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Normale Version: Die Veltenbruchs
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Die Veltenbruchs
Wie alles begann
Kaspar - Theresia - Jacob



Mit einem nachhallenden Knall flog die schwere, aus der hauseigenen Werkstatt stammende Eichentür in das Schloss. Energischen Schrittes zog ein Rotschopf an Portraits früher Ahnen vorbei, die den Hauptgang im Herrenhaus der Veltenbruchs zierten. Er hatte fast die Haustür erreicht, als eine rauchige, tiefe Stimme seinen Namen rief. "Kaspar!" schallte es eindringlich durch den Flur. Kaspar war versucht, den Rufenden zu ignorieren und einfach hinaus zu gehen, doch diese Respektlosigkeit konnte er seinem Vater nicht entgegen bringen. Er wandte sich herum zu einem betagten Mann, der noch den Türknauf der Tür in der Hand hielt, die er eben noch mit aller Gewalt zugeschmissen hat.
"Vater..." entgegnete er ungehalten mit knirschenden Zähnen.
"Kaspar. Besinn dich und komm zurück! Deine unangebrachten Worte sollen dann vergessen sein." Vater Veltenbruch strahlte bestimmte Authorität aus. Er war ein Mann, der wusste, was er wollte und dabei dennoch eine sympathische Art und Weise an den Tag legte. Er wäre zu größerem bestimmt, ganz sicher. Und doch ließ er seinen Arsch in diesem Haus verrotten. Das dachte zumindest Kaspar.
"Meine Worte sollt ihr nicht vergessen. Vater - ich sag es dir noch einmal: Der Name Veltenbruch gehört an den Hof. Mit dir an der Spitze ist unser Erfolg gewiss. Wir..."
"Genug!" wurde Kaspar schroff unterbrochen. "Je höher wir versuchen zu greifen, umso tiefer werden wir fallen. Dies hier ist der Platz, den Mithras uns zugewiesen hat. Füge dich dem!"
Mit einem verzweifelten Aufschrei und die Hände über den Kopf zusammenschlagend, wandte sich der eigensinnige Sohn ab und verließ das Haus seines Vaters. Er würde sich später mit Theresia, seiner Zwillingsschwester, treffen; wie sie es so oft taten. Sie würde seiner Meinung sein, sie würde mit ihm kommen, sie würde ihn unterstützen. Gewiss schmiedete sie im selben Moment die gleichen Pläne.

*

Das leise Geräusch, mit dem das zusammengeknüllte Pergament die Tür traf, war so unbefriedigend, daß Theresia am liebsten noch etwas hinterher geworfen hätte – das Tintenfass vielleicht, oder gleich den ganzen Kasten mit den Schreibutensilien. Stattdessen schnaufte sie und trat hilflos gegen die Kommode.
Es war ein guter Entwurf für einen Protest gegen die Silendirer Politik, ein Schreiben, das Loyalität Silendirs für den König und seinen Stellvertreter, den Truchsess Hieronymus Lichtenwald verlangte - ein wirklich guter Entwurf. Hätte man ihn beim Guldenacher Rat eingereicht, so hätte man ihn sicher angesehen – allein der Name „Veltenbruch” darauf hätte dafür gesorgt. Es wäre richtig gewesen, gegen die Ränke des Silendirer Lehensherren einzutreten. Königstreu, von wegen! Königstreu war, Theresias Verständnis nach, etwas anderes als das Handeln Savian Falkensteins von Silendir!
Als Oberhaupt der Familie hätte Hagen Veltenbruch nichts weiter tun müssen, als seine Unterschrift und das Familiensiegel darauf zu setzen.
„Ein guter Entwurf”, hatte auch ihr Vater gebrummt, als er Theresia ihm das sorgsam ausgearbeitete Schriftstück vorgelegt hatte. Er verabscheute die aktuelle Politik Silendirs dem Königslehen gegenüber zutiefst. „Ein guter Entwurf...” Er musste das „aber” nicht aussprechen.
Ein Veltenbruch mischte sich nicht ein. Ein Veltenbruch nutzte das Fleckchen auf Erden, das Mithras ihm zuwies, so gut er konnte, und strebte nicht nach Höherem.
„Pah!” entfuhr es Theresia und wandte sich zum Fenster.
Draußen regnete es. Schwere Tropfen aus düsteren Wolken klatschten gegen die Bleiglasfenster und verliehen der gepflasterten Straße hin zum Familiensitz der Veltenbruchs einen trostlosen Anschein. Der Familiensitz unweit der Lehenshauptsdtadt Guldenach war klein im Vergleich zu dem, was andere große Handelsfamilien Silendirs bewohnten. Klein wie die Veltenbruchs, trotz ihrer zahlreiche Generationen umspannende Familiengeschichte. Klein, weil kein Veltenbruch sich je bemüßigt fühlte, nach mehr zu streben. Und wer es doch tat, der wurde ohne große Worte, ohne böses Blut, aber so konsequent abgewiesen, daß kein Widerstand möglich war. Ein Veltenbruch hatte nicht hoch hinaus zu wollen, ebenso wenig hatte er sich einzumischen. Das Siegel der Veltenbruchs gehörte auf meisterliche Handwerkskunst – aber nicht auf politische Traktate oder gar Streitschriften. Ein Veltenbruch hatte keine eigene Meinung, sofern das Leben des Königs nicht direkt gefährdet war. Und selbst im Angesicht der Ränke Silendirs gegen seine Majestät hielt ein Veltenbruch lieber erstmal die Füße still.
Finsteren Blickes fuhr Theresia herum, griff nach ihrem Umhang und warf die Tür ihres Zimmers hinter sich ins Schloss. Vorbei an den Portraits der Ahnen, die gleichgültig an ihr vorbei sahen, vorbei an der Tür, hinter der die Stimme Kaspars jene ihres Vaters übertönte. Ob er noch etwas ausrichten konnte, wo sie versagt hatte?
Als das schwere Eingangsportal hinter Theresia ins Schloss fiel und ihr der Regen ungebremst ins Gesicht klatschte, atmete sie tief durch. Vielleicht war es an der Zeit, fortzugehen, und das Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Nicht mehr zuzusehen, wie das Potenzial der Veltenbruchs wie unter einer tiefen Staubschicht zusehends tiefer vergraben wurde, und die Familie nicht einmal ihre Stimme nutzte, um für den König einzutreten, wie es sich gehört hätte.
Sie und Kaspar waren nicht die einzigen, die so dachten. Auch ihr Cousin Jacob trug sich seit längerem mit dem Gedanken, mehr aus dem Namen Veltbruch zu machen. Und nun war die Zeit gekommen. Ob die Familienoberhäupter mitmachen wollten oder nicht – sie würden dem Namen Veltenbruch zu neuem Glanz verhelfen!
Ihre Schritte platschten in den Pfützen, die sich allenthalben auf dem Pflaster gebildet hatten, als Theresia entschlossen losmarschierte, in Richtung der Hauptstraße von der aus die Tore Guldenachs nicht mehr fern waren. Jacob war der erste, den sie in ihre Pläne eingeweiht hatten. Und jetzt war es an der Zeit, den Plänen Taten folgen zu lassen.

