Ganz und gar
#3
Sie hatte es ihnen gesagt. Sie hatte es gesagt. Nur zugehört hatte niemand.

Der Tote hatte sie angestarrt. Die ganze Zeit über als sie auf dem Feld arbeitete. Beim Unkraut jäten, beim Wasser holen, beim Abzupfen von kleinen Käfern von den Blättern junger Pflänzchen - sie spürte den reglosen, starrenden Blick in ihrem Rücken. Manchmal kam Wind auf und rüttelte an der Leiche. Dann quitschte das Seil leise und es wirkte fast, als wolle der Mann von seinem Baum herabkommen. Gwen konnte nicht sagen wie oft sie deswegen vor Schreck das Wasser verschüttet hatte und neu laufen musste: Ihre Hände waren jedenfalls rot und und schmerzten, als sie endlich fertig war. Hernach war sie so schnell zurück in die Stadt geflüchtet, wie ihre Füße sie nur trugen, weg von dem schrecklichen toten Blick und dem Quietschen des Seiles, doch schien sie die Fratze der Leiche auch dort aus jedem Fenster heraus anzustarren. Nur Räuber, so hatte es das freundliche Fräulein vom Orden erzählt. Sie würden ihr nichts mehr tun können.

Gwen hatte es ihr gesagt. Und als Antwort eine Schale Beeren mit Sahne bekommen.

Die Angst vergaß sich irgendwann im Laufe des Tages, verging am geschäftigen Treiben im Hause Ganter und der Nervosität, welche die junge Frau befallen hatte, als Godwin sie mit in die Universität befahl.
Sie wusste bald nach dem Betreten des imposanten Gebäudes, dass ihre eigene Schnapsidee vom Vortage, sich womöglich in der hohen Lehranstalt umzuschauen, nichts weiter als eine Schnapsidee war. Sie passte so wenig zu den Anwesenden, wie Agneta die Kuh zu edlen Reitpferden (vor einigen Tagen hatte Gwen Agneta der Kuh kurzen Unterschlupf auf der Pferdekoppel gewährt, und trug sich noch mit einer recht lebendigen Erinnerung daran).
Ein Herr mit unglaublich gelegter Frisur und ebenso unglaublich rosigen Wangen war da, aus Silendir, so hieß es.
Eine blonde Frau aus der Jehann-Familie, die wahrscheinlich auch Gwendolins zahlreiche Onkel würde herumkommandieren können, wenn man sie nur in deren Nähe ließe.
Zu ihrem Erstaunen auch Herr Umbinor, der sich ganz und gar nicht als der Bösewicht mit Augenklappe und Hinkebein erwies, den sich die Fantasie des Mädchens bis dahin ausgemalt hatte.
Und noch eine ganze Menge anderer Leute, Lehrende und Lernende, allesamt voll mit klugen Fragen und zahllosen Worten dazu: Genug, dass sie bald den Faden verloren und hauptsächlich aus dem Fenster gestarrt hatte, bis eine Kopfnuss von Herrn - nein, Doktor - Loewi sie zurück in die Wirklichkeit brachte. Es war dennoch interessant gewesen, interessant, eine Universität zu sehen und all die klugen Menschen darin, die sie kaum noch an Leichen in den Bäumen denken ließen.

Sie war schließlich so beschwingt gewesen auf dem Nachhauseweg, dass sie den blutroten Unterton des Sonnenaufganges nicht mehr sah. Sie hätte wohl besser aufpassen müssen. Jemand anders hätte aufpassen müssen. Sie hatte es ihnen ja gesagt.

Es lief alles gut, plötzlich. Herr Greiffenwaldt, die neue Wache, wollte gern ihre Pferde sehen (nicht, dass Gwendolin sie jemals laut als "ihre Pferde" bezeichnet hätte - am Ende gehörte ihr gar nichts), und Gideon, der sich seit der Ankunft in Löwenstein so rar gemacht hatte, kam mit. Sie freute sich - über die Gesellschaft, über den Spaziergang, die Pferde und die Geschichten ihrer Begleiter, auch wenn ihr diese die Ohren glühen ließen. Wie stets also, wenn Gideon irgendwas erzählte. Sie freute sich sogar über die Ankündigung Greiffenwaldts, ihr mit der Koppel und auf dem Felde zu helfen, auch wenn sie beim besten Willen nicht verstand, warum er sich mit solch unmännlicher Drecksarbeit abgeben wollte. Vielleicht wollte er ja auch bloß eine Ausrede haben, nicht immer Wache stehen zu müssen. Natürlich hatte Gwen in diesem Falle nicht vor, ihn zu verpetzen. Niemand mochte Petzen.

Sie hatte es ihnen gesagt. Und sie redeten über Frauen und anrüchige Anekdoten.

Es ging alles so schnell, dass Gwen nicht hätte genau sagen können, wann die Schatten näher gekrochen waren. Mit einem Male waren Männer auf dem Weg. Sie hatte im ersten Moment noch gedacht, die Toten wären doch noch herabgekommen, und erkannte dann erst, dass es falsch war - und doch richtig. Diese hier lebten; Und trugen den Alpdruck des Todes doch so sichtbar mit sich, dass Gwendolin vor Angst hätte schreien können. Vielleicht hatte sie auch geschrieen, die junge Frau wusste es nicht mehr so genau. Das Wortgefecht voran geriet immer heftiger, die Welt drehte sich schneller und schneller, die Schatten heulten gierig auf, und als Gideon sie anwies, nicht hinzusehen, stürzte der Horizont um. Sie sah es nicht, aber es roch nach Blut, so durchdringend dass sie glaubte, den Geruch nie wieder aus der Nase zu kriegen.
Das Mädchen erinnerte sich kaum noch daran, was nach diesem Moment geschah. Jemand schriee, man zerrte sie voran, und sie selbst wusste in ihrer Not nicht anders, als nach Njal zu rufen. Immer und immer wieder - bis der Leibeigene plötzlich, tatsächlich da stand und sie festhielt. Sie hatte das Gesicht in seine Schulter gedrückt, bis nichts Anderes mehr zu sehen und zu hören war. Es war erst da, dass der Blutgeruch sie verließ und die Schatten verstummten.

Sie hatte es ihnen gesagt. Die Toten würden andere Tote anziehen. Sie hatte es gesagt. Nur zugehört hatte niemand.
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