Ganz und gar
#20
Wahrscheinlich war es eine dieser Situationen, bei denen man sich die Nase an einer Scheibe plattdrückte. Nein, sie war sich sogar ganz sicher dass es eine solche Situation war – nur hätte Gwendolin sich niemals getraut, ihre Nase an die glänzende Fläche zu drücken. Sie wusste recht genau, dass das anfassen fremden Fensterglases mit Fingern, Nasen, und anderen Körperteilen in schmierigen Abdrücken und Geschimpfe seitens etwaiger Ladenbesitzer endete. Manchmal hielten die Ladenbesitzer gar einen Besen in der Hand. Es war also alles in allem besser, schöne Dinge hinter Glas aus sicherer Entfernung zu betrachten.

Und das vor ihr war in jedem Falle ein besonders schönes Ding. Ein Kleid, besser gesagt. Es war aus himmelblauem Stoff gemacht, bei dessen Anblick sich Begriffe wie „Batist“ oder „Brokat“ aufdrängten. Das Mädchen war sich in beiden Fällen nicht sicher, welche Stoffe genau so bezeichnet wurden, aber es klang teuer, und das vor ihr sah nun einmal teuer aus. Sehr teuer, um genau zu sein. Und sehr elegant. Sie hatte keinen allzu gut entwickelten Sinn für Kleidung, aber dieses hier schrie „Eleganz“ ebenso deutlich wie seinen (nirgendwo ausgeschriebenen) Preis heraus.

Es war damit auch kein Kleid für jeden. Galaria...es war am ehesten etwas, was Galaria anziehen könnte, um endgültig wie eine Prinzessin auszusehen.
Greta konnte die junge Frau sich eher nicht darin vorstellen: Höchstens eine Greta, die die Rüschenärmel abschnitt, damit diese nicht allzu sehr störten. Wahrscheinlich würde sie jene auch noch auf eine Weise abschneiden, die ihr zustimmende Blicke und etliche Lacher einbrachte. Darin, die Lacher auf ihre Seite zu bringen, war Greta schließlich ebenso geübt wie Galaria im irgendwo Stehen und fabelhaft Aussehen.

Sich selbst...nun, sich selbst sah Gwendolin schließlich unter gar keinen Umständen in einem Stück wie diesem. Sicher, in ihrer kühnsten Vorstellung, da kam es manchmal vor dass sie solche Kleider trug. Und diese Kleider passten auch noch. In der Realität würde es wohl spätestens an diesem letzten Punkt scheitern, selbst wenn man sie aus irgendeinem wirren Grund in ein solches Prachtstück stecken sollte. Nicht, dass jemand verrückt genug dafür wäre.
Sie erinnerte sich noch gut daran, wie sie, noch drüben in Nortgard, einmal zu einem großen Familienfest zurechtgemacht wurde. Sie erinnerte sich bei dieser Gelegenheit vor allem an die schon bald auseinanderfallende Frisur, die zu engen Schuhe in denen sie ständig stolperte, und an ein Kleid, das magischerweise rasch wie ein Kartoffelsack an ihr ausgesehen hatte.

Gut, eigentlich war es eher logisch als magisch: Wenn es Leute wie Galaria gab, die sogar Kartoffelsäcke wie Ballkleider tragen konnten, musste es natürlich auch Leute wie Gwendolin geben, die genau das Gegenteil bewirken. Somit herrschte ein gewisses Gleichgewicht, und alle waren zufrieden... mehr oder weniger. Zumindest wussten alle, worin ihre Rollen bestanden.
Probleme begannen erfahrungsgemäß vor allem dann, wenn jemand ankam und beschloss, dass die Rollen so nicht passten.


