Onkel Gawin sie auf seine Spaziergänge mit, plötzlich sorgte man sich darum, dass sie Etikette lernen könnte und bessere Kleidung bekäme, plötzlich sprach sogar Onkel Gaius mit ihr, der sie früher nicht mal gesehen hätte, wenn sie sich mit wedelnden Armen und kreischend vor ihn gestellt hätte.

Früher... Sicher, früher hätte sie sich darüber sogar gefreut. Es gab eine Zeit, in der sie jedem Blick, jedem an sie gerichteten Wort wie ein halb verhungertes Hündchen hinterhergehechelt war. Damals hatte sie sich ausgemalt, mit den anderen Mädchen zusammenzusitzen und Gästen vorgestellt zu werden, und irgendwann einen stolzen Ehemann zu bekommen, der sie mit "werte Gattin" ansprechen konnte (Die Ansprache war wichtig, alles andere hätte der Bedeutsamkeit dieser Vision nicht entsprochen). Damals hatte sie Njal nicht geglaubt, wenn er auf solcherlei Tagträumereien nur erwiderte, dass sie es am Ende besser hatte. Damals waren da nur Sehnsucht und leiser Neid auf die Anderen - die Einsicht war viel später gekommen.

Als hätte es den nach großer Stadt (und manchmal auch nach faulem Fisch oder Nachttopfinhalt) riechenden Wind Löwensteins gebraucht; Plötzlich sah die junge Frau was der Leibeigene ihr all die Jahre gepredigt, beruhigend zugeflüstert hatte. Es waren jetzt die Anderen, die eingesperrt schienen in ihren Rollen - und sie war so frei, wie es nur jemand sein konnte, für den man sich einfach nicht interessierte. Sie konnte Abends hinaus, sie konnte spazieren mit wem sie wollte, sie konnte im Bauernhof übernachten, im Morgennebel im Fluss baden, barfüßig auf heißem Sommerstein herumlaufen und noch andere, ganz andere Dinge anstellen, niemand sah hin. Die verhasste Unsichtbarkeit erwies sich mit einem Male als schlicht und ergreifend großartig, großartig genug, dass sich auch Schläge und Strafen leichter, viel leichter hinnehmen ließen. Schließlich hatte alles seinen Preis, das verstand Gwendolin gut.


Wieder klackten die hellen Plättchen gegeneinander. Es war eine lustige Sache: Wenn man je eines davon zwischen den Finger klemmte, konnte man wie mit übergroßen Nägeln damit herumklappern. Sie stellte sich einen Moment lang vor, wie es wäre, tatsächlich solche Fingernägel zu haben, und ließ die Plättchen schaudernd wieder ins Gras fallen. So lustig vielleicht auch wieder nicht.


Es gehörte nun wohl zur Ironie des Schicksals - welche sich Zeit ihres Lebens einen Spaß daraus zu machen schien, sich an Gwendolin heranzuschleichen und sie dann überraschend anzuspringen - dass man sie ausgerechnet jetzt, da sie sich beinah glücklich wähnte und die Wünsche der Vergangenheit fern schienen, plötzlich allenthalben bemerkte. Leider hieß das nicht nur, dass sie vielleicht Etikette würde lernen müssen, sondern vor allem, dass sich mit einem Male aber auch jeder berufen fühlte, sie verheiraten zu wollen. Die junge Frau konnte sich zwar nicht vorstellen, wen man für jemanden wie sie zu finden hoffte, aber allmählich schien sich nicht einmal Onkel Greimold sicher, sie vor diesen Plänen schützen zu können. Das war nicht gut. Überhaupt nicht gut, besonders da sie sich nicht sicher war, ob ihr Plan, einen möglichen Bräutigam im Falle des Falles mit Hühnerblut zu übergießen, tatsächlich funktionieren würde. Vielleicht würde sie am Ende härtere Geschütze aufahren und den Glücklichen kreischend mit Eiern bewerfen müssen. Wie Herr Graik es tat.

"Graik!"

