Ganz und gar
#22
Manchmal war es erstaunlich, wie unterschiedlich das sein konnte, was man gemeinhin unter dem Wort „Familie“ zusammenzufassen versuchte. Zwei alte Greise, die sich lange nichts mehr zu sagen hatten und von niemandem gebraucht wurden, waren ebenso eine Familie, wie der weise Patriarch im andächtigen Kreise seiner Kinder, Enkel und Urenkel. Ein glücklich strahlendes Ehepaar mit einer Schar lärmenden Nachwuchses waren eine Familie, und gleichsam konnte auch ein Geschwistergespann, das seine Eltern kaum kannte, das Gleiche von sich behaupten. Manche Familien hatten nicht viel mehr als ein paar ewig hungrige Mäuler und ein gemeinsames Dach über dem Kopf, andere erschlugen einen mit jahrhundertealten Genealogien und der schieren Zahl an Mitgliedern und Verwandtschaftsbeziehungen.

Was Gwendolin anging, so passte ihre Familie in eine kleine Zelle und war kompakt genug, sich mit ihr eine Decke zu teilen – wenn denn mal eine zur Verfügung stand. Sicherlich, würde man jemand Anderen fragen, wäre die Antwort ganz anders ausgefallen. Würde man jemanden fragen, so gehörte das Mädchen vielmehr zu einer jener Ansammlungen von Genealogien und wichtigen Personen, die aus einer Familie ein krakenartiges Gebilde zu formen vermochten, auch wenn Gwendolin selbst sich eher ganz am Boden jeglicher zugehörigen Hierarchien wiederfand.
So etwas nannte man eine Dynastie, und jede Dynastie die etwas auf sich hielt, schleppte schließlich ein paar kleine Schandflecke mit sich herum, die irgendwo am Bodensatz der allgemeinen Familiengeschichte existierten. Alles andere wäre auch ganz und gar verdächtig gewesen und hätte nach Leichen im Keller gerochen – manchmal im sprichwörtlichen Sinne.


Und obgleich eine solche Antwort auf die familiäre Einordnung der jungen Frau absolut korrekt gewesen wäre, erschien sie Gwendolin selbst völlig verkehrt. Ihre Kindheitserinnerungen hielten, von einigen vagen Bildern des Sumpfes einmal abgesehen, nicht viel von den üblichen Gegebenheiten wie Familienfestivitäten oder geschwisterliche Querelen bereit.
Sie erinnerte sich vielmehr an abgesperrte Türen, an die eigenen gellenden Schreie im Ohr, an Räume, die unter ihren Füßen verschwanden und Tage, die sie kaum von der Nacht hatte unterscheiden können. Irgendwo drumherum waren natürlich auch Menschen gewesen, Gesichter, die erst mit den Jahren an Konturen gewonnen hatten, und noch einmal Jahre gebraucht hatten, um auch Namen zu erhalten. Heute sprachen die Gesichter sogar – damals waren sie jedoch kaum mehr als wabbernder, manchmal furchteinflößender Hintergrund in einem ewigen verworrenen Fiebertraum gewesen.

Bis auf eine Ausnahme, natürlich – es musste immer irgendwo eine Ausnahme geben. An Njals Gesicht erinnerte sie sich auch von damals schon, und obgleich sich die Züge längst geschärft und die Gestalt gestreckt hatte, waren das vertraute Krähennest schwarzer Haare und die dunklen Augen darunter die Gleichen geblieben. Der Leibeigene war heute da, wie er damals da gewesen war: Und hier handelte es sich kaum um bloß körperliche Anwesenheit. Nein, er war da in vollstem Sinne dieses Wortes.
Er war da gewesen als sie mit kaum jemandem sprechen konnte, und hatte gewartet bis sie zumindest nicht mehr schrie. Er war da gewesen als sie sich einbildete, Würmer in ihrer Suppe zu haben, um den Teller so lange neu zu befüllen, bis sie tatsächlich aß. Er hatte sie an der Hand gehalten als sie erstmals in der Lage gewesen war, ihr Zimmer zu verlassen und sich davor gefürchtet hatte, von den ausgestreckten Fluren des alten Landsitzes aufgefressen zu werden.
Er hatte ihr beigebracht wie man Andere ansprach und wie man ohne sich Ohrfeigen einzufangen durch den Tag kam, wie man sich nützlich machte, später auch wie man las und schrieb und wie man mit ehrlichen Augen log (wenn auch Letzteres mit wechselndem Erfolg). Er war stets mit Hühnerbrühe und stinkenden Tees zur Stelle gewesen wenn sie krank war, oder mit einem Haufen an Verbandszeug wenn sie sich mal in den Finger piekste, und dann einfach nur da, wann immer sie von Albträumen gejagt aus dem Schlaf schreckte.

Am Ende hätte das Mädchen lange und hart nachgrübeln müssen um irgendetwas zu nennen, was ihr nicht von dem Leibeigenen beigebracht worden wäre, oder sich an irgendeine Gegebenheit zu erinnern, bei der er nicht da gewesen wäre um auf jeden ihrer Schritte aufzupassen.
Kurzum: Würde man Gwendolin fragen, wer ihre Familie war, wäre die Frage schnell mit einem einzigen Namen beantwortet gewesen.


Es war insofern kaum verwunderlich, dass ihre Familie in eine kleine Zelle passte und sich mit ihr eine Decke hätte teilen können – wenn denn eine zur Verfügung gestanden hätte.
Da nun aber keine da war, begnügte sich die junge Frau vollends damit, sich an den Schwarzschopf zu drücken und in das Halbdunkel der Kerkergänge zu starren. Manchmal döste sie auch ein, nur um alsbald hochzuschrecken, und doch nichts außer dem fahlen Schein weniger Fackeln und der hin und her gehenden Gestalt Garions im Gang zu erblicken. Keine Toten. Keine Geister. Nur der Sonnenlegionär vor der Zelle, Njals Atem auf dem eigenen Haar, und die langsam über aller Angst aufsteigende Entschlossenheit, dem toten Ding seinen toten Hals umdrehen zu wollen, sollte es noch einmal auftauchen.
Schließlich ging es um die Familie.
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Ganz und gar - von Gwendolin Grünthal - 11.05.2013, 19:39
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Von Lebenden - von Gwendolin Grünthal - 27.05.2013, 17:01
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RE: Ganz und gar! Oder doch lieber blutig? - von Galaria Ganter - 10.06.2013, 15:35
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RE: Ganz und gar - von Godwin Ganter - 05.08.2013, 15:19
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RE: Ganz und gar - von Galaria Ganter - 06.09.2013, 18:42
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