*

Jacob ließ sich seufzend in seinen Sessel zurücksinken. Ein ferner Blitz erleuchtete das dunkle Zimmer und grollender Donner durchbrach die bedrückende Stille, welche das Haus zu dieser späten Stunde beherrschte. Stunden hatte er mit Theresia gesprochen und diskutiert, über den erneuten Streit mit Kaspars und ihrem Vater, über das, was nun folgen würde. Selten hatte Jacob sich offen in die Belange der Familie eingemischt, zu oft war er bereits als Heranwachsender nur müde belächelt oder gar barsch abgewiesen worden. Aber jetzt - jetzt stand der Neuanfang der Familie direkt bevor!
Er griff sein Tagebuch vom Tisch und schlug ein seiner Listen in der Mitte auf. Hier war all das aufgeführt, was sie zur Verfügung hatten. All das, was einen erfolgreichen Start in Servano gewährleisten würde. Die Liste der Güter und Gelder überflog er nur kurz, schließlich hatte er sie schon lange auswendig gelernt. Als er allerdings bei den Mächtigen Servanos ankam, bei Amtsinhabern, Gerüchten und nützlichen Hinweisen über ihre Ämter, wurde er wieder aufmerksamer.
Gedankenverloren nickte er und strich sich langsam durchs Haar. Ja, diese Informationen würden es letztlich sein, welche es seinen Freunden Theresia und Kaspar, und auch ihm, ermöglichen würden, die Familie in Servano zu neuem Ruhm und einer bisher nicht gekannten Machtstellung zu führen.
Wie viel Zeit hatte er aufgewendet, um diese Informationen zusammenzutragen. Er hatte fast jede freie Minute in den zugänglichen Archiven zugebracht, hatte mit befreundeten Familien gesprochen, ja sogar die etwas verruchteren Viertel Guldenachs hatte er aufgesucht und dort so manche Münze für eine nützliche Information ausgegeben.
Nachdem er diesen Abschnitt erneut aufmerksam gelesen hatte, blätterte er etwas weiter. Unzählige solcher Listen fanden sich in seinen Büchern. Abseits der frei zugänglichen Informationen zwar nur einige Gerüchte aus dritter Hand - aber immerhin alles was man über die Reichen und Mächtigen der verschiedenen Lehen wissen musste. Und wie oft hatte er sie der Familie schon vorgelegt, hatte ihnen aufgezeigt, wie einfach es doch wäre sich diese Informationen zunutze zu machen - und sei es nur für die Abschlüsse besserer Geschäfte. Aber immer wieder war er abgewiesen worden. Sogar beschimpft hatten sie ihn! Überall nur taube Ohren, sture und traditionsbewusste Verwandte.. Er schnaubte verächtlich. Sie waren feige. Nichts anderes. Und die Familientradition und irgendwelche uralten Geschichten lieferten allen den perfekten Vorwand, um ihre Feigheit damit zu verschleiern.
Nur Theresia und Kaspar nicht. Sie hatten Visionen, konnten sich ausmalen, was diese alte und starke Familie alles zu erreichen vermochte. Und sie hatten nicht über ihn gelacht, hatten ihn nicht weggeschickt oder sich in Ausreden geflüchtet. Sie teilten seine Ansichten und sahen in seinem Wissen ein Werkzeug, welches dazu dienen konnte die Familie zu stärken.
Und endlich war es so weit!
Jacob stand auf und nahm dieses letzte Buch mit zu seiner Reisetruhe. Alle anderen hatte er schon lange verstaut, da er seit Monaten schon auf diesen Moment gewartet hatte. Sorgfältig legte er es zu seinen anderen Büchern und schloss die Truhe. Er würde nicht viel Geld mitnehmen können - lediglich sein Wissen und seine Fähigkeiten in der Buchführung. Aber dennoch würde er versuchen, der Familie damit bei ihrem Neubeginn zu helfen.
Gwendolyn tastet mit geschlossenen Augen nach ihren Augengläsern. Jeden Abend platziert sie jene auf den Schriften, die sie vor dem Schlafengehen verschlingt. Seitdem ein Gast des Hauses Veltenbruch die geschliffenen Augengläser zurückgelassen und nie mehr eingefordert hat, nutzt sie sie tagtäglich. Heimlich ist sie davon überzeugt, dass diese ihrem sommersprossigen Gesicht mehr Gelehrsamkeit verleihen. Der Zitronensaft, mit dem sie ihre Sommersprossen regelmäßig einreibt, bringt nicht sonderlich viel und man muss ja sehen, wo man bleibt.

