Ganz und gar
#6
"Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir so schrecklich leid."

Sie wusste nicht zu wievielten Male sie es sagte, die gleichen wenigen Worte. Anfangs stand sie, dann war sie vor ihm auf die Knie gefallen, immer wieder das Gleiche stammelnd - aber egal wie und wie oft sie sich entschuldigte oder um Verzeihung flehte, der Leibeigene starrte sie nur kühl an, ehe er sich wegdrehte und ging. Dann rannte sie hinter ihm her, rutschte auf nassem Pflaster aus, stand wieder auf und lief weiter bis er stehen blieb und es sich anhörte. Eine Weile...nur um doch weiterzugehen. Irgendwann verlor sie ihn, blieb allein auf nasser Straße zurück, vergeblich nach ihm rufend. Und jedes Mal war es bloß ihr Onkel der auftauchte.
Das bärtige Gesicht lächelte im Regen, und die Worte dröhnten laut genug, um das Prasseln von Regen und ihr eigenes Wimmern zu übertönen.


"Du hast nur mich."

Manchmal - Gwen hätte nicht sagen können, wie oft - riss sie das eigene Schreien aus dem Schlaf in die Dunkelheit der Küche zurück. Es waren diese Momente in denen der Schwarzhaarige tatsächlich da war, weder verschwunden noch wütend, und sie festhielt. Sie versuchte dann jedes Mal nicht wieder einzuschlafen; und fand sich doch bald um Vergebung flehend auf regennasser Straße wieder, immer aufs Neue, bis das erste trübe Licht des Tages den Träumen endgültig ein Ende setzte.


Die junge Frau hätte nicht genau sagen können, was sie am Tage machte: der ganze Morgen blieb in graue Beliebigkeit getaucht, an die sie sich kaum erinnern konnte. Eine Depesche war gekommen und hatte einen Feuerschweif hinterlassen, der bald verlöschte. Tante Georgia war da und drohte sie zu verheiraten, ohne dass sie sich hätte daran erinnern können, warum eigentlich. Herr Zobel war auch da und sie hatte kurzzeitig darüber nachgedacht, wie seine dumme Axt wohl mitten in seinem dummem Schädel aussehen würde. Auch dieser Gedanke ließ einen kleinen Feuerschweif zurück.
Darüber hinaus war sie sich jedoch nicht sicher, wer überhaupt im Hause war. Überall waren Geräusche von Leuten zu hören, Schritte und Stimmen, die jedoch stets aus anderen Räumen herüberhallten. Eine Weile lang versuchte sie, das Blut vom Boden aufzuwischen, bis es ihr nach etlicher Zeit gewahr wurde, dass sie mit ihrem Lappen im falschen Raum schrubbte. Als sie den richtigen Raum aufsuchen wollte, fand sie ihn aber nicht mehr.
Danach hatte sie sich eine Weile unter der Treppe versteckt und leise, ganz leise, damit es niemand sonst hörte, nach Njal gerufen. Zu leise wahrscheinlich, nachdem der Leibeigene nicht auftauchte.


Der Nachmittag war gut vorangeschritten, ehe irgendeines von den Gesichtern im Haus sie hinausscheuchte nach den Feldern und Tieren zu sehen. Gwendolin war recht froh dass eine Straße hinabführte, so dass sie sich nich verlief. Den Weg erkannte sie wieder - vorbei am kleinen Tor, an dem Abhang, an den Leichenfeuern...

Nein. Nein, die Leichenfeuer waren neu. Die umgegrabene Erde im Feld auch. Ebenso all die Männer die ihr von Leichen erzählten. Leichen in den Feldern...die Ernte war hin. Das musste man im Haus weitersagen, soweit kamen die sich überschlagenden Gedanken noch. Sie selbst würde nichts abbrennen dürfen. Sie hatte schon mal die Küche in Brand gesetzt, und damals hatte Onkel Godwin ihr verboten, je wieder eine Fackel in die Hand zu nehmen. Das wusste die junge Frau noch genau, er hatte sich sehr deutlich ausgedrückt gehabt. Und sehr laut. Ihr Rücken juckte bis heute wenn sie daran dachte. Aber wer hätte schließlich auch gedacht, dass Öl so brennen konnte? Es sah doch beinah wie Wasser aus. Das machte überhaupt keinen Sinn, heute noch viel weniger als an allen anderen Tagen. Heute machte überhaupt nicht sehr Vieles Sinn.

Sie blieb auf dem Rückweg bei dem hell leuchtenden Totenfeuer stehen, ließ sich den Nieselregen in den Nacken laufen und starrte in die Flammen hinein. Es mochte recht eklig riechen, aber das Licht vertrieb das graue Durcheinander des Tages. Zumindest für eine Weile.
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Ganz und gar - von Gwendolin Grünthal - 11.05.2013, 19:39
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Von Toten - von Gwendolin Grünthal - 21.05.2013, 18:23
Von Lebenden - von Gwendolin Grünthal - 27.05.2013, 17:01
RE: Ganz und gar! Oder doch lieber blutig? - von Galaria Ganter - 30.05.2013, 19:23
Schuld - von Gwendolin Grünthal - 04.06.2013, 17:07
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RE: Ganz und gar! Oder doch lieber blutig? - von Galaria Ganter - 10.06.2013, 15:35
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RE: Ganz und gar - von Galaria Ganter - 06.09.2013, 18:42
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