Ganz und gar
#10
Sie hatte nur eine kleine Runde gehen wollen. Bis zur Ecke und zurück. Meistens half so etwas gegen das nagende Gefühl der Stille. Nicht, dass es wirklich still gewesen wäre - man unterhielt sich in der Küche ebenso wie im Nordhaus, und sogar auf der Straße stand ein ganzes Grüppchen von Leuten. Nein, die Stille war viel mehr in ihrem eigenen Mund, in ihrem Kopf, überall in ihr bis hin zu den Fingerspitzen.
Die Stille hatte sich ganz urplötzlich angeschlichen, als Gwen die beiden Söhne Godwins angesehen hatte, wie sie sich lachend auf die Schulter klopften und über das gemeinsame Wiedersehen freuten. Sicher würde Gerwulf später noch von seinen Reisen erzählen. Gwendolin hätte ihn zumindest gern danach gefragt gehabt, aber ihre Aufgabe hatte sich darauf belaufen, die Essensreste wegzubringen - das hatte man ihr deutlich klar gemacht.
Also brachte sie die Reste weg und wusch den Fett vom Teller, derweil sich in ihrem Mund plötzlich tausende ungesagte Worte tummelten. Sie hätte gern mit jemandem geredet, jemandem, der ihr keine Essensreste in die Hand drücken würde, nur waren weder Jakobine, noch Lisbeth oder Njal greifbar gewesen. Auf der Straße hatte sie zwar noch die bekannte, hochgewachsene Gestalt des Sonnenlegionärs gesehen, doch der war von einer ganzen Menschentraube umgeben.

Darum wollte sie eine Runde gehen. Weg von den erleuchteten Fenstern und dem Gelächter und den zahllosen fremden Gesprächen, die ihre eigene dräuende Stille nur umso ohrenbetäubender erscheinen ließen. Eine kleine Runde - bis zur Ecke und zurück. Daran erinnerte sie sich noch.



Daran, wie sie in die Lagerhütte im Armenviertel kam, allerdings nicht mehr. Es war spät, viel, viel zu spät - die nächtliche Stadt längst verstummt, zumindest für löwensteiner Verhältnisse. Ihre Schuhe waren feucht und recht dreckig, als wäre sie durch etliche Pfützen gelaufen, die Türe stand halb offen. Das hatte Gwen im ersten Moment der Klarheit die meiste Angst gemacht, die offene Türe. Schließlich hatte man ihr oft genug eingetrichtert, was im Armenviertel passieren konnte. Njal hatte sie sogar gewarnt, und wenn sonst nichts viel Wert war, so wog sein Wort umso schwerer.
Die überhasteten Schritte, welche sie von der Türe trennten, kamen ihr wie eine halbe Ewigkeit vor - doch dann hatte sie endlich die Klinke in der Hand, knallte die Tür zu, schob mit zitternden Fingern den Riegel vor und lehnte sich schwer mit dem Rücken an das Holz. Wieder Stille...hier zumindest weitaus erträglicher als Zuhause.

Als sich der wilde Herzschlag endlich beruhigt hatte, schlich sie zwischen den Fässern hindurch zum Tisch in der hinteren Ecke. Irgendwer hatte hinter dem Tisch noch Felle ausgelegt gehabt, aber nach Schlafen war ihr nicht...nicht hier. Sie sehnte sich wieder nach Hause, das eigentlich gar nicht so weit weg war, nach ihrem Schlafplatz in der Küche, von dem aus sie immer, wenn ein Albtraum sie wachrüttelte, den Leibeigenen im Vorraum sehen konnte, wie er in einem seiner Bücher las oder irgendetwas kritzelte.
Sie kannte diesen Anblick seit Kindheitstagen, und es gab kaum etwas, was die junge Frau beruhigender fand als das kratzende Geräusch des über Papier wandernden Kohlestiftes oder das Rascheln trockener Seiten. Natürlich nicht irgendein Kratzen oder Rascheln - es mussten diese Speziellen sein, von einem eigenen Rhytmus getragen, dem Gleichen, den sie seit Jahren Nacht für Nacht hörte. Wenn die Seiten schneller, ruckartiger gewandt wurden, langweilte er sich, und wenn das Kratzen des Stiftes leiser geriet, verriet die Hand so die Unsicherheit eines Gedankens. Das Geräusch einer Handfläche, die über trockenes Pergament strich...irgendetwas vom Gelesenen war besonders interessant, ein Klopfen des Kohlestängels auf den Boden deutete auf seichten Ärger. Es gab noch mehr solcher Anzeichen, und sie kannte alle auswendig; wo andere nach Schlafliedern verlangten, war Gwendolin von klein auf von Stift und Papier in den Schlaf gewogen worden.

Hier jedoch würden nur wogende Dunkelheit und einschnürende, lähmende Angst auf sie warten, sollte sie aus einem Traum hochschrecken, und damit kam Schlaf einfach nicht in Frage. Die dürren Finger des Mädchens wanderten wie von selbst zum Beutel an ihrer Hüfte, ehe mit leisem Klappern ein Häuflein Plättchen, die im schwachen, durch das Fenster dringenden Mondlicht die fahle Farbe von Maden trugen, auf die Tischplatte schüttete.
Aus irgendeinem absurden Grund waren die Dinger beinah so beruhigend, wie die Arbeitsgeräusche von Njal.
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Ganz und gar - von Gwendolin Grünthal - 11.05.2013, 19:39
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RE: Ganz und gar! Oder doch lieber blutig? - von Galaria Ganter - 10.06.2013, 15:35
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