Das Sammelsurium an Reisegeführten, mit dem sie gestern an der Kreuzwegtaverne angekommen ist, sollte auf sie warten, so war es abgemacht worden. Gwen lauscht. Es ist seltsam ruhig. Sie hat das einzige Einzelzimmer. Einige der Gestalten, die mit ihr gereist sind, kratzten sich verdächtig oft und Gwen ist ihr rotes, typisch Veltenbruch’sches Haar zu schade zum Abschneiden, nur weil die Eigenpflege anderer, mit denen sie notgedrungen reisen muss, so zu wünschen übrig lässt. Der Weg von Silendir nach Servano führte durch zu viele Wälder. Gwen hat nicht die Absicht, sich ihre Pläne von Räubersgesindel vereiteln zu lassen.

Gähnend schwingt sie die Beine aus dem Bett und schaut zur Türe. Sie setzt sich die Augengläser auf und beäugt skeptisch das Bett. Die Kerze, die gestern Nacht hier brannte, konnte den Raum nicht genügend erhellen. Zur Vorsicht hat sie lieber in ihrer Reisekleidung geschlafen. Als sie meint, in einer Ecke des Betts ein paar verdächtige Punkte krabbeln zu sehen, erhebt sie sich hastig. Stehend stößt sie fast an die niedrige Decke. Sie tritt ans Fenster und schaut auf die Weggabelung. Ihre Gedanken schweifen ab.

Als sie im Schutze der endenden Nacht, begleitet von einer zweifelnden Magd, den Hof ihres Großonkels Hagen verließ, hatte sie einen Plan. „Erst wagen, dann wägen“, so war es ihr ihr Leben lang vorgepredigt worden und sie hatte nicht vor, davon abzuweichen. Jetzt, in der frühen Morgenstunde in der Kreuzwegtaverne, musste sie unwillkürlich triumphierend die Faust ballen beim Gedanken an ihren meisterhaft geglückten Plan.

Ihr Großonkel hatte einen Gast gehabt, der eine Weiterreise nach Löwenstein plante. Er hatte davon gesprochen, sich eine Gruppe Reisender anzuschließen, die im Ort Rast gemacht hatte, um sich selbst eine sichere Reise zu garantieren. Jedermann wusste, wie Gruppen die Sicherheit erhöhten und wie unsicher die Zeiten waren für eigenständig Reisende.

Gwen hatte darin ihre Chance erkannt. Schon seit einem halben Jahr hatte sie darüber gebrütet, wie sie ihren wagemutigen Verwandten folgen könnte. Theresia und Kaspar hatten völlig Recht gehabt. Die Unbeweglichkeit der Veltenbruchs glich einem Sakrileg. Es gab doch so viel zu wollen und zu wissen auf der Welt. Diesen Kuchen stehen zu lassen und ungerührt nach sauren Äpfeln zu greifen, davon hatte sie genug, genug, genug. Ihre Unruhe war ihrem Großonkel nicht verborgen geblieben. Er teilte sie zur Arbeit ein, wo er nur konnte. Gwendolyn mischte so viele Heiltränke und Warzentinkturen, dass ihr abends bunte Glasflaschen vor den geschlossenen Augen tanzten. Selbst an ihrem 19. Geburtstag, der eben vorbei war, ließ Großonkel Hagen sie arbeiten. Seitdem ihr strenger Großonkel von seinen aufmüpfigen Kindern und den Veltenbruchs, die ihnen gefolgt waren, erfahren hatte, witterte er abtrünnige Jungverwandte hinter jeder Ecke.

