28.03.2017, 10:32 (Dieser Beitrag wurde zuletzt bearbeitet: 13.04.2017, 09:56 von Laverne Düsterfluss.)
1386
Karoline weint.
War ja klar. Warum haben wir die überhaupt dabei? Mädchen sind doof. Wollen beim Spielen immer gerettet werden und nie richtig kämpfen! Jetzt weint sie.
Ich bin auch ein Mädchen, aber ich bin nicht doof! Und ich will jetzt auch weinen, aber ich mach's nicht. Ich warte darauf, was die anderen machen.
"Hat jemand 'nen Stock? Dann werfen wir ihn einfach zurück in den Fluss!"
Ich heiße Laverne Düsterfluss, bin sieben Jahre alt und sehe heute zum ersten Mal eine Leiche. Mit dabei sind ein paar Kinder aus der Nachbarschaft. Yascha nicht, der ist zu groß um mit uns zu spielen. Valentin auch nicht, den finden wir doof und der muss eh immer so viel schreiben. Ich musste heute auch etwas schreiben, und zwar einen Brief, weil Frau Mutter meinte, ich soll jetzt mal meinen eigenen Text verfassen. Ich habe meinem Bruder Yascha geschrieben. Von einer pupsenden Schlange habe ich geschrieben und ich hoffe, dass es ihm gefällt.
Die Leiche hat zusammengebunde Hände und ist wahrscheinlich ertrunken. Kurz frage ich mich, wo denn das Problem dabei ist, nur mit den Beinen zu schwimmen. Das geht doch auch?!
Der Körper ist männlich, schrecklich aufgebläht und irgendwie glitschig. Oder vielleicht war der Mann zu Lebzeiten auch schon so dick. Und glitschig. Kann ja sein! Oder?
Alle Kinder haben Stöcke in der Hand, aber keines tut was. Ich habe auch einen. Wie kommt der denn da hin in meine Hand? Mein Bruder Yascha ist mutig. Und das will ich auch sein. Frau Mutter sagt, Yascha hat mich nur lieb, wenn ich so bin wie er. Valentin hat mich auch nur lieb unter irgendeiner Bedienung, aber die hab' ich vergessen. Ich hab' beide trotzdem einfach lieb, weil sie meine Brüder sind. Und jetzt bin ich mutig.
"Iiiiih", kreischt Karo. Anstatt sie zu ohrfeigen wie es angemessen ist und wie es Gereon bei jedem anderen gemacht hätte, legt er einen Arm um sie. Irgendwas habe ich da kaputt gemacht. Ich hatte erwartet, dass mein Stock gar nicht durch die Haut kommt. Hoffentlich tut ihm das nicht weh. Aber er ist ja tot, das tut ihm natürlich nicht mehr weh. Oder?
"Ich wette, das ist ein Seemann!", sagt eines der Kinder. Und dann beginnen alle durcheinander zu reden.
"Nee, dann wäre er ja geschwommen!"
"Seine Hände sind gefesselt!"
"Und bei der Strömung!"
"Das war bestimmt ein Lump!"
"Jetzt ist er ein Lumpen!"
"Der hatte auch ne Mama!!"
Beim letzten Ausruf sind die schnatternden Kinder verstummt. Alle schauen betrübt und beschämt auf den Leichnam nieder. Was haben denn alle? Was ist so schlimm dran, eine Mama zu haben?
"Die hol' ich jetzt. Ich hol' meine Mama!" Das sagt Karoline und keiner widerspricht. Keiner hält sie auf. Da nicke ich anerkennend. Ist das eigentlich jetzt wahrer Mut oder doch etwas anderes?
Kurzerhand gebe ich der Leiche einen Tritt und sie rollt ins Wasser zurück. Das geht so erstaunlich einfach, ich bin selbst überrascht - ganz als wollte sie zurück ins Bett, ins Flussbett.
"Nää", sage ich kühn. "Keine Mamas erlaubt!"
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1393
Karoline weint. Jungs sind doof. So doof...
