Ganz und gar
#19
Fenster konnten faszinierend sein. Sie konnten tumbes, sauber gewaschenes Desinteresse zur Schau tragen, oder einladend erleuchtet sein. Sie konnten Wärme ausstrahlen oder einen in blindem Entsetzen anstarren, bis man flüchten wollte. Des Winters kleideten sie sich in feinste Eiskristalle, und es waren stets die ersten offenen Fenster, die gleich Zugvögeln das Frühjahr einläuteten. Sie konnten einem natürlich auch deutlich zeigen wo man stand, nämlich draußen – und dieser Ort war es, an dem sich Gwendolin dieser Tage zum wiederholten Male fand.

Es war nicht so, als hätte sie jemand nach draußen verwiesen, aber eingeladen war sie natürlich auch nicht. Jemand wie sie hatte nicht unbedingt etwas an einer feinen Tafel verloren, das verstand sie recht gut. Natürlich hätte sie dennoch zumindest im Haus bleiben können, aber es hatte ihr bei solchen Gelegenheiten schon früher eher Freude bereitet, draußen zu sitzen und sich die Scherenschnitte von Gästen des Hauses in hell erleuchteten Fenstern anzuschauen, als drinnen zu lauschen. Von draußen sahen Festivitäten nämlich erstaunlicherweise oftmals fröhlicher aus, als sie tatsächlich waren.
Drinnen würde man meist nur höfliche Floskeln oder Gespräche über Politik hören – hier draußen konnte man sich aber Gesang und allerlei spannende Heimlichkeiten vorstellen, die an solch einer Feststafel ausgetauscht wurden. Also saß sie auch an diesem Abend draußen auf der Straße, starrte zu den hell erleuchteten Fenstern des großen Empfangsraumes hoch, und versuchte sich auszumalen, was dort Interessantes vor sich gehen mochte. Nur gelingen wollte es heute wider alle Gewohnheit nicht.
Vielleicht war es die Angst, die sie den zweiten Tag im beständigen Klammergriff hielt, mal lockerer lassend, mal die Kehle zuschnürend, und doch ohne jemals wirklich zu weichen. Vielleicht auch die Erinnerung an die Fenster der Zuflucht, die sie in der Frühe ganz genau so angestarrt hatte.


Einen Zweck hatte der Besuch bei der Zuflucht nicht gehabt: Die junge Frau war sich, schon als sie hinging, recht bewusst gewesen, dass sie niemals wirklich anklopfen würde. Aber sie wollte es sich ausmalen, wie es wohl wäre, hinter dem schweren Tor und den freundlichen Fenstern zu verschwinden, dort, wo sie keiner würde finden können. Nun, außer Njal, versteht sich. Sie würden dann drinnen bei einem Tee sitzen können, und sich wie im Flüsterwald Geschichten erzählen, und es gäbe keinen Grund, Angst zu haben.
Natürlich musste es bei der bloßen Vorstellung bleiben – trotz des Briefes, den sie vom Legionär erhalten hatte, konnte sich Gwendolin beim besten Willen nicht vorstellen, nun einfach hinein zuspazieren und nach Schutz zu fragen. Was hätte sie auch sagen sollen?

'Ich habe mich nicht entschuldigt und nicht gemeldet, aber nun, da meine Onkel mich womöglich für eine Hexe halten, möchte ich bitte beschützt werden'?

Das klang sogar ohne ausgesprochen zu werden bestenfalls lächerlich. Also hatte sie nur da gestanden und es sich vorgestellt, wie es hätte sein können, bis irgendein auf dem Weg zum Markt vorbeirumpelnder Karren sie von der Straße gescheucht hatte.


Und nun war es wieder Abend, und sie starrte wieder zu einem Fenster hoch, dieses Mal zu einem, hinter welchem ihre Familie geladene Gäste empfing, folgte mit müdem Blick den dunklen Scherenschnitten vor hell leuchtendem Hintergrund, und brachte keinerlei Phantasie mehr auf.
Heute gab es keinen Ball in ihrem Kopf – es blieb allein bleiernes Warten vor der Türe.
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Ganz und gar - von Gwendolin Grünthal - 11.05.2013, 19:39
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RE: Ganz und gar! Oder doch lieber blutig? - von Galaria Ganter - 10.06.2013, 15:35
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RE: Ganz und gar - von Galaria Ganter - 06.09.2013, 18:42
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