Die Ankündigung des Gastes kam Gwendolyn gerade recht. Sie zog eine Magd ins Vertrauen und schmiedete ihren abenteuerlichen Plan unter einem vom Hofe abgelegenen Apfelbaum mit ihr. Gwen wusste um die Bredouille, in die sie Elsa brachte. Eine ordentliche Bürgerstochter allein in eine Taverne spazieren zu lassen, wo wer weiß welche Menschen abstiegen, kam gar nicht in Frage, wenn man den Veltenbruchs ein Leben lang gedient hatte. Gwen erpresste sie schamlos. „Wenn du nicht mit mir gehst, dann geh ich alleine. Und dann kannst du sehen, wo du bleibst, wenn dich Großonkel Hagen nach meinem Verbleib fragt. Falls sie mich überfallen irgendwo liegen finden und ich noch lebe, sag ich, du hast mich einfach gehen lassen. Und was dann..?“ Als Gwendolyn ihr mögliches Schicksal als ermordetes Fräulein im Straßengraben in den grausigsten Farben entwarf und dabei nicht mit Details sparte, hatte Elsa nachgegeben. „Du musst mich auch nur zur Taverne bringen. In der Gruppe werde ich sicher sein.“ Ein wenig beschlich sie doch das schlechte Gewissen. Die arme Elsa verging fast vor Angst vor dem Zorn ihres Großonkels, der zusammen mit der aufgehenden Sonne über sie hereinbrechen würde, wenn er von ihrer Beteiligung an Gwens Plan erfuhr, aber die junge Veltenbruch mahnte sich selbst, stur zu bleiben. Was sie tun würde, wenn der Gast ihres Großonkels darauf bestünde, sie zurückzubringen, hatte sie noch nicht entschieden. Bitten und betteln konnte sie im Notfall, oder darauf hoffen, dass seine Handelsinteressen in Löwenstein ohnehin eine Verzögerung nicht zuließen.

Als der Morgen graute, verließen die beiden klammheimlich das Haus. Der Gast von Großonkel Hagen hatte sich wohl am Wein überhoben, denn er stieß nicht mehr zur Reisegruppe dazu, die aus einer bunten Mischung von Kaufleuten, Bürgern, Leibeigenen und Söldnern bestand, die wohl zum Schutze angeheuert worden waren. Gwen zahlte dem Gruppenführer einen Schilling. Er hatte zwei verlangt, aber ein mitleidiger Augenaufschlag tat sein Übriges. Die etwa vierzig Reisegefährten machten sich frühmorgens auf den Weg. Die abtrünnige Veltenbruch gab acht darauf, ihre Gugel stets aufzubehalten. Flammendrotes Haar machte sich nicht so gut, wenn man gerne unauffällig bleiben wollte. Elsa sagte unter Tränen ihr Lebwohl. Ob es wegen Gwendolyns Abreise war oder wegen der befürchteten Strafe war nicht zu sagen. Gwens Gewissen litt arg und sie bat sie noch halbherzig um Verzeihung für ihre Schlechtigkeit.

Einer der Bürger hatte ein übriges Pferd bei sich, das er in Löwenstein veräußern wollte. Er ließ Gwen darauf reiten. Sie bemühte sich, nicht allzu ungeschickt dabei zu erscheinen. Bücher waren ihr allemal lieber als riesige Pferde, aber auf denen konnte man schlecht reiten. Die Gruppe gelangte bis zur Kreuzwegtaverne. Zwei Zwischenfälle mit Wegelagerern machten die Ausgabe von Gwens Schilling mehr als wett. Die Söldner waren ihr Gold eindeutig wert. Kurz vor Löwenstein trennte sich die Gesellschaft. Die meisten Kaufleute gingen ihrer eigenen Wege. Ein Freier und dessen Knechte, sowie zwei Söldner, blieben zurück und beschlossen zusammen mit Gwendolyn, in der Taverne zu übernachten.


Immer noch ist es draußen im großen Schlafraum verdächtig ruhig. Zu ruhig. Barfuß tapst Gwen zur Türe und horcht. Nachts hatte sie ihre verschmutzten, verstaubten Schnallenstiefel vor der Tür gelassen, wie man das als brave Tochter so machte. Sie zieht die Tür auf und schiebt den Rotschopf hinaus. Es ist totenstill und leerer als die Kornkammern Silendirs nach den strengsten Wintern. Gwen schaut zu Boden. „Verfl… Gemeines Gesindel!“ Der Jähzorn treibt ihr die Zornesrote in die blassen Wangen. Keine Stiefel mehr da. Dieses Pack! Jemand musste seine Chance gewittert haben und im allgemeinen Aufbruch ihre Stiefel mitgehen haben lassen. Gwens linkes Augenlid fängt an zu zucken, ein Zeichen ihres jähen Zorns. Sie tritt einmal fest gegen das verlauste Bett, schreit aufgrund des darauffolgenden Schmerzes auf und wirft sich mit geballten Fäusten aufs Bett. Fieberhaft überlegend wägt sie ihre Möglichkeiten ab. So kann sie ihren Verwandten ja wohl kaum unter die Augen treten. Hat man so was schon gehört – eine Veltenbruch, die barfuß durch Amhran spaziert! Vor zwei Jahren hat sie ihre Anverwandten zum letzten Mal gesehen, mit 17. Da hat jeder grade erst begonnen, sie allmählich für voll zu nehmen und nun das. Unmöglich. Entschlossen setzt Gwendolyn sich in dem übel knarzenden Bett auf und angelt nach einem Kohlestift. Wäre ja noch schöner, wenn ihr so ein böser Schelmenstreich das Wiedersehen vereitelt.