Was geschehen ist, das erfahre ich nach und nach, während meine Freundin schluchzend den Kopf auf meinen Schoß gebettet hat. Ich streiche ihr geduldig über das weiche braune Haar und dränge sie nicht, ihren für mich noch leicht unverständlichen Monolog weiterzuführen. Die zerbrechlichen Schultern beben wie unter einer gar schrecklichen Last.
"Und dann dachte ich, es wär' alles gut, weil wir uns ja geküsst ham!", wimmert Karo bitterlich. Die Haut auf ihren Wangen ist so unverschämt weich, bemerke ich, als ich ihr sachte die Tränen mit dem Daumen wegwische.
"Ja....", höre ich mich leise sagen, "es ist anzunehmen, dass alles gut ist, wenn man sich geküsst hat." Es klingt nicht, als wolle ich mich über sie lustig machen. Ich verstehe ja das Problem selbst nicht! Und was erschwerend hinzu kommt, ich habe keine Ahnung, von wem sie da eigentlich redet, auf wen ich denn nun eigentlich richtig sauer sein soll!
Doch meine Hand ruht sanft auf ihrem Haar, meine langen Finger spielen mit einer Locke.
"Dann hat er alle diese schlimmen Dinge gesagt, die nicht mal Sinn machen!", sie verschluckt sich halb an diesen Worten.
"Sinn ergeben", korrigiere ich etwas geistesabwesend und bereue es sofort.
"Huh?", fragt sie irritiert und blickt zu mir hoch.
"Ach, nichts", ich schüttele nur hastig den Kopf und beuge mich vor, um die Strähne zwischen meinen Fingern zu küssen. Gerade noch so gerettet, sie beruhigt sich wieder. "Was genau hat er denn gesagt?"
Ihr Zittern hört mit einem Mal auf, ihr ganzer Körper versteift sich, mit verheultem Gesicht starrt sie zu mir hoch.
"Dass meine Spucke unrein ist und er mich nimmer sehen will!"
Gerade will ich laut über diesen Unsinn loslachen und vorschlagen, dass wir uns einen Joghurt mit Honig holen, da sehe ich Valentins strenges Gesicht vor meinem geistigen Auge, höre diese Worte in meinem inneren Ohr - wenngleich er niemals "nimmer" sagen würde - und finde es überhaupt nicht mehr lustig.
Ich helfe ihr, sich aufzurichten und ordne ihr von mir selbst verwuscheltes Haar. Wie um zu beweisen, dass der Kerl Unrecht hat, nähern sich meine Lippen ihrem Gesicht. Und was ich da schmecke, schmeckt überhaupt nicht unrein...
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1389
Vater speist heute mit uns am Mittagstisch. Das passiert nicht so oft, weil er sonst immer lange unterwegs ist und erst abends oder sogar nachts heimkehrt. Dann sehe ich ihn erst, wenn er in mein und Yaschas Zimmer tritt, um uns zuzudecken. Manchmal sehe ich ihn auch überhaupt nicht, aber wir sind trotzdem zugedeckt. Ich weiß nicht, wie er das macht...
Er sitzt Frau Mutter gegenüber, am oberen Tischende. Umringt ist er von Yascha und mir. Valentin sitzt am anderen Ende, da unten bei Frau Mutter. Sie sieht schlecht gelaunt aus und ihre blauen Augen schauen ganz böse - also wie immer. Ich bin froh, dass ich braune Augen habe, wie Vater und Yascha. Yascha lümmelt breitbeinig im Stuhl. Ich sitze ihm wie ein Spiegel gegenüber.
Valentin sitzt kerzengerade neben Mutter. "Sitz gerade, Valentin", zischt sie streng. Zu uns sagt sie nichts. Aber Yascha bekommt sowieso nie Ärger... und ich nur ganz selten, aber da muss ich mich schon richtig anstrengen.
Vater schneidet lustige Grimassen für uns - ich glaube, weil ihm keine Geschichte einfällt, die er erzählen könnte. Natürlich lache ich. Yascha lacht auch. Frau Mutter lacht nicht. Valentins Mundwinkel zuckt. Ich sehe, dass Mutter das sieht. Es gefällt ihr nicht. Da muss ich nur noch lauter lachen.
