Die Veltenbruchs
#2
Gwendolyn tastet mit geschlossenen Augen nach ihren Augengläsern. Jeden Abend platziert sie jene auf den Schriften, die sie vor dem Schlafengehen verschlingt. Seitdem ein Gast des Hauses Veltenbruch die geschliffenen Augengläser zurückgelassen und nie mehr eingefordert hat, nutzt sie sie tagtäglich. Heimlich ist sie davon überzeugt, dass diese ihrem sommersprossigen Gesicht mehr Gelehrsamkeit verleihen. Der Zitronensaft, mit dem sie ihre Sommersprossen regelmäßig einreibt, bringt nicht sonderlich viel und man muss ja sehen, wo man bleibt.

Das Sammelsurium an Reisegeführten, mit dem sie gestern an der Kreuzwegtaverne angekommen ist, sollte auf sie warten, so war es abgemacht worden. Gwen lauscht. Es ist seltsam ruhig. Sie hat das einzige Einzelzimmer. Einige der Gestalten, die mit ihr gereist sind, kratzten sich verdächtig oft und Gwen ist ihr rotes, typisch Veltenbruch’sches Haar zu schade zum Abschneiden, nur weil die Eigenpflege anderer, mit denen sie notgedrungen reisen muss, so zu wünschen übrig lässt. Der Weg von Silendir nach Servano führte durch zu viele Wälder. Gwen hat nicht die Absicht, sich ihre Pläne von Räubersgesindel vereiteln zu lassen.

Gähnend schwingt sie die Beine aus dem Bett und schaut zur Türe. Sie setzt sich die Augengläser auf und beäugt skeptisch das Bett. Die Kerze, die gestern Nacht hier brannte, konnte den Raum nicht genügend erhellen. Zur Vorsicht hat sie lieber in ihrer Reisekleidung geschlafen. Als sie meint, in einer Ecke des Betts ein paar verdächtige Punkte krabbeln zu sehen, erhebt sie sich hastig. Stehend stößt sie fast an die niedrige Decke. Sie tritt ans Fenster und schaut auf die Weggabelung. Ihre Gedanken schweifen ab.

Als sie im Schutze der endenden Nacht, begleitet von einer zweifelnden Magd, den Hof ihres Großonkels Hagen verließ, hatte sie einen Plan. „Erst wagen, dann wägen“, so war es ihr ihr Leben lang vorgepredigt worden und sie hatte nicht vor, davon abzuweichen. Jetzt, in der frühen Morgenstunde in der Kreuzwegtaverne, musste sie unwillkürlich triumphierend die Faust ballen beim Gedanken an ihren meisterhaft geglückten Plan.

Ihr Großonkel hatte einen Gast gehabt, der eine Weiterreise nach Löwenstein plante. Er hatte davon gesprochen, sich eine Gruppe Reisender anzuschließen, die im Ort Rast gemacht hatte, um sich selbst eine sichere Reise zu garantieren. Jedermann wusste, wie Gruppen die Sicherheit erhöhten und wie unsicher die Zeiten waren für eigenständig Reisende.

Gwen hatte darin ihre Chance erkannt. Schon seit einem halben Jahr hatte sie darüber gebrütet, wie sie ihren wagemutigen Verwandten folgen könnte. Theresia und Kaspar hatten völlig Recht gehabt. Die Unbeweglichkeit der Veltenbruchs glich einem Sakrileg. Es gab doch so viel zu wollen und zu wissen auf der Welt. Diesen Kuchen stehen zu lassen und ungerührt nach sauren Äpfeln zu greifen, davon hatte sie genug, genug, genug. Ihre Unruhe war ihrem Großonkel nicht verborgen geblieben. Er teilte sie zur Arbeit ein, wo er nur konnte. Gwendolyn mischte so viele Heiltränke und Warzentinkturen, dass ihr abends bunte Glasflaschen vor den geschlossenen Augen tanzten. Selbst an ihrem 19. Geburtstag, der eben vorbei war, ließ Großonkel Hagen sie arbeiten. Seitdem ihr strenger Großonkel von seinen aufmüpfigen Kindern und den Veltenbruchs, die ihnen gefolgt waren, erfahren hatte, witterte er abtrünnige Jungverwandte hinter jeder Ecke.

Die Ankündigung des Gastes kam Gwendolyn gerade recht. Sie zog eine Magd ins Vertrauen und schmiedete ihren abenteuerlichen Plan unter einem vom Hofe abgelegenen Apfelbaum mit ihr. Gwen wusste um die Bredouille, in die sie Elsa brachte. Eine ordentliche Bürgerstochter allein in eine Taverne spazieren zu lassen, wo wer weiß welche Menschen abstiegen, kam gar nicht in Frage, wenn man den Veltenbruchs ein Leben lang gedient hatte. Gwen erpresste sie schamlos. „Wenn du nicht mit mir gehst, dann geh ich alleine. Und dann kannst du sehen, wo du bleibst, wenn dich Großonkel Hagen nach meinem Verbleib fragt. Falls sie mich überfallen irgendwo liegen finden und ich noch lebe, sag ich, du hast mich einfach gehen lassen. Und was dann..?“ Als Gwendolyn ihr mögliches Schicksal als ermordetes Fräulein im Straßengraben in den grausigsten Farben entwarf und dabei nicht mit Details sparte, hatte Elsa nachgegeben. „Du musst mich auch nur zur Taverne bringen. In der Gruppe werde ich sicher sein.“ Ein wenig beschlich sie doch das schlechte Gewissen. Die arme Elsa verging fast vor Angst vor dem Zorn ihres Großonkels, der zusammen mit der aufgehenden Sonne über sie hereinbrechen würde, wenn er von ihrer Beteiligung an Gwens Plan erfuhr, aber die junge Veltenbruch mahnte sich selbst, stur zu bleiben. Was sie tun würde, wenn der Gast ihres Großonkels darauf bestünde, sie zurückzubringen, hatte sie noch nicht entschieden. Bitten und betteln konnte sie im Notfall, oder darauf hoffen, dass seine Handelsinteressen in Löwenstein ohnehin eine Verzögerung nicht zuließen.