Als unter ihrem Fenster kurze Zeit später ein kleiner Junge vorbeiläuft, verspricht Gwendolyn ihm mit ihrer schönsten Honigstimme einen Apfel, wenn er ihren Brief zum Hause der Veltenbruchs in Löwenstein bringt. Sie hat den spindeldürren Knaben in der Tasche, das merkt sie an seinen glänzenden Augen. Gwendolyn bleibt am Fenster sitzen und harrt der Dinge, die da kommen. Der Himmel ist blau, die Vögel zwitschern und der meisterhafte Plan hatte wohl doch einen kleinen Schönheitsfehler..
Damian Pereste - der Sekretär des hohen Hauses

Mit den Schmerzen kamen die Zweifel.
Als er sich auf dem Lager wälzte, ja quälte und zuweilen Tränen in den rauen Stoff seines Kissens nässte war aus dem selbstsicheren, jungen Mann ein Anblick des Elends geworden. Das feine Gesicht, das stets Würde und Alter trug und nur wenig von den wirklichen Gedanken und Jahren des Sekretärs offen gab, war zur leidenden Mimik eines Kindes verschoben, dass Schmerzen und Verlust in die Welt hinaustrug.

Wenige hatten ihn so je gesehen und der Wirt des Gasthauses musterte seinen Gast mal besorgt, mal zufrieden. Durchschritt Damian den Wirtsraum sonst stets aufrecht und wie ein Mitglied des Bürgertums, wirkte er dieser Tage mehr wie der junge Freie, der er war und aus der gehobenen Sprache waren knappe, fordernde Worte geworden, wenn er Wasser und Brot abverlangte.

Unerträgliche Kopfschmerzen, Übelkeit, die Scheu vor Licht und Zittern in allen Gliedern erschütterte Physis und was noch schlimmer war seine Psyche. Denn mit dem Leiden, das alle Monate Besitz von Damian ergriff, folgten stets Erinnerungen, welche die unklaren Gedanken ablösten und ihn eigentlich weit mehr quälten, als alles Körperliche dieses Erbes seiner Mutter.

"Du bist zu jung, mein Sohn. Mäßige dich und tritt nicht mit Worten auf, denen du keine Taten folgen lassen kannst." "Bedenke dein Alter junger Schüler und gewöhne dir diesen Ton ab." "Ein Freier Herr Pereste... ihr seid nur ein Freier."

23 Jahre würde er diesen Monat werden und doch hatte er bereits einiges erreicht. Seine Ausbildung bei des Vaters Bruder hatte er gründlich abgeschlossen, seine Worte und Schriften waren geordnet und sprachen von Bildung und eine gewisse Achtung wurde ihm dort zuteil, wo er sich dem Wirken verschrieben hatte. Er diente mit Hochachtung doch eben auch mit großem Stolz einem Haus, an dem er viel zu kritisieren wusste. Nur selten verbat er sich selbst offene Worte der Mahnung, gar der Lehre und das obwohl er doch selbst noch im Alter eines Schülers war.

"Absurd Damian... all dies ist so absurd. Du der stets klar und humorlos, siehst du es denn nicht?" Er sah es dieser Tage, in den Zeiten der Schwächen. Wie oft mögen es wohl die anderen sehen?

Wenn er wie ein Gelehrter seine Lederkladde trug und mit ihr und hohen Worten seine wahre Emotion verbarg. Die Unsicherheit, die Angst, doch auch Begeisterung und Liebe. Auch Hass und flammende Euphorie waren ihm nicht fremd, doch nichts trat aus dem Kopf hinaus, das nicht wohl überlegt, zuweilen überlegen wirkte. Doch die Krankheit war der Bruch in der wohlgeformten Hülle.

"Ihr seht nicht gut aus, junger Mann. Soll ich einen Heiler rufen... oder eure Eltern?"

Jene waren tot und Damian war kein Mann, der sich nach Familie und Fürsorge sehnte. Doch nun lag er auf dem Bett und entsinnte sich an die kühlende Hand seiner Mutter, später der Magd, die sein Vater ehelichte. An das abgedunkelte große Zimmer im Haus der Perestes und später die Stube des Meisters, der ihn bei dieser Erkrankung ins eigene Bett legte und tagelang mit Tränken und wohltuenden Worten pflegte.

Dies alles fehlte, weil er stets wirkliche Hilfe ablehnte. Er war es der helfen wollte und diente und es läge ihn fern Fräulein Gwendolyn nach einem Trank oder Herrin Theresia nach einem kühlenden Umschlag zu fragen.

So zog sich dies alles unter dem Schatten der eigenen Erhabenheit. Er gewann seine Kraft nur langsam wieder, doch der eigentliche Damian entschwand wieder mit seiner Jugend und seinen Gefühlen und das Gesicht verlor die Spannung um die Seelenruhe nach außen zu tragen, die er eigentlich nie sein Eigen nennen durfte.

Als nach einigen Wochen der junge Mann gut gekleidet, aufrecht und mit kühler Miene die Treppen in den Schankraum stieg, konnte der Wirt nur den Kopf schütteln. Er erhielt einige Münzen der Bewirtung wegen und wie er sich denken konnte der Verschwiegenheit. Denn nur wenige konnten Damian gebrochen sehen und er war der erste, der Sorge trug, dass dies so blieb.