"Kinder, entschuldigt mich und euren Vater", spricht Frau Mutter, tupft sich die Lippen mit einem weissen Tuch ab und legt es nieder auf den Tisch. Oh nein. Ich hab' noch Hunger und schaue auf meinen Teller. Valentin ist schon aufgestanden. Ich zögere damit noch und sehe Yascha an. Der schiebt gerade unauffällig drei dampfende Kartoffeln von seinem Teller in seinen Hemdsärmel und zwinkert mir zu, ehe auch er aufsteht. Heiße Kartoffeln müssen verdammt weh tun, aber ich laufe ihm sofort nach.
Frau Mutter schimpft nie mit Vater. Zumindest nicht, wenn wir dabei sind - darum hat sie uns fortgeschickt.
Während Yascha und ich an den Kartoffeln knabbern, hören wir von unten verdächtige Geräusche.
"Sind wohl schon bei der Versöhnung", flüstert Yascha grinsend. Ich grinse zurück. Ich liebe Kartoffeln.
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01.04.2017, 02:58 (Dieser Beitrag wurde zuletzt bearbeitet: 01.04.2017, 02:59 von Laverne Düsterfluss.)
1383
"Deine Schwester, die gibt's ja wirklich", lächelt die freundliche Bäckerin. "Und ich dacht' schon, du hätt'st se dir nur ausgedacht!"
Ich bin Laverne. Ich bin vier. Ich weiß es noch nicht, aber ich werde noch viele Jahre später über diese Situation nachdenken.
Nicht nur darüber, warum Yascha sie ausgedacht haben soll - sondern auch ob. Was ist, wenn ich nur in seiner Fantasie lebte? Und was wäre, wenn er mich vergessen würde?
"Nein, alles, was ich sagte, entsprach der Wahrheit", antwortet Yascha fast schon schnurrend wie ein Kater und lehnt sich lässig vor gegen ihren Tresen.
Das ist eine wichtige Taktik: Zwischen den Lügen, da streue auch ein bisschen Wahrheit. Es hebt den Wahrheitsgehalt der Geschichte und macht sie so glaubwürdiger.
"Na, das bleibt ja wohl noch abzuwarten", säuselt sie zurück. Ich sehe den Blick zum ersten Mal. Aber sicher nicht zum letzten Mal. Es ist der Blick einer Frau, die ihrem Bruder verfällt. Oder auf ihn herein fällt?
Sie tauschen noch Worte aus, die ich nicht verstehe. Die Frau ist schön. Sie hat ganz liebe Augen, nicht so wie Frau Mutter. Außerdem behauptet Yascha, er müsste mich ganz alleine großziehen, was ja gar nicht stimmt!
Yascha bittet mich, einen Moment alleine zu warten, er müsse da schnell was erledigen.
"Was macht ihr denn?", frage ich, bin aber ansonsten ganz tapfer.
"Wir spiel'n Karten.", kommt schnell seine Antwort.
"Toll! Kann ich mit?"
"Nein, ich darf das Spiel nicht verlieren", erwidert er ohne zu zögern. "Denn wenn ich verliere, dann bekommen wir künftig kein süßes Gebäck mehr. Valentin darf dann alles allein essen."
Da nicke ich fest entschlossen. Das darf nicht passieren. Niemals. Dafür warte ich gern. Es ist für eine gute Sache. Die vermutlich beste Sache überhaupt.
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03.04.2017, 16:33 (Dieser Beitrag wurde zuletzt bearbeitet: 03.04.2017, 17:32 von Laverne Düsterfluss.)
1402
Valentin weint. Das ist gut. Es ist besser als jeder andere Ausdruck von Trauer. Jeden einzelnen habe ich die letzten Stunden mit ihm durchlebt. Ich bin erschöpft. Valentin wohl auch.
Vater ist hinaus gegangen, ich weiß nicht, wohin. Der Heiler ist ihm hinterher - und wir sind ganz alleine mit Frau Mutter. Valentin und ich sind fortan immer alleine...
