Ganz und gar
#2
Manchmal waren die Tage gut. Sie fingen oft mit Sonnenschein an - wenn es auch lange kein sicheres Anzeichen war - und endeten mit einem lila Samthimmel. An solchen Tagen wurde kaum geschrieen, es gab keine Schläge, kein Gepetze und keine nennenswerten Strafen. Andere Tage jedoch verliefen ganz und gar nicht gut. Sie kündigten sich oftmals gar nicht an, nur schlug die Stimmung so plötzlich um, als wäre bei klarem Himmel ein dräuendes Gewitter aufgetaucht. Die Farben waren an solchen Tagen etwas kälter, und die letzten Sonnenstrahlen tauchten den Abend in ein bluttriefendes Rot. Früher hatten die guten Tage überwogen. Seit sie in Löwenstein waren jedoch ... seit dem sah sie den Bluthimmel am Abend viel häufiger als sonst.

Gwen hätte gern dem Umzug dafür die Schuld gegeben, und noch lieber Zobel, der gleich einem schwarzen Stachel aus dem Kreis der Angstellten ragte und mit jedem Schritt Unfrieden zu stiften schien. Nur stimmte das nicht - all der Streit der letzten Zeit war nur die Folge von etwas Anderem. Wovon, das hätte sie nicht zu sagen vermocht, aber sie fühlte es, fühlte es vom Schopfhaar bis in die Fußsspitzen hinein, fühlte es an einem Ziehen in den Fingerspitzen und am Druck um die Schläfen, fühlte es an den sich häufenden Alpträumen und den Schatten, die sich länger und frecher aus den Ecken herauswagten als je zuvor. Irgendetwas lag in der Luft. Irgendetwas, was noch nicht da war, aber ganz unweigerlich kommen würde: Und alles Unglück und Bosheit um sie herum waren nichts Anderes, als das nervöse Umherrasen von Vögeln vor einem Sturm.

Natürlich wollte sonst niemand etwas bemerkt haben. Und wenn doch, so sprach man es nicht aus. Sie jedenfalls hütete sich davor, irgendetwas zu sagen. Sowas würde ohnehin nur in schiefen Blicken oder einer Ohrfeige enden, je nachdem, wer es hörte. Genau wie damals, als ihr keiner das mit dem Gnom unter dem Anwesen in Nortgard glauben wollte.

Keiner ausser Njal, versteht sich, der das boshafte kleine Wesen schließlich vertrieben hatte. Er hatte sie zwar nicht zusehen lassen, aber das war auch besser so gewesen - sie hätte vor Angst sicherlich etwas Dummes gemacht gehabt. Dieses Mal jedoch fiel ihr nicht ein, was Njal tun könnte. Wie sollte man auch etwas abwehren, was gar nicht da war und weder Gestalt noch Gesicht hatte? Und so hatte sie bislang nicht einmal dem Leibeigenen etwas erzählt gehabt. Er war ohnehin ständig damit beschäftigt, sie aus Schwierigkeiten zu retten.
Wie ein Märchenprinz. Nur ohne Schwert. Und ohne Pferd. Und ohne glänzende Rüstung. Und ohne güldenes Haar, das dramatisch im Wind wehen konnte. Und auch darüber hinaus ohne jegliche Prinzenhaftigkeit. Aber sonst ganz genau so.
Dass er in letzter Zeit immer stärker den alten Göttern anhing, das gefiel ihr allerdings nicht recht. Man wusste nie, ob Mithras so etwas nicht strafen würde - von Onkel Godwin mal abgesehen. Und der neuerdings gruselige Onkel Gawin, der diese Entwicklung so sehr bestärkte, würde in keinem der Fälle ein guter Schutz sein.

Die junge Frau schürzte die Lippen unzufrieden und schloss das Koppeltor hinter sich. Nach den Aufregungen des vergangenen Tages war sie heute außergewöhnlich früh hinausgegangen. Ehrlicherweise war sie schlicht geflohen bevor es weiterging, aber das musste ja keiner wissen. Der gerade erst dämmernde Himmel war heute trübe, so dass sich die Stimmung der Sonne aber auch gar nicht abschätzen ließ, also wollte sie lieber Abstand halten.
Sie tätschelte im Vorübergehen den neugierig hervorgestreckten Kopf eines der jüngeren Hengste, ging um den Zaun herum, und ließ sich schließlich mit der Eleganz eines angeschossenen Huhns in taubedecktes Gras plumpsen. Gwen zog die Beine an, in der kühlen Nässe fröstelnd, legte die dürren Arme um jene und das Kinn auf den Knieen ab, vergrub die bloßen Zehen in der feuchten Erde, und starrte auf die halb im grauen Nebel verborgene Wiese am anderen Ufer. Sie war noch nie drüben gewesen, und malte sich früh morgens gern aus, was wohl auf der anderen Seite warten mochte - außer der offensichtlichen Wiese. Vielleicht wohnte hinter dem bald steil aufragenden Hügel ja ein Drache. Ein sehr leiser und schüchterner zwar wohl, aber immerhin... unmöglich war es nicht.