Sie versuchte es probehalber, stellte jedoch enttäuscht fest, dass es aus ihrem Mund lange nicht so hysterisch klang wie aus dem des verrückten Bauers. Vielleicht ließ der sich auch mieten, zur Abschreckung? Sicher konnte man ihn in faulen Eiern bezahlen.


Die junge Frau seufzte und versuchte die Knochenplättchen zu einer kleinen Pyramide aufzustellen, was auf dem unebenen Grund der Wiese nicht allzu einfach war. Es war ein komisches Spielzeug - und wenn sie daran dachte, dass es immer noch Knochen waren, wenn auch von einem Rind, auch irgendwie gruselig. Dennoch fühlten sich die leise, fröhlich klackenden und klappernden Plättchen gut in den Fingern an, gaben ihnen Beschäftigung wenn Gwen nervös oder nachdenklich war.
Sie sollte sich noch bei Onkel Gawin bedanken...es war wirklich ein nettes Geschenk, wenngleich kaum verwunderlich: Ganz augenscheinlich waren ihm die Dinger einfach zu alt geworden. Seit bald 20 Jahren hatte er die Knochen gehabt, so hatte es gehießen, und das Alter sah man ihnen auch an. Der ehemals weiße Knochen war längst gelblich geworden, und zu den kleinen Strichzeichen auf ihrer Oberfläche hatten sich unzählige Kratzer dazugesellt. Hier und da war auch der Rand uneben geraten, bei einem Plättchen fehlte die obere Ecke sogar ganz.

Sie fuhr mit der Fingerkuppe über die leicht gezackte Stelle...sogar die Bruchstelle war alt. Die Zacken waren über Zeit gleich Flusssteinchen rund poliert worden, so dass der Bruch niemanden mehr in den Finger stechen konnte. Ein kurzer Gedanke wand sich aus dem Nebel zusammengewürfelter Erinnerungen, huschte gleich einer schreckhaften Ratte durch das Bewusstsein und verschwand so schnell, dass sie nicht mal mehr seinen Schweif zu fassen bekam. Gwendolin runzelte die Stirn etwas und packte die Plättchen wieder in ihren Beutel.

Zurück zu ihren Plänen mit Hühnerblut. Sie würde sich dringend mit Njal darüber beraten müssen.

Galaria Ganter

Den halben Tag hatte sie sich bereits von allen anderen ferngehalten, jedwedes Gespräch welches mehr Einsatz als ein vages Nicken, ein stummes schütteln des Kopfes oder ein halbherziges zucken der Schultern verlangt hätte gemieden. Ihr sonst so klarer Blick wie von düsteren, regnerischen Wolken überschattet in ein ungewohnt dunkles grau getaucht. Grau. War das nicht ohnehin die vorherrschende Farbe ihres Lebens?

Bei Ankunft ihrer Familie in Löwenstein dachte sie, alles könne besser werden. Klaglos hatte sie den nagenden Hunger, den Gestank und den unerträglichen Lärm dieser verpesteten und überquellenden Stadt ertragen, in der Hoffnung, dass die Strukturen ihrer Welt, die Gitterstäbe ihres Vogelkäfigs sich weiten würden. Doch dies war ein Trugschluss. Nicht nur vermisste sie den rauen Wind Nortgards in ihrem Haar, die klare Luft dort, die kühlen doch gleichzeitig weichen Regentropfen der Stürme – nein, auch Löwenstein war ihr bereits zuwider, drohte sie zu ersticken.

Atmen. Sie musste Atmen.

Es fiel ihr schwer, dieses Gefühl zu fassen. Je mehr sie darüber nachdachte, desto mehr schien es ihr zu entgleiten, zwischen ihren Fingern wieder zu zerfließen, nur um sich auf der anderen Seite des Raumes neu zu manifestieren um sie abermals spöttisch anzulocken. Vielleicht war es nicht nur ein Gefühl, sondern ganz viele? Vielleicht waren es unterschiedliche Abstufungen einer Emotion, verschiedenste Variationen von Traurigkeit?

