FSK-18 Grübeleien
#23
Die meisten Menschen haben vor einer Wahrheit mehr Angst als vor einer Lüge.



Sie saß auf dem Balkon des Anwesens in Thalweide. Mühsam hatte sie einen Stuhl aus dem Nebenzimmer herübergerückt. Der Blick wanderte über die verschlafen daliegende Siedlung. Nun könnte man sagen, dass Thalweide eben noch kleiner und wilder und ländlicher war als das auch schon eher raue Rabenstein, aber tatsächlich lag auch dieses im Moment wie in einem Schlummer da. Die letzten Wochen war es die flirrende Hitze gewesen, die jedes Leben regelrecht gelähmt hatte. Sogar Anouk, die sonst nicht empfindlich war was äußere Einflüsse anging, hatte sich schwer getan mehr als das zwingend Notwendige zu erledigen. 
Sie selbst war zwar oft geschäftigt herumgeeilt, aber meist eher zur späten Stunde. Außerdem hatte sie es irgendwann aufgegeben. Das stetige allein sein, hatte zu sehr an ihren Nerven gezehrt.

Allein sein. Ja das war im Moment ein stetiges Thema für sie. Ihre Schneiderei lag schon länger verwaist da. Sie war nach dem Vorfall in Löwenstein zu Einar gezogen. Zu Hause fühlte sie sich nach all den Vorkommnissen nicht mehr wirklich sicher. 

Zuerst die Entführung. Auch wenn sie sie verstand, auch wenn sie ihr nicht böse war, ihr längst verziehen hatte, erinnerte sie sich jedes Mal wenn sie durch die Haustür in ihren Verkaufsraum trat an die Szene wo auf einmal eine Armbrust auf sie gerichtet war.
Dann dachte sie darüber nach, dass noch jemand anders hier gewesen war der sie nun ängstigte. Daran wie sie innerlich gezittert hatte, als er ihr gegenüber stand und sie sich immerzu die Frage stellte, wieso er sich die Mühe machte ihr zu drohen, wenn auch unterschwellig, aber die Person die offenbar zu viel gesehen hatte, nicht einfach aus dem Weg schaffte. Sie verstand es nicht. Er tötete doch sonst auch ohne Skrupel und auf so bestialische Weise, Menschen, aber bei ihnen hatte er sich mehr auf Warnungen und Mahnungen verlegt, statt sie einfach aus dem Weg zu schaffen. Sie selbst hätte das eindeutig getan an seiner Stelle. 

Das alles erinnerte sie jedenfalls dann daran wo sie mit Innes in dem Garten stand und ihr auf einmal die Luft weg blieb. Ihr Kopf zog sich zusammen und sie wurde von Schmerzen durchflutet. Wellen über Wellen von Schmerzen, ehe sie dann schnell gnädigerweise das Bewusstsein verlor und ihr Herz offenbar aufhörte zu schlagen und ihre Lungen keinen Atem mehr pumpten.
Nur der Novizin verdankte sie es, dass sie noch... wieder lebte. Auf den ersten Blick müsste man vermuten, dass sie es war die sie vergiftet hatte. Aber erstens war es rein logisch schon Unsinn, zweitens traute sie es ihr einfach nicht zu. Sie war verblendet in ihrem Glauben, aber nicht in ihrem Herzen.
Innes Seele war wohl nicht mehr zu retten und zu den Göttern zurück zu führen, aber sie war dennoch unverdorben. So wie Ana selbst, eher die Schatten lebte, das Verborgene, so stand sie im Licht.

Diese Überlegung führte sie nun unweigerlich zurück zu ihrer letzten Unterrichtsstunde. Schatten war nicht das Gegenstück zum Licht. Es gehörte als Gegenpol zur Natur und das Licht stand den Gewalten gegenüber. Anouk hatte sich wirklich abgemüht ihr das verständlich zu machen, was, wie sie deutlich heraushörte, das Grundlegendste und Ureigenste war, was sie als Druiden zu verstehen, verkörpern und verteidigen mussten. Aber wie sollte sie das, wenn sie es doch nicht mal im Ansatz begriff? Es dann am Ende umzusetzen wäre schon eine Herausforderung für sich, aber wenn sie es nicht einmal verstand, wie sollte sie es dann jemals verkörpern geschweige denn jemandem erklären?
Ab und zu hatte sie Ansätze gehabt, die ihr logisch schienen, dann kamen wieder neue Aspekte dazu, oft auch durch Keldron, die das alles für sie wieder umwarfen. Er schien das so einfach zu begreifen und zu verinnerlichen und sie.. sie scheiterte daran auch nur die Grundzüge zu umreißen.
Und mit diesen Gedanken kam die brennende Angst zurück. Die Angst zu versagen. Sie hatte Anouk versprochen, dass sie ihre Ausbildung beenden würde. Und ja... das würde sie. Nur langsam kam das erste Mal der Gedanke auf, dass es nicht auf die Weise sein würde die sie sich vorgestellt hatte. Spielte Easar doch ein Spiel mit ihr und lies sie immer wieder glauben und dann scheitern? War sie dazu verdammt einem Traum nachzujagen, weil sie dachte es wäre ihr Weg und wieder und wieder an sich selbst zu scheitern? Würde sie sie enttäuschen und ihre Ausbildung beenden mit... "Sie kann es nicht"?

