Ganz und gar
#8
Sie war nicht mehr unsichtbar.

Gwendolin verzog die Lippen und ließ die kleinen, über Zeit gelblich angelaufenen Knochenplättchen gegeneinander klacken. Sie konnte sich überhaupt nicht erklären, wie das hatte passieren können. Es war ihr nichts bewusst, was anders als früher sein sollte, und doch...plötzlich sah man sie. Plötzlich nahm Onkel Gawin sie auf seine Spaziergänge mit, plötzlich sorgte man sich darum, dass sie Etikette lernen könnte und bessere Kleidung bekäme, plötzlich sprach sogar Onkel Gaius mit ihr, der sie früher nicht mal gesehen hätte, wenn sie sich mit wedelnden Armen und kreischend vor ihn gestellt hätte.

Früher... Sicher, früher hätte sie sich darüber sogar gefreut. Es gab eine Zeit, in der sie jedem Blick, jedem an sie gerichteten Wort wie ein halb verhungertes Hündchen hinterhergehechelt war. Damals hatte sie sich ausgemalt, mit den anderen Mädchen zusammenzusitzen und Gästen vorgestellt zu werden, und irgendwann einen stolzen Ehemann zu bekommen, der sie mit "werte Gattin" ansprechen konnte (Die Ansprache war wichtig, alles andere hätte der Bedeutsamkeit dieser Vision nicht entsprochen). Damals hatte sie Njal nicht geglaubt, wenn er auf solcherlei Tagträumereien nur erwiderte, dass sie es am Ende besser hatte. Damals waren da nur Sehnsucht und leiser Neid auf die Anderen - die Einsicht war viel später gekommen.

Als hätte es den nach großer Stadt (und manchmal auch nach faulem Fisch oder Nachttopfinhalt) riechenden Wind Löwensteins gebraucht; Plötzlich sah die junge Frau was der Leibeigene ihr all die Jahre gepredigt, beruhigend zugeflüstert hatte. Es waren jetzt die Anderen, die eingesperrt schienen in ihren Rollen - und sie war so frei, wie es nur jemand sein konnte, für den man sich einfach nicht interessierte. Sie konnte Abends hinaus, sie konnte spazieren mit wem sie wollte, sie konnte im Bauernhof übernachten, im Morgennebel im Fluss baden, barfüßig auf heißem Sommerstein herumlaufen und noch andere, ganz andere Dinge anstellen, niemand sah hin. Die verhasste Unsichtbarkeit erwies sich mit einem Male als schlicht und ergreifend großartig, großartig genug, dass sich auch Schläge und Strafen leichter, viel leichter hinnehmen ließen. Schließlich hatte alles seinen Preis, das verstand Gwendolin gut.


Wieder klackten die hellen Plättchen gegeneinander. Es war eine lustige Sache: Wenn man je eines davon zwischen den Finger klemmte, konnte man wie mit übergroßen Nägeln damit herumklappern. Sie stellte sich einen Moment lang vor, wie es wäre, tatsächlich solche Fingernägel zu haben, und ließ die Plättchen schaudernd wieder ins Gras fallen. So lustig vielleicht auch wieder nicht.


Es gehörte nun wohl zur Ironie des Schicksals - welche sich Zeit ihres Lebens einen Spaß daraus zu machen schien, sich an Gwendolin heranzuschleichen und sie dann überraschend anzuspringen - dass man sie ausgerechnet jetzt, da sie sich beinah glücklich wähnte und die Wünsche der Vergangenheit fern schienen, plötzlich allenthalben bemerkte. Leider hieß das nicht nur, dass sie vielleicht Etikette würde lernen müssen, sondern vor allem, dass sich mit einem Male aber auch jeder berufen fühlte, sie verheiraten zu wollen. Die junge Frau konnte sich zwar nicht vorstellen, wen man für jemanden wie sie zu finden hoffte, aber allmählich schien sich nicht einmal Onkel Greimold sicher, sie vor diesen Plänen schützen zu können. Das war nicht gut. Überhaupt nicht gut, besonders da sie sich nicht sicher war, ob ihr Plan, einen möglichen Bräutigam im Falle des Falles mit Hühnerblut zu übergießen, tatsächlich funktionieren würde. Vielleicht würde sie am Ende härtere Geschütze aufahren und den Glücklichen kreischend mit Eiern bewerfen müssen. Wie Herr Graik es tat.

"Graik!"

Sie versuchte es probehalber, stellte jedoch enttäuscht fest, dass es aus ihrem Mund lange nicht so hysterisch klang wie aus dem des verrückten Bauers. Vielleicht ließ der sich auch mieten, zur Abschreckung? Sicher konnte man ihn in faulen Eiern bezahlen.


Die junge Frau seufzte und versuchte die Knochenplättchen zu einer kleinen Pyramide aufzustellen, was auf dem unebenen Grund der Wiese nicht allzu einfach war. Es war ein komisches Spielzeug - und wenn sie daran dachte, dass es immer noch Knochen waren, wenn auch von einem Rind, auch irgendwie gruselig. Dennoch fühlten sich die leise, fröhlich klackenden und klappernden Plättchen gut in den Fingern an, gaben ihnen Beschäftigung wenn Gwen nervös oder nachdenklich war.
Sie sollte sich noch bei Onkel Gawin bedanken...es war wirklich ein nettes Geschenk, wenngleich kaum verwunderlich: Ganz augenscheinlich waren ihm die Dinger einfach zu alt geworden. Seit bald 20 Jahren hatte er die Knochen gehabt, so hatte es gehießen, und das Alter sah man ihnen auch an. Der ehemals weiße Knochen war längst gelblich geworden, und zu den kleinen Strichzeichen auf ihrer Oberfläche hatten sich unzählige Kratzer dazugesellt. Hier und da war auch der Rand uneben geraten, bei einem Plättchen fehlte die obere Ecke sogar ganz.

Sie fuhr mit der Fingerkuppe über die leicht gezackte Stelle...sogar die Bruchstelle war alt. Die Zacken waren über Zeit gleich Flusssteinchen rund poliert worden, so dass der Bruch niemanden mehr in den Finger stechen konnte. Ein kurzer Gedanke wand sich aus dem Nebel zusammengewürfelter Erinnerungen, huschte gleich einer schreckhaften Ratte durch das Bewusstsein und verschwand so schnell, dass sie nicht mal mehr seinen Schweif zu fassen bekam. Gwendolin runzelte die Stirn etwas und packte die Plättchen wieder in ihren Beutel.

Zurück zu ihren Plänen mit Hühnerblut. Sie würde sich dringend mit Njal darüber beraten müssen.
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Ganz und gar - von Gwendolin Grünthal - 11.05.2013, 19:39
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RE: Ganz und gar! Oder doch lieber blutig? - von Galaria Ganter - 10.06.2013, 15:35
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