Was sie jedoch fassen konnte, war die Erkenntnis. Auch wenn man genaugenommen zugeben musste, dass diese ihr eher ins Gesicht schlug, als sich wirklich ergreifen zu lassen. Sicher – im Grunde hatte sie ihr Leben lang gewusst, wie es laufen würde. Ihr kleiner, steiniger Bergpfad war von Beginn an vorgezeichnet – jeder Kiesel von Onkel Godwin oder ihrem Vater genau platziert, jedes Abstreifen vom Weg durch Sanktionen geahndet. Sie hatte immer gedacht, dass es ihr am meisten Freiheit verschaffen würde, wenn sie demonstrativ auf diesem Pfad bliebe. Wenn sie Onkel Godwin die Steine abnahm und sie unter seiner Anleitung selbst niederlegte. Dabei musste sie wohl übersehen haben, dass ihr erhofftes Mitbestimmungsrecht irgendwo auf dem Wege mit vergraben wurde. Vermutlich auch nicht unter einem kleinen Kiesel. Eher unter einem der Findlinge in Nortgard.

Tod durch Ersticken? Nein, das geht nicht.
Weshalb?
Es dauert zu lange. Es ist qualvoll, doch man könnte überleben. Wähle eine Variante, die direkt zum Tod führt.

Sie hatte etwas Anderes gewählt.
Kurzfristig eigene Steine gelegt. Noch mehr dieser Steine in ihren Taschen versteckt – sie hie und da auf den Boden werfend wenn keiner hinsah.

Auch hier war es die Erkenntnis. Erkenntnis darüber, wer man ist. Erkenntnis darüber, was man ist. Erkenntnis darüber, was man sich wünscht und darüber, was man davon letztendlich bekommen wird. Erkenntnis darüber, welche Grenzen einem gesetzt werden. Doch welche Grenzen setzt man sich selbst?

Wieder fand sie sich vor der mittlerweile ausgetauschten Glasscheibe wieder, diese mit der Handinnenfläche berührend um deren glatte Kühle auf ihrer Haut zu spüren. Immer noch kaum ein klarer Gedanke. Immer noch wusste sie nicht, was sie nun am schlimmsten fand. Die Sehnsucht nach dem Duft der Heimat? Die Sehnsucht nach einem neuen Hauch von Freiheit? Die Sehnsucht nach einer, nein eigentlich nur seiner Berührung die ihr kaltes Herz erwärmen würde.

Immer hatte sie geglaubt, dass dieses Gefühl etwas Schönes wäre. Anstatt sich trauernd in dieser immerwährenden, sanften Melancholie zu suhlen, hatte sie sich lächelnd darin gesonnt. Doch was war Sehnsucht schon anderes, als eine weitere Abstufung von Traurigkeit? Eine weitere Schattierung von Grau, mal heller, mal dunkler? Was war ihre Sehnsucht ohne diese Hoffnungsschimmer, welche ihre goldenen Sonnenstrahlen ins trübe Grau warfen?

Und sie hatte die Tasche voller Steine, einer grauer als der andere.
Ganz, ganz viele Steine - und ein jeden würde sie sorgfältig platzieren.

Gwendolin Grünthal

Sie hatte nur eine kleine Runde gehen wollen. Bis zur Ecke und zurück. Meistens half so etwas gegen das nagende Gefühl der Stille. Nicht, dass es wirklich still gewesen wäre - man unterhielt sich in der Küche ebenso wie im Nordhaus, und sogar auf der Straße stand ein ganzes Grüppchen von Leuten. Nein, die Stille war viel mehr in ihrem eigenen Mund, in ihrem Kopf, überall in ihr bis hin zu den Fingerspitzen.
Die Stille hatte sich ganz urplötzlich angeschlichen, als Gwen die beiden Söhne Godwins angesehen hatte, wie sie sich lachend auf die Schulter klopften und über das gemeinsame Wiedersehen freuten. Sicher würde Gerwulf später noch von seinen Reisen erzählen. Gwendolin hätte ihn zumindest gern danach gefragt gehabt, aber ihre Aufgabe hatte sich darauf belaufen, die Essensreste wegzubringen - das hatte man ihr deutlich klar gemacht.
Also brachte sie die Reste weg und wusch den Fett vom Teller, derweil sich in ihrem Mund plötzlich tausende ungesagte Worte tummelten. Sie hätte gern mit jemandem geredet, jemandem, der ihr keine Essensreste in die Hand drücken würde, nur waren weder Jakobine, noch Lisbeth oder Njal greifbar gewesen. Auf der Straße hatte sie zwar noch die bekannte, hochgewachsene Gestalt des Sonnenlegionärs gesehen, doch der war von einer ganzen Menschentraube umgeben.