Ohne dass sie es zuerst bemerkt hatte, waren Tränen über ihre Wangen gerollt und als sie es schließlich registrierte, unternahm sie garnicht erst den fruchtlosen Versuch sie zu bremsen oder wegzuwischen und ließ sie einfach kullern.
Sie würde nicht aufgeben, aber langsam verlor sie das Vertrauen in ihre Eignung für das Ganze. Wie hatte sie so dumm sein können?




Wer andern gar zu wenig traut, hat Angst an allen Ecken; wer gar zu viel auf andre baut, erwacht mit Schrecken.


Und dann war da noch etwas in das ihr Vertrauen erschüttert war. 
Der Blick wanderte gedankenverloren über das verschlafene Thalweide und zu dem Mann der es als seines betrachten konnte. Sie wusste wie sehr er die kleine Siedlung liebte, wie viel Kraft, Blut, Schweiß und Tränen er hineingesteckt hatte. Ein Stück weit, wie im viel kleineren Rahmen, in ihre Beziehung. In Gedanken korrigierte sie sich. Das Vertrauen war nicht in ihn erschüttert. Sie vertraute ihm immer noch blind, auch wenn ihr jeden Tag mehr bewusst wurde, wie viel er vor ihr verbarg. Sie wusste warum. Sie akzeptierte es. Verstand es sogar. Aber am Ende war es manchmal trotzdem schwer hinzunehmen. Nein, das Vertrauen in den Gedanken dass sie funktionieren könnten, war erschüttert. 

Manchmal reichen Gefühle oder der Wille zu etwas, eben nicht aus.
So wie es vermutlich nicht reichte, dass sie wirklich Druidin sein wollte, den Göttern und den Menschen dienen, sie führen, beschützen, wenn nötig zu strafen, die Geschichten und Gedanken in die Welt tragen und dafür Sorge tragen, dass Dinge nicht aus den Fugen gerieten, so reichte die Liebe und das Vertrauen das sie in ihn empfand, vermutlich ebenfalls nicht aus, dass sie gemeinsam funktionierten.

Die letzten Wochen hatten sie nie Gelegenheit gehabt wirklich gemeinsame Zeit miteinander zu verbringen. Oder genauer gesagt beschränkte sie sich darauf, dass er nachts heim kam, oder oft auch nicht, und sie im Halbschlaf an sich zog. Manchmal wurde sie wach und sie liebten sich. Meist wachte sie auf und er schlief noch und wenn sie zurück kam, war er fort.
Einmal hatten sie sich gesehen und kurz Zeit gehabt zu reden, und es hatte sie fast zerrissen. Sie war so wütend gewesen, wie er das alles so leicht nehmen konnte, wie er sie nur aufs Blut reizen konnte und ihr das was sie so vermisste, nämlich seine Zärtlichkeit, Leidenschaft und ihre gemeinsame Zeit, vorhielt, nur um es ihr zu entziehen. Sie war so unfassbar wütend und verletzt gewesen. Sie hatte ihm in der Deutlichkeit einer kalten scharfen Klinge, gesagt was sie davon hielt. Er war geknickt gewesen, verletzt, überrascht, aber am Ende... änderte es alles nichts daran wie die Dinge waren.

Zu Beginn ihrer gemeinsamen Reise, hatten sie so viel miteinander geredet. Er hatte sie fast täglich unter einem Vorwand, oder auch ohne Grund, aufgesucht und war meist die ganze Nacht geblieben. Sie hatten geredet, gemeinsam geschwiegen und waren zur Ruhe gekommen.
Nachdem die Dinge irgendwann klar und offiziell waren zwischen ihnen, hatten sie die Finger kaum voneinander lassen können. Sie hatten ihre Unterschiede geordnet und wo sie standen. Und natürlich war ihr bewusst gewesen, dass es Zeiten geben würde, in denen sie nicht so viel Zeit miteinander verbringen würden, aber sie hatte nicht vermutet, dass es so schwer werden würde.
Zumal es wenig gab gerade, und noch viel weniger gutes, womit sie sich ablenken konnte davon.
Und ein wenig erinnerte es sie an die Zeit als es begann mit ihr und Morkander schwierig zu werden. Noch lange bevor es gescheitert war.
Unweigerlich schob sich der Gedanke in ihren Kopf, dass es an ihr lag. Sie hatte es ihm von Anfang an gesagt, dass sie nicht geeignet war dafür, das es Unglück brachte sich auf sie einzulassen und dass etwas mit ihr zu gründen, auf Sand bauen war. Aber er hatte nicht aufgegeben und sie selbst hatte es sich viel zu sehr gewünscht. Einmal wieder geliebt zu werden. Einmal wieder einen Moment der Anker im Leben eines Anderen zu sein. Das Licht in der Dunkelheit des Lebens. Der Traum in der Realität da draußen. 
Sie hatte ihn gewarnt, dass wenn sie sich darauf einließen, es bedeutete für sie, ihn auf die eine oder andere Weise irgendwann zu verlieren. Und genau, das, so fühlte es sich an, geschah nun.
Noch war sie nicht bereit es los zu lassen, aber sie fühlte wie alles auseinander trieb, wie die Eisschollen im Winter, wenn die Oberfläche des Eises brach.





