Ganz und gar
#21
Die feine Nadel schiebt sich durch den Stoff. Wird wieder hervorgezogen. Wieder hineingestochen. Die filigranen Fingerspitzen verkrampfen sich einen Deut um das noch viel filigranere Nädelchen. Ein zischendes Geräusch entweicht den Lippen der jungen Frau, deutliches Zeichen ihres aktuellen Unwillens. Mit einer sanften Bewegung streicht sie über den weichen, glatten Stoff des entstehenden Kleides, als wäre es ein kleines Häschen auf ihrem Arm. Doch auch diese Liebkosung ist nicht von allzu langer Dauer.
Sie wusste nicht, ob sie wütend oder traurig sein sollte. Wobei das nicht so ganz der Wahrheit entsprach, denn im Grunde war sie beides. Wütend und Traurig. Traurig und Wütend. Unklar war lediglich, welche Emotion dabei an erster Stelle kam. Aber so war das immer mit den Emotionen… damit kannte sie sich aus. Oder eben auch nicht.
Es war nicht so, als hätten sie einander nahe gestanden – aber dennoch hatte sie stets den Eindruck gehabt, dass man füreinander Sorgen würde. Dass man wenn auch nicht die gleichen, so doch ähnliche Probleme hatte, im selben goldenen Käfig saß. Möglicherweise war Gloria noch etwas behüteter… aber gleichzeitig auch mit mehr Freiheiten ausgestattet… gewesen. Es fiel ihr schwer es zu verstehen, obwohl sie im Grunde doch vollstes Verständnis hatte, als wäre sie selbst aufgebahrt. Irgendjemand war auf den kleinen Vogel getreten und hatte ihn zertrampelt. Hatte sein Gemüt so zerrüttet, dass er sich kopfüber aus dem Vogelnest geworfen hatte. Wie gerne hätte sie den kleinen Vogel in ihre Hände genommen und ihn zurück ins Nest gelegt,… Soviel zur Trauer.
Sie fühlte sich allein gelassen. Nicht, dass Gloria jemals eine Hilfe bei irgendwas gewesen wäre, aber… war nicht jede Schwester und jede Cousine in diesem dreckigen Loch eine wichtige Verbündete? War sie jetzt die einzige, die in keine der vorgefertigten Schablonen zu passen schien? Greta hatte sich immerhin ihre eigenen Regeln erarbeitet und diese sogar verhältnismäßig oft durchgesetzt, aber die selbst… schien in keine Nische zu passen. Zumindest bildete sie sich das ein. Die kleine Nadel arbeitete unkontrolliert weiter Löcher in den feinen Stoff, drauf und dran diesen damit zu ruinieren. Einfach so zu fliehen… war feige. Nicht, dass Galaria es selbst nicht oft genug in Erwägung gezogen hätte. Allzu oft in Erwägung ziehen würde. Im Grunde jeden Tag gegen diesen Impuls ankämpfen würde. Als hätte sie sich nicht bereits 100 verschiedene Möglichkeiten zu sterben und damit diesem Elend zu entfliehen ausgemalt, aber… nachgeben? Nein, das wünschte sie sich weder für sich selbst noch für Gloria. Mit einem entnervten Seufzen lässt sie die Nadel im mittlerweile wirklich ruinierten Stoff stecken um sich zu erheben. Vielleicht würde ihr ein wenig frische Luft gut tun, ehe es dunkel wurde.
Gideon konnte sagen was er wollte, doch sie würde niemals behaupten, sie wäre ermordet worden. Höchstens von sich selbst.

Und nun zur Wut…
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Ganz und gar - von Gwendolin Grünthal - 11.05.2013, 19:39
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RE: Ganz und gar! Oder doch lieber blutig? - von Galaria Ganter - 10.06.2013, 15:35
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RE: Ganz und gar - von Galaria Ganter - 06.09.2013, 18:42
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