Darum wollte sie eine Runde gehen. Weg von den erleuchteten Fenstern und dem Gelächter und den zahllosen fremden Gesprächen, die ihre eigene dräuende Stille nur umso ohrenbetäubender erscheinen ließen. Eine kleine Runde - bis zur Ecke und zurück. Daran erinnerte sie sich noch.



Daran, wie sie in die Lagerhütte im Armenviertel kam, allerdings nicht mehr. Es war spät, viel, viel zu spät - die nächtliche Stadt längst verstummt, zumindest für löwensteiner Verhältnisse. Ihre Schuhe waren feucht und recht dreckig, als wäre sie durch etliche Pfützen gelaufen, die Türe stand halb offen. Das hatte Gwen im ersten Moment der Klarheit die meiste Angst gemacht, die offene Türe. Schließlich hatte man ihr oft genug eingetrichtert, was im Armenviertel passieren konnte. Njal hatte sie sogar gewarnt, und wenn sonst nichts viel Wert war, so wog sein Wort umso schwerer.
Die überhasteten Schritte, welche sie von der Türe trennten, kamen ihr wie eine halbe Ewigkeit vor - doch dann hatte sie endlich die Klinke in der Hand, knallte die Tür zu, schob mit zitternden Fingern den Riegel vor und lehnte sich schwer mit dem Rücken an das Holz. Wieder Stille...hier zumindest weitaus erträglicher als Zuhause.

Als sich der wilde Herzschlag endlich beruhigt hatte, schlich sie zwischen den Fässern hindurch zum Tisch in der hinteren Ecke. Irgendwer hatte hinter dem Tisch noch Felle ausgelegt gehabt, aber nach Schlafen war ihr nicht...nicht hier. Sie sehnte sich wieder nach Hause, das eigentlich gar nicht so weit weg war, nach ihrem Schlafplatz in der Küche, von dem aus sie immer, wenn ein Albtraum sie wachrüttelte, den Leibeigenen im Vorraum sehen konnte, wie er in einem seiner Bücher las oder irgendetwas kritzelte.
Sie kannte diesen Anblick seit Kindheitstagen, und es gab kaum etwas, was die junge Frau beruhigender fand als das kratzende Geräusch des über Papier wandernden Kohlestiftes oder das Rascheln trockener Seiten. Natürlich nicht irgendein Kratzen oder Rascheln - es mussten diese Speziellen sein, von einem eigenen Rhytmus getragen, dem Gleichen, den sie seit Jahren Nacht für Nacht hörte. Wenn die Seiten schneller, ruckartiger gewandt wurden, langweilte er sich, und wenn das Kratzen des Stiftes leiser geriet, verriet die Hand so die Unsicherheit eines Gedankens. Das Geräusch einer Handfläche, die über trockenes Pergament strich...irgendetwas vom Gelesenen war besonders interessant, ein Klopfen des Kohlestängels auf den Boden deutete auf seichten Ärger. Es gab noch mehr solcher Anzeichen, und sie kannte alle auswendig; wo andere nach Schlafliedern verlangten, war Gwendolin von klein auf von Stift und Papier in den Schlaf gewogen worden.

Hier jedoch würden nur wogende Dunkelheit und einschnürende, lähmende Angst auf sie warten, sollte sie aus einem Traum hochschrecken, und damit kam Schlaf einfach nicht in Frage. Die dürren Finger des Mädchens wanderten wie von selbst zum Beutel an ihrer Hüfte, ehe mit leisem Klappern ein Häuflein Plättchen, die im schwachen, durch das Fenster dringenden Mondlicht die fahle Farbe von Maden trugen, auf die Tischplatte schüttete.
Aus irgendeinem absurden Grund waren die Dinger beinah so beruhigend, wie die Arbeitsgeräusche von Njal.
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