Ganz und gar
#1
Ganz und gar nutzlos - das war das erste Gefühl des heutigen Tages. Gwendolin war sich nicht sicher, ob es bloß ein Gefühl war oder ein Überbleibsel der nächtlichen Träume. Sie konnte sich nicht genau daran erinnern, womit die Dunkelheit ihren Schlaf gefüllt hatte, doch es blieb die dumpfe Ahnung lähmender Angst und Schuld. Wenigstens war sie davon nicht aufgewacht. Und das war mit Sicherheit gut; wäre sie wieder von einem Alptraum wach geworden, hätte das sicher auch Njal aus seinem wenigen Schlaf gerissen, und sie hätte sich den ganzen folgenden Tag über deswegen noch Vorwürfe gemacht. Doch nun, da kleine Schmetterlinge aus Licht in den ersten Sonnenstrahlen tanzten und ihr über die Nase kitzelten, wichen die Schatten rasch zurück - allein die nagende, wenngleich gewohnte Erkenntnis eigener Nutzlosigkeit blieb.
Die junge Frau seufzte leise, versuchte eines der geflügelten Sonnengeschöpfe mit den Fingerspitzen zu fassen, scheiterte wie stets daran, und stand schließlich auf. Es war noch still - nur oben, aus einem der Herrenzimmer, hörte man dumpf jemanden schnarchen. Sie schlich durch die Küchentüre in den Innenhof, wusch sich, Resten über den Boden schleichenden Nachtnebels ausweichend, und huschte dann auf die Straße hinaus.

Wenngleich das Haus Ganter noch schlief, so war Löwenstein doch bereits im Aufwachen begriffen. Gwen staunte auch nach all der Zeit noch darüber, wie riesig und geschäftig die Königsstadt sich präsentierte(sie war sich dummerweise nicht ganz sicher, wie lange sie mit der Familie schon in Löwenstein weilte, und hatte für sich beschlossen, dass es bestimmt mindestens schon ein Mondeslauf war). Sogar die auf dem Marktplatz aufgestapelten, in Leinen gewickelten Leichen wirkten irgendwie so beschäftigt, dass sie sich sicher war, würde sie herantreten und das Wort an eines der reglosen Bündel richten, jenes streng antworten würde, sie möge das Todesprozedere doch bitte nicht stören. Einen Moment lang hing sie dieser Vorstellung nach - genug, um beinah von einem vorbeidonnerden Karren überfahren zu werden.

"Pass auf Mädchen!"

Der heisere Ruf des das Gefährt lenkenden Bauern hallte noch in der Morgenluft, obgleich er schon vorbeigefahren war. Gwen nahm es sich als guten Vorsatz für die Zukunft vor, wandte sich um, stolperte über die eigenen Füße und fiel beinah vor die Räder des nächsten Karrens, der zum Marktplatz rollte. Sie drückte sich an die nächstbeste Hauswand und sah strafend zu ihren Schuhen hinab. Die junge Frau war sich recht sicher, dass Schuhe die Wurzel solchen Übels waren. Ihre letzten hatte sie erfolgreich in irgendeinem Teich versenkt gehabt, als sie in Servano einreisten - aber leider hatte ihr Gideon neue besorgt, und nun ging das Elend von Neuem los. Wer war bloß auf die verrückte Idee gekommen, Schuhe zu tragen? Wie sollte man denn sicher stehen, wenn die Füße vom Boden getrennt waren? Es machte keinen Sinn. Sicher, ohne Schuhe bekam man Schrammen und lief sich manchmal die Füße blutig, doch das wäre ihr immer noch lieber gewesen, und so hielt sie allein der drohende Ärger davon ab, auch dieses Paar irgendwo zu... "verlieren".

Gwen seufzte, zog sich Schuhwerk dennoch von den Füßen, behielt es aber sicher in der Hand. Das war zumindest eine zeitweilige Lösung des Dilemmas.
Mit dem kühlen, mal schartigen, mal glatten Straßenpflaster, das sich nun gegen die nackten Sohlen schmiegte, lief es sofort besser. Man konnte nun den Herzschlag der Straße spüren, und damit war es keine Frage mehr, wohin der nächste Schritt zu setzen war. Dem nächsten Holzwagen wich sie mit Leichtigkeit aus, drehte beinah eine Pirouette, und tänzelte dann weiter, sah dem Treiben auf den unter ersten Sonnenstrahlen aufblühenden Straßen zu.
Irgendwer schüttete aus einem offenen Fenster den Inhalt eines Putzeimers heraus und traf beinah eine frühe Brötchenverkäuferin, die sogleich zu keifen begann. Ein recht breites Weibsbild scheuchte schwerfällig ihren Nachwuchs voran, welcher da noch den Schlaf in den Augen stehen hatte und gegen Wände zu laufen drohte. Zwei Bauern lieferten sich ein Wortgefecht darüber, wer als erster seinen Wagen in eine enge Gasse lenken sollte, unterstützt von unablässigem Bellen eines Straßenhundes. Und so ging es weiter und weiter. Stadtwachen, Bürger, Tagelöhner und Bettler zogen durch die Stadt und füllten sie mit immer mehr Lärm und Leben. Sogar einer Hure begegnete sie - in Erinnerung daran, dass es sich von Huren fernzuhalten galt, hatte Gwen natürlich sogleich die Straßenseite gewechselt.

Als das Mädchen endlich das Stadttor passierte, musste es schließlich mit einiger Verwunderung feststellen, dass die Sonne schon ein gutes Stück hinaufgewandert war. Manchmal lief die Zeit auch einfach nicht wie sie sollte - damit konnte man sich nur abfinden. So hob sie auch heute nur die Schultern und eilte die staubige Straße hinab, die das Stadtpflaster ablöste. Die Pferde hatten sicherlich längst Hunger.
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Ganz und gar - von Gwendolin Grünthal - 11.05.2013, 19:39
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Von Toten - von Gwendolin Grünthal - 21.05.2013, 18:23
Von Lebenden - von Gwendolin Grünthal - 27.05.2013, 17:01
RE: Ganz und gar! Oder doch lieber blutig? - von Galaria Ganter - 30.05.2013, 19:23
Schuld - von Gwendolin Grünthal - 04.06.2013, 17:07
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RE: Ganz und gar! Oder doch lieber blutig? - von Galaria Ganter - 10.06.2013, 15:35
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RE: Ganz und gar - von Guntram Ganter - 29.07.2013, 11:24
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RE: Ganz und gar - von Galaria Ganter - 06.09.2013, 18:42
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