Anscheinend war Onkel Gaius so ein jemand. Das gefiel ihr nicht. Ihr hatte es schon nicht gefallen, dass man sie überhaupt bemerkte – wie erwartet hatte das mittlerweile einen wahren Fels ans Sorgen mit sich gebracht. Was sollte erst werden, wenn man versuchte, ihre Rolle zu verändern, in welche Richtung auch immer?
Schlimmstenfalls ging es nicht und das würde für Enttäuschung sorgen. Wahrscheinlich würde ihr Onkel dann einfach jegliches Interesse an ihr verlieren und sie hätte tatsächlich nichts mehr zu tun, als Pferdemist zu schippen und den Boden zu schrubben (Ein verräterischer kleiner Teil von ihr wünschte sich am Ende auch genau dies. Pferdemist hatte etwas unglaublich Unkompliziertes an sich).
Bestenfalls würde es irgendwie funktionieren, sie würde etwas falsch machen und noch mehr Probleme produzieren, und dann wäre sie eine Enttäuschung und ein Problem... was aus dem „bestenfalls“ also sehr schnell ein „so richtig schlimmstenfalls“ machen würde.

Sicher, da stand die Behauptung im Raum, Onkel Gaius würde sich um sie bemühen. Das glaubte Gwendolin allerdings keinen Augenblick lang. Niemand bemühte sich plötzlich einfach so, ohne jeden Grund. Um sie am allerwenigsten. Dass dem Mann lediglich langweilig war, erschien also viel wahrscheinlicher. Schließlich war er auch ständig im Haus eingesperrt.
Ihm war langweilig und sie würde die Rechnung dafür erhalten, so einfach war das. Danach würde er sich ein neues Spielzeug suchen und sie würde zusehen können, wie sie weiter zurechtkam. Vielleicht wäre es ja einfacher, es von vornherein zu beenden. Vielleicht wäre es einfacher, ihm im Schlaf einfach die Kehle durchzuschneiden. Vielleicht wäre es sogar am Besten, ihnen allen die Kehlen durchzuschneiden. Bevor sie...


Gwendolin schnappte nach Luft, so panisch, als wäre sie beinah ertrunken – und so fühlte es sich auch an. Ihr Schädel schien schier zu platzen, als sie einige Schritte zurückwich vor dem moorbesudelten Kleid im Fenster, aus dem ihr das tote Ding zulächelte, welches angeblich ihr Spiegelbild sein sollte. Sie presste sich die Hände an die Schläfen, wimmerte leise auf, und wandte sich um.
Ein, zwei verwirrte Blicke früher Passanten folgten dem Mädchen als es die Straße hinab floh, vor dem blutigen Bild im Spiegel, vor dem Sumpf, der nicht mehr Ihrer war, vor den grässlichen Gedanken, die nicht ihr gehörten. Ganz bestimmt nicht ihr.
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Ganz und gar - von Gwendolin Grünthal - 11.05.2013, 19:39
Trommeln am Fluss - von Gwendolin Grünthal - 16.05.2013, 01:14
Von Toten - von Gwendolin Grünthal - 21.05.2013, 18:23
Von Lebenden - von Gwendolin Grünthal - 27.05.2013, 17:01
RE: Ganz und gar! Oder doch lieber blutig? - von Galaria Ganter - 30.05.2013, 19:23
Schuld - von Gwendolin Grünthal - 04.06.2013, 17:07
Sehen und gesehen werden - von Gwendolin Grünthal - 10.06.2013, 13:41
RE: Ganz und gar! Oder doch lieber blutig? - von Galaria Ganter - 10.06.2013, 15:35
Stille - von Gwendolin Grünthal - 15.06.2013, 20:04
Glühwürmchen - von Gwendolin Grünthal - 22.06.2013, 14:25
Mohn und Schmetterlinge - von Gwendolin Grünthal - 04.07.2013, 16:52
Von Kosten und Wert - von Gwendolin Grünthal - 12.07.2013, 16:23
Das ungeschriebene Wort - von Gwendolin Grünthal - 21.07.2013, 15:43
RE: Ganz und gar - von Guntram Ganter - 29.07.2013, 11:24
RE: Ganz und gar - von Godwin Ganter - 05.08.2013, 15:19
Vom Wesen der Schweine - von Gwendolin Grünthal - 07.08.2013, 15:48
Vor der Tür - von Gwendolin Grünthal - 15.08.2013, 19:35
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RE: Ganz und gar - von Galaria Ganter - 06.09.2013, 18:42
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