Ganz und gar
#9
Den halben Tag hatte sie sich bereits von allen anderen ferngehalten, jedwedes Gespräch welches mehr Einsatz als ein vages Nicken, ein stummes schütteln des Kopfes oder ein halbherziges zucken der Schultern verlangt hätte gemieden. Ihr sonst so klarer Blick wie von düsteren, regnerischen Wolken überschattet in ein ungewohnt dunkles grau getaucht. Grau. War das nicht ohnehin die vorherrschende Farbe ihres Lebens?

Bei Ankunft ihrer Familie in Löwenstein dachte sie, alles könne besser werden. Klaglos hatte sie den nagenden Hunger, den Gestank und den unerträglichen Lärm dieser verpesteten und überquellenden Stadt ertragen, in der Hoffnung, dass die Strukturen ihrer Welt, die Gitterstäbe ihres Vogelkäfigs sich weiten würden. Doch dies war ein Trugschluss. Nicht nur vermisste sie den rauen Wind Nortgards in ihrem Haar, die klare Luft dort, die kühlen doch gleichzeitig weichen Regentropfen der Stürme – nein, auch Löwenstein war ihr bereits zuwider, drohte sie zu ersticken.

Atmen. Sie musste Atmen.

Es fiel ihr schwer, dieses Gefühl zu fassen. Je mehr sie darüber nachdachte, desto mehr schien es ihr zu entgleiten, zwischen ihren Fingern wieder zu zerfließen, nur um sich auf der anderen Seite des Raumes neu zu manifestieren um sie abermals spöttisch anzulocken. Vielleicht war es nicht nur ein Gefühl, sondern ganz viele? Vielleicht waren es unterschiedliche Abstufungen einer Emotion, verschiedenste Variationen von Traurigkeit?

Was sie jedoch fassen konnte, war die Erkenntnis. Auch wenn man genaugenommen zugeben musste, dass diese ihr eher ins Gesicht schlug, als sich wirklich ergreifen zu lassen. Sicher – im Grunde hatte sie ihr Leben lang gewusst, wie es laufen würde. Ihr kleiner, steiniger Bergpfad war von Beginn an vorgezeichnet – jeder Kiesel von Onkel Godwin oder ihrem Vater genau platziert, jedes Abstreifen vom Weg durch Sanktionen geahndet. Sie hatte immer gedacht, dass es ihr am meisten Freiheit verschaffen würde, wenn sie demonstrativ auf diesem Pfad bliebe. Wenn sie Onkel Godwin die Steine abnahm und sie unter seiner Anleitung selbst niederlegte. Dabei musste sie wohl übersehen haben, dass ihr erhofftes Mitbestimmungsrecht irgendwo auf dem Wege mit vergraben wurde. Vermutlich auch nicht unter einem kleinen Kiesel. Eher unter einem der Findlinge in Nortgard.

Tod durch Ersticken? Nein, das geht nicht.
Weshalb?
Es dauert zu lange. Es ist qualvoll, doch man könnte überleben. Wähle eine Variante, die direkt zum Tod führt.

Sie hatte etwas Anderes gewählt.
Kurzfristig eigene Steine gelegt. Noch mehr dieser Steine in ihren Taschen versteckt – sie hie und da auf den Boden werfend wenn keiner hinsah.

Auch hier war es die Erkenntnis. Erkenntnis darüber, wer man ist. Erkenntnis darüber, was man ist. Erkenntnis darüber, was man sich wünscht und darüber, was man davon letztendlich bekommen wird. Erkenntnis darüber, welche Grenzen einem gesetzt werden. Doch welche Grenzen setzt man sich selbst?

Wieder fand sie sich vor der mittlerweile ausgetauschten Glasscheibe wieder, diese mit der Handinnenfläche berührend um deren glatte Kühle auf ihrer Haut zu spüren. Immer noch kaum ein klarer Gedanke. Immer noch wusste sie nicht, was sie nun am schlimmsten fand. Die Sehnsucht nach dem Duft der Heimat? Die Sehnsucht nach einem neuen Hauch von Freiheit? Die Sehnsucht nach einer, nein eigentlich nur seiner Berührung die ihr kaltes Herz erwärmen würde.

Immer hatte sie geglaubt, dass dieses Gefühl etwas Schönes wäre. Anstatt sich trauernd in dieser immerwährenden, sanften Melancholie zu suhlen, hatte sie sich lächelnd darin gesonnt. Doch was war Sehnsucht schon anderes, als eine weitere Abstufung von Traurigkeit? Eine weitere Schattierung von Grau, mal heller, mal dunkler? Was war ihre Sehnsucht ohne diese Hoffnungsschimmer, welche ihre goldenen Sonnenstrahlen ins trübe Grau warfen?

Und sie hatte die Tasche voller Steine, einer grauer als der andere.
Ganz, ganz viele Steine - und ein jeden würde sie sorgfältig platzieren.
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Ganz und gar - von Gwendolin Grünthal - 11.05.2013, 19:39
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RE: Ganz und gar! Oder doch lieber blutig? - von Galaria Ganter - 10.06.2013, 15:35
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RE: Ganz und gar - von Godwin Ganter - 05.08.2013, 15:19
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RE: Ganz und gar - von Galaria Ganter - 06.09.2013, 18:42
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