Es ist wohl der Tag, an dem Kinder wahrhaft erwachsen werden. Jener Tag, an dem die eigene Mutter stirbt... und sie einen zurücklässt mit all den ungelernten Lektionen, den ungesagten Worten. Bis heute dachte ich, Frau Mutter würde ewig leben, dieser Tag würde niemals kommen. Und plötzlich ist er da.
Ich streiche über Valentins Rücken, aber er scheint es gar nicht zu bemerken. Auch fällt mir nichts ein, das ich zu ihm sagen könnte. Und überhaupt tut mir noch die aufgeplatzte Lippe weh. Wie gesagt, Valentins Trauer drückt sich auf verschiedene Weisen aus...
Also sitze ich mit ihm weiter auf dem Bett und umarme ihn, auch wenn er mich nicht zurück umarmt.
Ich will auch gar nicht, dass er mich umarmt. Er ist nicht mehr der blöde Valentin von früher, aber... er ist nicht Yascha. Das ist Valentins größte Schwäche. Er ist nicht Yascha!!
Der Gedanke macht mich wütend. Warum ist Yascha nicht da? Warum tröstet er Valentin nicht? Warum tröstet er mich nicht? Und warum hat er das Versprechen gebrochen, das er mir in der schlimmsten Nacht meines Lebens gegeben hat? Sie ist nun fast 8 Jahre her. Und in diesen Jahren war nicht mehr Valentin der größte Blödkopf der Familie gewesen, sondern ich selbst, weil ich Yaschas Lügen geglaubt habe, weil ich auf ihn hereingefallen war wie die ganzen Frauen vor mir - mit dem Unterschied, dass ich eigentlich wusste, dass er ein Lügner ist. Dass ich es hätte besser wissen müssen! Er hat mich acht Jahre im Stich gelassen, ohne Brief, ohne Besuch! Und er hat mich vergessen... die einzige Person, bei der es mich wirklich schmerzt, wenn ich weiß, dass sie acht Jahre lang nicht eine Sekunde an mich denkt, denkt in acht Jahren nicht eine Sekunde an mich. Ich sollte mich von ihm lösen. Warum hänge ich noch so an ihm? Das ist albern! Er hat nichts getan, um meine Liebe zu verdienen, er hat mich immer nur weggestoßen! Meine Hand auf Valentins Rücken ballt sich zur Faust.
Ich höre, wie sich unten die Türe öffnet. Mein Herz macht einen Satz. Yascha! Yascha ist da! Plötzlich kommt es mir vor, als habe ich die letzten acht Jahre in völliger Dunkelheit verbracht und jetzt, jetzt geht endlich die Sonne auf...
06.04.2017, 21:29 (Dieser Beitrag wurde zuletzt bearbeitet: 06.04.2017, 21:30 von Laverne Düsterfluss.)
1404
Ich drücke meine Kiste in der Bank gewaltsam zu. Das Holz des Deckels wölbt sich bedrohlich, doch ich schaffe es, das Ding endlich zu verschließen. Frau Bankfrau sieht mich misstrauisch an. Natürlich will sie mir eine zweite Kiste für viel Geld andrehen. So machen die ihre Geschäfte, schon immer! Elende Gauner. Viel zu kleine Truhen und für verdammt viel Geld eine größere... wenn ich doch nur ein eigenes Zimmer hätte... wenn ich doch nur Yascha finden würde! Meine Bücher nehmen so viel Platz weg. Auf ihren Einbänden steht:
"Der Herr der Zwiebelringe"
"Das Zwiebelringelied"
"Die Zotentänzerin"
Dieses ganze Herumgedrücke macht noch Eselsohren. Und wessen Schuld ist das? Yaschas! Dafür wird er büßen.
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1398
Ich geb's zu, ich stehe gern im Mittelpunkt. Hallo?! Schließlich bin ich Laverne Düsterfluss, Hoheit Laverness, Laffi MacDüesterstein persönlich, die kleine Schwester des großartigen Yascha! Es ist meine Bestimmung, die Welt um mich herum tanzen zu lassen.