Ein treuer Diener durfte nicht leiden oder privaten Gefühlen nachgehen. Das war seine Politik, so sehr er sie manchmal selbst verabscheute.
Freiheit
Welf

Es war stockdunkel und Welf war hellwach. Er lag auf seiner Strohmatte und starrte in die Dunkelheit, dorthin, wo sich irgendwo die Balken der Decke des Schlafsaales befanden. In seinem Kopf summte noch immer die monotone Stimme des Erzpriesters, der die immer gleichen Phrasen des Nachtgebets herunterleierte und im Gegensatz zur Wirklichkeit, schien er in seiner Einbildung nie zu einem Ende zu kommen: Auf verwirrende Weise wiederholten sich die Worte und verschwammen gleichzeitig zu einem dialektischen Brei, der jede Bemühung, einen klaren Gedanken zu fassen, zu einer schieren Unmöglichkeit machte.

Dein sind wir mit Haut und Haar auf alle Zeit…Mithras, Licht der Welt…Im Angesicht der Finsternis rufen wir Dich an…Dein Feuer erfülle uns…Die Schönheit und Stärke Deiner Ordnung…unsere Herzen quellen und überschäumen…kein Abgrund zu tief…die Schatten aus den Seelen der Menschen…Dein Feuer erfülle uns…Dein Feuer erfülle uns! DEIN FEUER ERFÜLLE UNS! DEIN SIND WIR MIT HAUT UND HAAR AUF ALLE ZEIT, IN EWIGKEIT!

Gequält raufte er sich die Haare. Verkrampft bog er den Rücken durch und sank dann wieder auf das zerwühlte Laken. Kurz lag er still und atmete tief durch. Das selige Schnarchen der Mitbrüder bewies ihm, dass niemand von seiner Unruhe erwacht war. Ganz allmählich schaffte er es, sich wieder etwas zu beruhigen. Er ließ seine Gedanken in die Vergangenheit wandern, um sich abzulenken und um nicht mehr an sein jetziges Leben denken zu müssen.

Welf erwachte und die Sonne schien ihm warm auf den Bauch. Schläfrig sah er sich um und konnte nicht recht erkennen, was ihn geweckt hatte. Dann sah er Ferdinand, den Lehrling der Stellmacherei von Welfs Vater und ein entfernter Vetter von ihm selbst, der rufend über den Hof gerannt kam. Welf, der gerade auf der Bank vor dem Haus herumlümmelte, betrachtete den aufgebrachten Jungen entgeistert. Das normalerweise rotwangige Gesicht war erstaunlich blass und die Augen schreckengeweitet. Welf stand augenblicklich auf.
„Wo ist Tante Kataris?“, fragte Ferdinand mit zittriger Stimme.
„Hinten im Garten.“, antwortete Welf verwirrt. „Was ist denn los?“
Sein Vetter starrte ihn kurz an, sein Gesicht unverändert erschrocken und rannte dann einfach in Richtung des Gemüsegartens davon. Welf rannte hinterher. Ferdinand flitzte gerade durch den Durchlass in der Gartenmauer und hatte Mutter offenbar erblickt, denn er rief: „Tante Kataris! Komm schnell in die Werkstatt!“
Welf bog um die Mauer und sah seine Mutter eiligen Schrittes auf ihn zukommen, Ferdinand im Schlepptau.
„Was ist denn passiert?“, wollte sie wissen. Ein besorgter Unterton schwang in ihrer Stimme mit. Ferdinand hatte sie ebenso beunruhigt wie ihn. Als sie auf den Hof hinaustraten, erklangen Rufe aus der gegenüberliegenden Werkstatt. Mutter begann zu laufen und die Jungen eilten hinterher. Sie traten durch das breite Tor, das zur Hälfte aufgeschoben war. Im Inneren war es etwas dunkler. Durch Fenster in der gegenüberliegenden Holzwand fielen breite Balken aus hellem Licht auf den gestampften Lehmboden, in denen Milliarden von Staubflöckchen wirbelten. Auch am Schnaufen merkte Welf, dass ungewöhnlich viel Staub in der Luft lag. Die beiden Gesellen und der zweite Lehrling, allesamt Verwandte, versuchten gerade eine Art Plattform vom Boden aufzuheben. Mutter stieß einen kurzen entsetzten Schrei aus und eilte zu den Männern. Die Plattform sah irgendwie kaputt aus und dann ging Welf erst auf, dass es sich gar nicht um eine Plattform handelte. Er schaute nach oben. Die hölzerne Decke, die auf dieser Seite der Werkstatt direkt unter dem Dachstuhl eingezogen war, war heruntergebrochen. Rechterhand lagen allerlei verschiedene Hölzer durcheinander. Balken, Leisten und Schäfte, Achsen und Speichen, die auf dem offenen Dachboden dort oben gelagert wurden. Es musste ein gewaltiger Krach gewesen sein, als das alles heruntergepoltert war. Deswegen war er also gerade aufgewacht! Den beiden Gesellen gelang es nun allmählich, den Plankenboden hochzuheben.
„Schick die Jungen raus!“, bellte Heinrich, der ältere der beiden, vor Anstrengung Mutter an. Die Worte schienen ihre schlimmsten Befürchtungen nur zu bestätigen. Sie war unfähig, irgendetwas zu tun und stand einfach nur da und starrte auf den herabgestürzten Dachboden. Welf fasste sich ein Herz und trat an die Balken, um den Gesellen zu helfen. Ferdinand tat es ihm nach. Mit geeinten Kräften hoben sie den Dachboden an und hievten ihn ein paar Schritt zur Seite. Dort wo gerade noch die zusammengezimmerten Planken gelegen hatten, lag Welfs Vater flach auf dem Boden. Sein Blick vernebelte sich seltsam. Mutters verzweifelter Schrei drang dumpf zu ihm durch, wie als wären seine Ohren mit Watte verstopft. Er fühlte sich ungewöhnlich schwach und stützte die Hand auf einen heruntergefallenen Balken. Vaters Hinterkopf war seltsam eingedellt und sein rechter Fuß stand in einem grotesken Winkel ab. Sein Gesicht, das zur Hälfte in dem harten Lehmboden vergraben war, lag in einer Lache von Blut, dass von der trockenen, staubigen Erde nicht aufgesaugt wurde, einzelne Tropfen perlten, wie wenn man Wasser auf bestimmte Blätter goss. Welf knickten die Knie ein und er plumpste auf den Hintern. Er blieb einfach sitzen. Als er etwas Feuchtes auf seinen Arm tropfen spürte, wurde er gewahr, dass es Tränen waren, die ihm die Sicht vernebelten. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Heinrich das Sonnenzeichen machte. Mutters Schluchzen drang wie aus weiter Ferne zu ihm.