Als der Morgen graute, verließen die beiden klammheimlich das Haus. Der Gast von Großonkel Hagen hatte sich wohl am Wein überhoben, denn er stieß nicht mehr zur Reisegruppe dazu, die aus einer bunten Mischung von Kaufleuten, Bürgern, Leibeigenen und Söldnern bestand, die wohl zum Schutze angeheuert worden waren. Gwen zahlte dem Gruppenführer einen Schilling. Er hatte zwei verlangt, aber ein mitleidiger Augenaufschlag tat sein Übriges. Die etwa vierzig Reisegefährten machten sich frühmorgens auf den Weg. Die abtrünnige Veltenbruch gab acht darauf, ihre Gugel stets aufzubehalten. Flammendrotes Haar machte sich nicht so gut, wenn man gerne unauffällig bleiben wollte. Elsa sagte unter Tränen ihr Lebwohl. Ob es wegen Gwendolyns Abreise war oder wegen der befürchteten Strafe war nicht zu sagen. Gwens Gewissen litt arg und sie bat sie noch halbherzig um Verzeihung für ihre Schlechtigkeit.

Einer der Bürger hatte ein übriges Pferd bei sich, das er in Löwenstein veräußern wollte. Er ließ Gwen darauf reiten. Sie bemühte sich, nicht allzu ungeschickt dabei zu erscheinen. Bücher waren ihr allemal lieber als riesige Pferde, aber auf denen konnte man schlecht reiten. Die Gruppe gelangte bis zur Kreuzwegtaverne. Zwei Zwischenfälle mit Wegelagerern machten die Ausgabe von Gwens Schilling mehr als wett. Die Söldner waren ihr Gold eindeutig wert. Kurz vor Löwenstein trennte sich die Gesellschaft. Die meisten Kaufleute gingen ihrer eigenen Wege. Ein Freier und dessen Knechte, sowie zwei Söldner, blieben zurück und beschlossen zusammen mit Gwendolyn, in der Taverne zu übernachten.


Immer noch ist es draußen im großen Schlafraum verdächtig ruhig. Zu ruhig. Barfuß tapst Gwen zur Türe und horcht. Nachts hatte sie ihre verschmutzten, verstaubten Schnallenstiefel vor der Tür gelassen, wie man das als brave Tochter so machte. Sie zieht die Tür auf und schiebt den Rotschopf hinaus. Es ist totenstill und leerer als die Kornkammern Silendirs nach den strengsten Wintern. Gwen schaut zu Boden. „Verfl… Gemeines Gesindel!“ Der Jähzorn treibt ihr die Zornesrote in die blassen Wangen. Keine Stiefel mehr da. Dieses Pack! Jemand musste seine Chance gewittert haben und im allgemeinen Aufbruch ihre Stiefel mitgehen haben lassen. Gwens linkes Augenlid fängt an zu zucken, ein Zeichen ihres jähen Zorns. Sie tritt einmal fest gegen das verlauste Bett, schreit aufgrund des darauffolgenden Schmerzes auf und wirft sich mit geballten Fäusten aufs Bett. Fieberhaft überlegend wägt sie ihre Möglichkeiten ab. So kann sie ihren Verwandten ja wohl kaum unter die Augen treten. Hat man so was schon gehört – eine Veltenbruch, die barfuß durch Amhran spaziert! Vor zwei Jahren hat sie ihre Anverwandten zum letzten Mal gesehen, mit 17. Da hat jeder grade erst begonnen, sie allmählich für voll zu nehmen und nun das. Unmöglich. Entschlossen setzt Gwendolyn sich in dem übel knarzenden Bett auf und angelt nach einem Kohlestift. Wäre ja noch schöner, wenn ihr so ein böser Schelmenstreich das Wiedersehen vereitelt.

Als unter ihrem Fenster kurze Zeit später ein kleiner Junge vorbeiläuft, verspricht Gwendolyn ihm mit ihrer schönsten Honigstimme einen Apfel, wenn er ihren Brief zum Hause der Veltenbruchs in Löwenstein bringt. Sie hat den spindeldürren Knaben in der Tasche, das merkt sie an seinen glänzenden Augen. Gwendolyn bleibt am Fenster sitzen und harrt der Dinge, die da kommen. Der Himmel ist blau, die Vögel zwitschern und der meisterhafte Plan hatte wohl doch einen kleinen Schönheitsfehler..
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Nachrichten in diesem Thema
Die Veltenbruchs - von Theresia Veltenbruch - 19.05.2013, 00:40
RE: Die Veltenbruchs - von Gwendolyn Veltenbruch - 19.05.2013, 01:04
RE: Die Veltenbruchs - von Damian Pereste - 04.07.2013, 14:16
RE: Die Veltenbruchs - von Welf - 08.10.2013, 20:56



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