Und doch... gibt es Geschichten, in denen ich lieber nicht die Hauptrolle gespielt hätte. Bei der ich mir wünsche, man hätte irgend jemand anderes gefunden. Dass der Erzählstrang mich einfach losgelassen hätte und nicht geknebelt. Aber die Geschichte erzählt sich manchmal von ganz allein.
Diese beginnt mit meinem eigenen Zitat. "Keine Mamas erlaubt!"
Es dauert einen Moment, bis ich verstehe, was er damit meint. Im Wald bin ich Feuerholz sammeln. Mitten im Wald.
Aus dem kleinen süßen Jungen von damals - mit dem Ast! - ist ein starker Mann mit einem Dolch geworden. Ich weiß nicht, warum mir gerade dieser Gedanke in den Kopf schießt, aber ich sehe den Dolch und denke: "Ich habe mir die Waffe, die mich einmal umbringen wird, viel hübscher vorgestellt."
Es ist ein schartiger Dolch. Er glänzt kaum. Er ist bestimmt ganz stumpf. Aber es ist nicht der Dolch, der mich umbringen wird.
Der gesichtslose Kerl ist viel stärker als ich. Ich weiß nicht, wieso, aber ich versuche es auch gar nicht wirklich, ihn aufzuhalten. Jahre danach werde ich mich fragen, ob ich alles hätte verhindern können, wenn ich mich nur mehr angestrengt hätte. Ich schließe meine Augen.
Yascha stampft voll gerüstet aus dem Unterholz und zerrt den Kerl von mir herunter. Dieser schlägt mit dem Kopf gegen einen Baum und heraus schwallt Blut, ganz als schütte man jemanden den Inhalt eines Weinglases energisch ins Gesicht.
Ich liege noch immer mit meinem zerschnittenen Kleid auf dem Moos. Yascha lächelt mir liebevoll zu und macht sich an seiner Rüstung zu schaffen, um seine Beine zu entkleiden.
"Es tut mir leid, Laverne, ich kann nicht anders.", schnauft er amüsiert und streichelt mir durchs Haar. Ich lächle zurück.
"Schon in Ordnung, Bruder. Ich liebe dich.", hauche ich zurück.
Es schmerzt zwar sehr, weil Yascha unheimlich grob ist, aber das ist er ja nur, weil sein Verlangen nach mir so groß ist. Alles an mir, von oben bis unten, zieht sich vor Schmerz zusammen, meine Augen sind noch immer zugekniffen und ich presse ein flehendes "Yascha!" hinter den mahlenden Zähnen hervor.
"Der ist nicht da und der wird auch nicht wieder kommen!", grunzt etwas an meinem Ohr. Stimmt. Der ist gar nicht da und wird auch nicht wiederkommen...
Und trotzdem hört es auf. Der Kerl rollt leblos von mir herunter. Ganz leicht öffne ich die Augen, um zwischen meinen Wimpern Valentin zu erblicken. Er sieht irgendwie anders aus. Die Luft um ihn herum scheint zu knistern. Ich will die Augen öffnen, aufstehen, mich bei ihm bedanken... aber nichts davon gelingt mir. Ich kann nichts sagen, ich kann mich nicht bewegen.
Ich weiß nicht mehr, wie ich nach Hause gekommen bin. Aber ich sitze im Waschzuber und Valentin kippt wortlos einen Eimer über mich aus. Trotzdem werde ich nicht sauber.
Die schlimmste Nacht meines Lebens war die, die Yascha das letzte Mal im Hause Düsterfluss übernachtet hat und sich verabschiedet hat. In der er versprach, er würde mir schreiben - und ich damals schon wusste, dass er log. Ja, die Nacht war schlimmer als diese hier. Denn diese hier, die ist nie passiert.
Ich habe ein frisches Kleid an und Valentin bürstet meine Haare. Dass er es ist, sehe ich in Spiegel vor mir. Und da sehe ich auch mich.
Jeden Tag steht man vor einem neuen Scheideweg. Vor neuen Entscheidungen. Aber so manche Wegkreuzung ist größer und wichtiger als andere.
Heute stehe ich vor der Entscheidung, mich davon brechen zu lassen. Es in mir zu tragen, Tag für Tag, darüber zu stolpern, immer einen Platz in meinem Herzen dafür frei zu halten.