Alles in der Welt endet durch Zufall und Ermüdung.





Aber sie war zumindest fest überzeugt gewesen, bis vor zwei Tagen, dass sollte diese Unglück jemals eintreten, es diesen anderen Fixpunkt in ihrem Leben gab, an dem sie sich festhalten konnte. Diese Aufgabe die sie zu übernehmen begonnen hatte und die ihr so viel, oder in so vieler Hinsicht noch mehr, bedeutete als ihre Beziehung. Und auch dort fühlte sie die ersten Risse. Sie fühlte ihren Zweifel.

Sie war zu Alecs Bestrafung erschienen. Zum einen weil sie ein Stück weit dennoch seine Freundin war, ein klein wenig weil er ihr Kamerad bei den Grauwölfen war, aber vor allem anderen, und deswegen war sie im Schwarz erschienen, weil sie einen kleinen Moment dachte, es wäre sinnvoll, notwendig, dass jemand von ihnen anwesend war. Jemand der bezeugte dass alles richtig war. Nicht dass sie auch nur im Ansatz erwartet hätte dass Kordian, oder Kyron oder Alec von der ihnen zugedachten Rolle abwichen. Nein dazu waren sie zu geradlinig um da nun unvorhergesehenes zu tun. Es war mehr das Gefühl dass es richtig war, notwendig, allen Beteiligten irgendeine Sicherheit vermittelte und natürlich dass der Form damit genüge getan war. 

Einen winzigen Augenblick hatte sie tatsächlich gedacht, dass es einen Unterschied gemacht hätte ob sie da war oder nicht. Realistisch betrachtet war es absoluter Unfug. Das wurde ihr nun sehr deutlich klar. Vermutlich wäre es nicht mal weniger ... seltsam.. unangenehm gewesen, wenn sie nicht da gewesen wäre und danach allen Schnaps in die Hand gedrückt hätte. Nichtmal das...


Nein, das wo es wirklich wichtig war, dass Druiden anwesend waren und ihre Aufgabe erfüllten, waren die Dinge die sie überforderten. Und dafür ein Haus zu segnen, oder Schnaps zu verteilen, dazu brauchten sie sie nicht wirklich als Anhängsel, das solche Dinge übernahm, weil sie mit den wichtigen Dingen überfordert war.

Aber auch was das anging, hatte sie nicht die Kraft loszulassen, den Mut mit Anouk zu sprechen und sie zu bitten realistisch zu sein. Sie und Keldron waren vom gleichen Schlag, trotz ihrer Unterschiedlichkeiten. Sie waren geradlinig und klug, respektvoll und ein wenig geheimnisvoll. Sie verkörperten das Bild des Druiden nach außen hin perfekt. Sie hingegen... Wer hatte es gesagt als er oder sie von ihrer neuen Aufgabe gehört hatten "Das erstaunt mich." "Warum?" "Na ja, du wirkst irgendwie zu zugänglich und fröhlich für einen Druiden." Damals hatte sie gesagt, dass das nur das Bild ist, das viele noch von ihnen haben, aber dass das nicht ist was einen Druiden ausmacht und ein guter Druide durchaus zugänglich und warmherzig und heiter sein kann. 

Nun fragte sie sich ob sie sich irrte...


Liebe mich dann, wenn ich es am wenigsten verdient habe, denn dann brauche ich es am meisten.


Wie konnte innerhalb so kurzer Zeit ihre Welt wieder so zu zerbrechen beginnen? Und sie fand nur eine einzige Antwort. Sie war zu schwach.
[Bild: Anabella-Signatur.png]
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Grübeleien - von Anabella - 07.06.2013, 18:52
RE: Grübeleien - von Anabella - 22.06.2013, 00:25
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Feuer - von Anabella - 02.07.2013, 15:05
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