Drei Tage später war Holger Veltenbruch bereits unter der Erde und Welf saß am Tisch in der Stube des Wohnhauses. Gegenüber von ihm saß ein älterer Mann mit graumelierten Haaren und einer roten Robe und hatte die Hände, die vor ihm auf dem Tisch lagen, gefaltet. Mutter saß ebenfalls am Tisch und schaute mit verschlossener Miene starr aus dem Fenster. Der Priester sprach schon eine ganze Weile, aber Welf hörte ihm nicht so recht zu. Mutter hatte ihm tags zuvor bereits erklärt, wie seine Zukunft aussehen würde. Vater hatte ihr seinen Wunsch anvertraut, dass sein ältester Sohn, der bisher noch keine Anstalten gemacht hatte, sich für irgendeinen Beruf zu begeistern, Novize im Mithrastempel werden sollte. Welf war entsetzt. Zwar war sein Vater Stellmachermeister des Familienbetriebs, doch an Nachwuchs in diesem Gewerbe mangelte es durchaus nicht. So hatte er Anderes ausprobiert: Das Herstellen von Mixturen und Tränke, wie es die Gelehrten machten - aber da fehlte ihm das Interesse und die Geduld, sich Stundenlang in eine muffiges Kämmerlein zu sitzen. Die Arbeit als Schmied, aber er konnte diesem Spiel mit den Elementen nichts abgewinnen und seines kleinen Bruders Begeisterung für geschmiedete Waffen teilte er ebenso wenig. Das Schneidern empfand er als Frauenarbeit und außerdem war er dabei recht ungeschickt. Und mit Tieren umzugehen lag ihm zwar schon, jedoch war ihm diese Arbeit immer zu hart gewesen… Ihm war wohl bewusst, dass die Verwandten ihn nicht zu Unrecht als faul abstempelten. Aber so war er nun eben. Sein Vater hatte das genauso erkannt und es offensichtlich für das Beste gehalten, ihn in den Dienst Mithras zu verweisen. Welf hielt es für das denkbar Schlechteste.
Vor ihm saß nun dieser alte, langweilige Mann und sprach über Regeln und Pflichten des priesterlichen Lebens sowie die Erfüllung und Zufriedenheit, die der Dienst an Mithras, dem Herrn, geben konnte. Der Priester hieß Vater Rodewin und war ein Freund von Welfs Vater gewesen. Er war gekommen, um Welf nach Guldenach zu bringen, wo er Novize im Mithrastempel werden würde. Aber was konnte er schon dagegen tun? Dies war praktisch Vaters letzter Wunsch an ihn. Diesem nicht nachzukommen käme einem Verrat an dessen Seele gleich, und er liebte seinen Vater. Welf hatte nicht einmal ein Bündel packen müssen. Seinen gesamten weltlichen Besitz ließ er zurück. Von morgen an würde er nur mehr schlichte Wollroben tragen und beten und arbeiten von früh bis spät.