Oder aber ich sehe nach vorne, freue mich darüber, am Leben zu sein, freue mich über all die schönen Momente und lache aus vollem Halse. Und werde vor allem eine gnadenlose Kämpferin, die nicht versteckt, eine Frau zu sein.
Ich blicke in den Spiegel. Ich entscheide mich für alles. Die Frau im Spiegel lacht vergnügt, doch ihre dunklen Augen blicken mich traurig an. Valentin bürstet derweil geduldig meine Haare.
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12.04.2017, 13:56 (Dieser Beitrag wurde zuletzt bearbeitet: 13.04.2017, 08:53 von Laverne Düsterfluss.)
1386
für Yascha von Laverne
Die Schlange schlängelt und sie kriecht,
ich frage mich, was hier so riecht.
Die Schlange zischelt, kreucht und fleucht,
da ist ihr ein Pups entweicht.
Doch lässt sie'n drin, wie bei uns auch,
schmerzt's, drum lässt sie's raus,
denn so 'ne Schlange hat viel Bauch.
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13.04.2017, 12:41 (Dieser Beitrag wurde zuletzt bearbeitet: 13.04.2017, 12:47 von Laverne Düsterfluss.)
1399
"Also, Männer!", schreit der mindestens zwei Meter große Kommandant und zeichnet mit dem Schwert einen Kampfring in den Sand.
"Der Gewinner bekommt 'ne Belohnung! Düsterfluss, Drechsler, antreten! Ihr zuerst! Regeln sind klar: keine Toten!"
Die beiden Gerufenen, also Yascha und ein junger Candarier, treten in den Ring. Der Gewinner steht schnell fest. Er wischt sich den Dreck aus dem Gesicht und schüttelt den Sand aus den fettigen Haaren.
"Als Belohnung", sagt der Kommandant mit einem Nicken zum Sieger, "gibt es die Briefe des letzten Monats." Er reicht Yascha ein ansehnliches Bündel Briefe, doch Yascha spuckt nur in den Sand und dreht sich angewidert bei dieser lausigen Belohnung weg.
....da erwache ich schweißgebadet.
Mein Mund fühlt sich schrecklich trocken an. Es ist mitten in der Nacht. Im Zimmer ist es dunkel. Und doch weiß ich, dass da Yaschas leeres Bett steht.
Ich klettere leise aus dem Bett, schleiche mich zur Tür und möchte hinunter gehen, um mir etwas Wasser zu holen. Da tritt Frau Mutter in den Gang. Sie kommt aus Valentins Zimmer und hält eine Kerze.
"Was machst du zu solch später Stunde wach?", verlangt sie zu wissen. Sie gibt sich keine Mühe, leise zu sein.
"Mich dürstet, Frau Mutter.", antworte ich ihr mit gesenktem Blick.
"Warum siehst du so unansehnlich aus, hast du geheult?", fragt sie streng. Frau Mutter mag nicht, wenn ich weine. Gerötete Augen und Nasen seien nicht hübsch.
"Ja, Frau Mutter. Ich hatte einen Alptraum." Und was macht Ihr überhaupt in Valentins Zimmer - will ich sie fragen, aber wage es nicht.
"Was hast du geträumt, Mädchen?"
"Von Yascha. Davon, dass er meine Briefe bekommt, diese aber nicht will." Es nützt ja nichts zu lügen.
"Natürlich bekommt er sie. Er will sie nur nicht.", bestätigt sie mir, als hätte ich danach gefragt. Ihre Worten schneiden in mein Ohr. Ich versuche, sie nicht in mein Herz zu lassen...
"Und wenn er dir nicht schreibt, dann weil er dich für unzulänglich hält." Unausgesprochen lässt sie wohl ein: "Das tun wir übrigens alle.", doch sie muss es nicht aussprechen, sie sagt es in meinem Kopf. "Du hättest dich an das halten sollen, was man dir gesagt hat."
Sie tadelt mich als sei schon längst alle Hoffnung verloren. Dabei habe ich mich, was Yascha angeht, immer an ihre Worte gehalten... oder es zumindest versucht.