Heute allerdings wollte sich der Drache einfach nicht herbeifantasieren lassen; ihre Gedanken waren noch immer bei dem Gespräch am vorigen Abend. Die alten Götter... sie erinnerte sich nicht an viel über sie. Sicher, sie wusste Einiges - das Meiste dank Njal, und Einiges auch von Onkel Gawin - aber sie erinnerte sich kaum. Dabei waren sie früher da gewesen, das wusste sie noch. Damals, im Sumpf.

Sie erinnerte sich auch nicht an allzu Vieles über den Sumpf. Da waren einzelne, abgerissene Bilder, mehr Empfindungen als alles Anderes. Sie erinnertes ich an den Duft von sonnengewärmtem Moos und an das strahlende Blau von Vergissmeinnicht an trockeneren Plätzchen. Sie wusste noch wie die Bäume dort nach dem Regen gerochen hatten, und wie unangenehm es war, wenn einem kalte Tropfen von einem plötzlich schwankenden Ast in den Kragen hineinliefen. Da war auch der saure Geschmack von Moosbeeren, die erst mit Honig richtig genießbar wurden und im Sommer sämtliche Wiesen bedeckten, die gleich grünen Inseln aus dem Moor ragten. Es hatte natürlich auch Gefahren gegeben: Glühwürmchen durfte man nicht folgen, sie waren in Wirklichkeit Totenlichter, die einen ins Verderben führten, und man sollte niemals vom Pfade abweichen, wenn man den Weg nicht genau kannte.
Manchmal waren da auch Trommeln im Sumpf gewesen: Wenn Gwen die Augen schloss, sah sie sich an der hölzernen Türschwelle sitzen und jenen lauschen.
'Lauf ihnen nicht nach...es ist noch zu früh'. Irgendeine Stimme hatte das damals bei solchen Gelegenheiten gesagt gehabt. In ihrem Kopf klang sie warm und vertraut, aber das Mädchen hätte nicht mehr sagen können, wem sie gehörte, noch ein Gesicht zu der Stimme herzaubern.

Und dann, irgendwann, war die Dunkelheit gekommen und erst in Nortgard wieder zurückgewichen. Der Sumpf war fort, und mit ihm die alten Götter, die irgendwo dort zwischen Moosberen und flatternden Glühwürmchen geblieben waren. Vielleicht waren sie noch im Moor zu finden - vielleicht auch ganz verschwunden. Nach der Dunkelheit war da nur das gleißende Licht des Sonnengottes gewesen, und das ließ keinen Platz für grüne Schatten unter regennassen Bäumen. Sie schloss die Augen und seufzte... heute waren auf der anderen Flussseite Trommeln zu hören. Beinahe.
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Nachrichten in diesem Thema
Ganz und gar - von Gwendolin Grünthal - 11.05.2013, 19:39
Trommeln am Fluss - von Gwendolin Grünthal - 16.05.2013, 01:14
Von Toten - von Gwendolin Grünthal - 21.05.2013, 18:23
Von Lebenden - von Gwendolin Grünthal - 27.05.2013, 17:01
RE: Ganz und gar! Oder doch lieber blutig? - von Galaria Ganter - 30.05.2013, 19:23
Schuld - von Gwendolin Grünthal - 04.06.2013, 17:07
Sehen und gesehen werden - von Gwendolin Grünthal - 10.06.2013, 13:41
RE: Ganz und gar! Oder doch lieber blutig? - von Galaria Ganter - 10.06.2013, 15:35
Stille - von Gwendolin Grünthal - 15.06.2013, 20:04
Glühwürmchen - von Gwendolin Grünthal - 22.06.2013, 14:25
Mohn und Schmetterlinge - von Gwendolin Grünthal - 04.07.2013, 16:52
Von Kosten und Wert - von Gwendolin Grünthal - 12.07.2013, 16:23
Das ungeschriebene Wort - von Gwendolin Grünthal - 21.07.2013, 15:43
RE: Ganz und gar - von Guntram Ganter - 29.07.2013, 11:24
RE: Ganz und gar - von Godwin Ganter - 05.08.2013, 15:19
Vom Wesen der Schweine - von Gwendolin Grünthal - 07.08.2013, 15:48
Vor der Tür - von Gwendolin Grünthal - 15.08.2013, 19:35
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RE: Ganz und gar - von Galaria Ganter - 06.09.2013, 18:42
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Mabon - von Gwendolin Grünthal - 13.07.2014, 14:22



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