Das war nun schon über drei Jahre her, und doch war seine Erinnerung noch so klar, wie als wäre es gestern gewesen. Sein Leben hatte sich binnen weniger Tage vollständig verändert. Wenn seine Tage zuvor in gelegentlicher Arbeit, versüßt durch lange Stunden des Müßiggangs bestanden, in denen er in der Schenke ein Bier mitgehen ließ oder die Mädchen ärgerte, ganz besonders seine kleine Schwester Gwendolyn, so hieß es nun viermal am Tag gemeinsames Gebet im Tempel, selbst mitten in der Nacht! Feldarbeit und meist langweiliger Theologieunterricht füllten die langen Stunden zwischen langweiligen Gebeten und so man nicht gehorchte, hatten die Priester sogleich harte Strafen bei der Hand.
In der heiligen Gemeinde lernte er zusammen mit den anderen Novizen das tägliche Beten und Arbeiten, die Auslegung und das Studium religiöser Schriften und das Predigen. In der strengen Gemeinschaft waren Enthaltsamkeit, Gehorsam und Frömmigkeit oberstes Gebot und besonders mit Ersterem und Zweiterem hatte Welf gewisse Schwierigkeiten. Immer häufiger war er in der Nacht nach schweren Träumen ruhelos aufgewacht, besonders wenn er am Tag zuvor auf den nahen Feldern gearbeitet hatte und verstohlen die lachenden Bauerntöchter beim Heubündeln auf dem Nachbarfeld beobachtet hatte. Oder er dachte an die Mädchen zuhause, malte sich in Gedanken aus, wie sie mittlerweile zu jungen Frauen herangewachsen waren. Und als er nun so da lag, im Dunkeln wachend, musste er sich wieder einmal eingestehen, dass er selbst nach drei Jahren im Noviziat noch immer Heimweh hatte. Oder vielleicht einfach Sehnsucht nach der Welt außerhalb des Tempels, von der er nur sein Zuhause kannte. Die meisten der Novizen hatten dieses Leben aus freien Stücken gewählt, aber er nicht. Und die meisten von ihnen, die mit ihm ins Noviziat eingetreten waren, waren längst geweihte Priester.

Dieses Mal hatte es jedoch andere Gründe, dass er wach lag in dieser Nacht und ein weiteres Mal über die letzten Jahre nachdachte, und darüber, wie es weitergehen würde. Heute Vormittag war ein junger Novize schnellen Schrittes an ihn herangetreten, während er gerade in die Lektüre eines alten Folianten vertieft war. Es handelte sich um die „Flora und Fauna Amhrans“, eines der wenigen Bücher im Besitz des Tempels, das ihn interessierte. Den tiefschürfenden Disputen über Mithras‘ Ordnung oder die Abhandlungen über den Sinn der unvollkommnen Gerechtigkeit in der Welt, welche sich regalweiße in der Bibliothek reihten, langweilten ihn zu Tode. Doch dies hier hatte etwas mit der Welt außerhalb der Tempelmauern zu tun…
Er schreckte hoch, als der Novize das Wort an ihn wandte.
„Bruder Welf, es ist ein Brief für dich abgegeben worden.“
Welf schaute zu dem jungen Burschen auf, der mindestens zwei Jahre jünger wie er selbst war. Mit einem freundlichen Gesicht, das zugleich Aufregung als auch Neugierde zeigte, hielt er Welf einen schlichten Brief hin. Persönliche Briefe an Angehörige des Tempels waren sehr selten, besonders, wenn es sich nur um Novizen handelte. Dankend nahm er den Umschlag entgegen und betrachtete ihn kurz, während sich seitlich an das Lesepult lehnte. Drauf stand lediglich sein Name. Der Brief war durch ein schlichtes Wachssiegel verschlossen, dass Welf sogleich aufbrach. Zum Vorschein kam ein Schreiben mit sauberem Schriftbild. Er zögerte kurz, bevor er es herausnahm und schenkte dem Novizen, der immer noch neugierig neben ihm stand, einen unwirschen Blick. Enttäuscht wandte sich dieser ab und verließ den Garten wieder. Welf zog gespannt das Blatt heraus und begann zu lesen.

Langsam schaffte Welf es, sich zu beruhigen. Er hatte Angst. Angst vor dem, was bevorstand. Und doch hatte er seinen Entschluss bereist gefasst. In dem Brief hatten ihm Theresia und Kaspar von ihren Plänen geschrieben, ihren Plänen, Silendir zu verlassen und ihr Glück in Löwenstein zu versuchen, der prächtigen Königsstadt im fernen Servano. Sie planten, sich von dem Rest der Verwandtschaft loszusagen und dem Namen Veltenbruch einen neuen Glanz zu geben, fern von der alten Heimat. Damit brachen sie mit den strikten Prinzipien der Sippe, lehnten sich regelrecht auf. Es war die Chance für Welf, es ihnen gleich zu tun.
Welf war in Kindheitstagen sehr oft auf dem Hof von Kaspars und Theresias Vater gewesen und vor allem Theresia war ihm eher wie eine große Schwester, denn eine einfache Verwandte. Sie würden jede Unterstützung brauchen, um an einem neuen Ort, in einer neuen Stadt Fuß zu fassen. Und er wollte dazu seinen Teil beitragen. Langsam richtete er sich auf der Schlafmatte auf. Er sah sich im Dunkeln um und versuchte die allzu vertraute Umgebung des Schlafsaals zu erkennen. Kein Licht drang durch die kleinen Fenster in der Steinwand herein, es war eine mondlose Nacht. Außer dem Schnarchen der Mitbrüder war nichts zu hören. Leise stemmte er sich von der Matte hoch und leise schlüpfte er in seine abgetragene Wollrobe…