"Ja, Frau Mutter", flüstere ich leise. Damit geht sie den Gang entlang und verschwindet in einem anderen Zimmer. Sie lässt mich im dunklen Gang zurück. Dass ich etwas trinken wollte, das habe ich schon vergessen. Ich rutsche den Türrahmen entlang und setze mich auf den Boden nieder.
"Mutter hatte Recht.", höre ich noch abschätzig aus Valentins Zimmer murmeln.
Na warte. Morgen lege ich dir einen Pferdeapfel unter das Kopfkissen, Valentin....
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14.04.2017, 23:50 (Dieser Beitrag wurde zuletzt bearbeitet: 15.04.2017, 18:36 von Laverne Düsterfluss.)
1403
Ich liege auf einer Blumenwiese in Candaria und betrachte die Wolken. Diese hier sieht aus wie ein Schaf. Diese hier sieht aus wie ein Schaf. Diese hier... oh halt, das ist ein Schaf.
Diese dort drüben sieht aus wie eine dicke Biene - und das bringt mich auf einen Gedanken.
"He, Valle!", sage ich leicht aufgeregt und drehe mich auf den Bauch herum, um zu Valentin aufzublicken. Er sitzt anständig an einem Tisch und streicht sich ein Honigbrot. So etwas passiert schon äußerst selten. Der feine Herr Düsterfluss, der sich selbst seine Stulle schmiert! Und das macht er auch nicht wie normale Menschen das tun, sondern übertrieben bewusst und elegant - wie ein Prinz, der einen Tag lang ausprobiert, wie es ist, ein Freier zu sein, und der besonders bedacht sein Brot belegt, weil er es noch nie zuvor selbst getan hat. Irgendwie ist er auch ein Prinz, mein Bruder Valentin...
Er würdigt meinen Ausruf keiner verbalen Antwort, sondern schaut lediglich abwartend zu mir hinunter, als besehe er sich einen Hund.
"Bienen bauen ihr Haus doch aus..."
"Ihren Stock.", korrigiert er mich.
"Ihren Stock doch aus Wachs, oder? Und Wachs wird nicht gesammelt, sondern die Bienen machen ihn selbst, oder?"
"Sie bewegen sich und es kommt aus ihrem Körper. Wenn sie viel Wachs brauchen, bewegen sie sich viel."
"Also ist", folgere ich selbstzufrieden, "Wachs eigentlich Bienenschweiß."
Valentin nickt nur. Das ist ihm doch egal.
"Bienen sammeln doch Nektar und Pflanzensäfte... oder?", frage ich weiter, immer noch zu ihm aufblickend. "Ja...", gibt er abwartend zurück und er schenkt mir diesen zweifelnd-überlegenden Blick, der, glaube ich, besagt, dass all der Unterricht vielleicht doch nicht an mich verschwendet war.
"Und... sie haben ja keine Taschen dabei. Wie transportieren sie das Zeugs zurück in den Stock?"
Valentin gibt mir für einen kurzen Augenaufschlag die Hoffnung, dass er mal auf etwas keine Antwort hätte. Aber nur kurz. Dann schnauft er: "Sie schlucken es hinunter."
"Und... dann?", frage ich grinsend. Mir gefällt, wo das hinführt.
"Dann, im Stock, kommt es eben wieder hinaus." Inzwischen schmiert er nicht mehr an seiner Schnitte herum.
"Vorne oder hinten?"
"Ich hoffe vorne."
"Also ist Honig Bienenkotze?"
Eine kurze Pause. Dann seufzt er.
"Ja. Ja, Honig ist Bienenkotze.", sagt Valentin missmutig und lässt das Brot auf dem Teller liegen wie einen ungewollten Säugling vor einer Klostertür. Dann verlässt er wortlos den Tisch.
Ich fische das Brot vom Teller und lasse mich zufrieden ins Gras zurücksinken, während ich herzhaft in die klebrige Stulle beiße. So einfach macht man sich Frühstück.
Hoffentlich macht er sich mal Rührei.
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