Ganz und gar
#18
Der blaue Fetzen flog schwer herunter, landete eine kleine Welle schlagend im Schlamm, und verschwand rasch im Maul eines Schweines.

Sie hatte von Nixen geträumt in der Nacht. Es waren ganz klar Nixen gewesen und keine Meerjungfrauen – ihnen fehlten die Fischschwänze, und sie waren auch ordentlich in zarte Nachthemden gehüllt. Das machte Sinn, schließlich waren Nixen nicht irgendwelche Fischweiber, sondern junge Frauen, die mal vor Unglück ins Wasser gegangen waren. Auch aus ersäuften Kindern boshafter Stiefmütter wurden Nixen – und die waren dann besonders traurig.
Nixen planschten daher nicht fröhlich umher, sondern kamen nur Nachts heraus, um im Mondschein zu tanzen. Deswegen sollte man Lichtungen an kleinen Waldgewässern nie bei strahlendem Mondesschein aufsuchen: Die tanzenden Mädchen würden einen unweigerlich mit in den Reigen und dann ins Wasser ziehen, um in der nächsten mondversilberten Nacht mit einer neuen Gefährtin durch nasses Gras zu hüpfen. Was mit den Männern geschah, wusste man allerdings nicht. Wahrscheinlich blieben die dann einfach tot.

Manchmal hatte es also durchaus Vorteile, eine Frau zu sein. Manchmal kam es Gwen auch wie eine ganz gute Idee vor, im Mondschein zu einem Weiher zu laufen: Der Gedanke, bis in alle Ewigkeit im grünlichen Wasser zu tauchen und Nachts auf Wiesen zu tanzen, statt Ställe auszumisten und Nachts vor Alpträumen aufzuwachen, hatte eine durchaus verlockende Seite.
Andererseits war da Njal, und den konnte sie nicht mitnehmen... also war sie nie zum Weiher gelaufen. Nicht mal bei ihrer Verlobung, wenngleich sie gerade da sehr gerne wäre. Im Wasser hätte Gulgul sie sicher nie gefunden. Hier oben sah es schon anders aus.


Gwen seufzte leise und warf den geschäftig umhertappsenden Schweinen einen Weiteren der bunten Streifen zu, die neben ihr auf dem Zaun hingen. Sie selbst saß ganz liderlich auf dem etwas schiefen Holzbalken, ließ die Beine ins Gatter baumeln und sah den Tieren beim Fressen zu. Die nackten Füße trommelten dabei leise ans sonnendurchwärmte Holz – mit das einzige Geräusch neben dem zufriedenen Grunzen der Schweine und dem Vogelgezwitscher drumherum.

Das hieß, wenn man nicht auf den Flüsterwald hörte. Der war zwar ein gutes Stück weiter weg, aber wenn sie nicht aufpasste, dann hörte sie den Wald stöhnen. Manchmal schrie er sogar, was besonders unangenehm und befremdlich war.
Vor zwei Tagen, als sie mit Njal dort herumgeklettert und gebadet hatte, war es jedenfalls noch nicht so schlimm gewesen. Da flüsterte der Boden nur ab und an, flüsterte von zu viel Blut und zu viel Tod, und die Bäume raschelten im Takt. Mittlerweile allerdings hörte man den Wald bis hierher zu den Gattern, und das konnte mit Sicherheit nichts Gutes bedeuten.
Tote zogen Tote an, und Blut noch mehr Blut. Das war offensichtlich, und beunruhigend genug, dass sie sich kaum auf die Arbeit zu konzentrieren vermochte. Nun... das ließ ihr wenigstens Zeit, etwas Anderes zu erledigen.


Das Mädchen warf einen weiteren Fetzen hinein und horchte mit halb geschlossenen Augen dem zufriedenen Grunzen der fressenden Tiere. Zumindest wenn man den Wald gerade nicht hörte, schien alles hier... friedlich. Das Gezwitscher drumherum, der leichte Sommerwind und die Wärme von Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht, vermischt mit dem Duft sommerlicher Wiesen und der Tierkoppeln... gut, Letzteres war gewöhnungsbedürftig, aber mittlerweile mochte sie es.
Es gehörte zu einer übersichtlichen Sammlung unkomplizierter Dinge dazu, und wenn man sich nur auf jene konzentrierte, dann kam einem die Welt ganz sonnig und einfach vor. Als wäre nie was Schlimmes vorgefallen. Als wäre auch der gestrige Abend nie geschehen. Als wäre sie noch immer in der Zuflucht willkommen.

Dummerweise erinnerte die junge Frau sich natürlich sofort an den gestrigen Abend, kaum dass sie versuchte, nicht daran zu denken. Erinnerte sich an die vermaledeiten Kirschen (wie war sie auch auf die Idee gekommen, so etwas ernstlich verschenken zu wollen?), an den Streit, an das fremde Blut unter ihren Fingernägeln, das dort niemals hätte sein dürfen. Sie hätte sich gern wenigstens entschuldigt – nicht, dass eine Entschuldigung noch irgendetwas zurückbringen konnte – aber Njals Worte waren in dem Punkt klar gewesen. Und so blieb Gwendolin am Ende nichts übrig, als hier am Gatter zu sitzen und sich so oft es ging vorzustellen, der Abend wäre nie geschehen.

Sie presste die Lippen zusammen und warf einen weiteren Fetzen von dem, was mal ein Ölgemälde gewesen war, in den Schlamm. Fräulein Schwarzbrandt hatte recht... die Viecher fraßen wirklich alles.
Zitieren


Nachrichten in diesem Thema
Ganz und gar - von Gwendolin Grünthal - 11.05.2013, 19:39
Trommeln am Fluss - von Gwendolin Grünthal - 16.05.2013, 01:14
Von Toten - von Gwendolin Grünthal - 21.05.2013, 18:23
Von Lebenden - von Gwendolin Grünthal - 27.05.2013, 17:01
RE: Ganz und gar! Oder doch lieber blutig? - von Galaria Ganter - 30.05.2013, 19:23
Schuld - von Gwendolin Grünthal - 04.06.2013, 17:07
Sehen und gesehen werden - von Gwendolin Grünthal - 10.06.2013, 13:41
RE: Ganz und gar! Oder doch lieber blutig? - von Galaria Ganter - 10.06.2013, 15:35
Stille - von Gwendolin Grünthal - 15.06.2013, 20:04
Glühwürmchen - von Gwendolin Grünthal - 22.06.2013, 14:25
Mohn und Schmetterlinge - von Gwendolin Grünthal - 04.07.2013, 16:52
Von Kosten und Wert - von Gwendolin Grünthal - 12.07.2013, 16:23
Das ungeschriebene Wort - von Gwendolin Grünthal - 21.07.2013, 15:43
RE: Ganz und gar - von Guntram Ganter - 29.07.2013, 11:24
RE: Ganz und gar - von Godwin Ganter - 05.08.2013, 15:19
Vom Wesen der Schweine - von Gwendolin Grünthal - 07.08.2013, 15:48
Vor der Tür - von Gwendolin Grünthal - 15.08.2013, 19:35
Des Bastards neue Kleider - von Gwendolin Grünthal - 03.09.2013, 19:51
RE: Ganz und gar - von Galaria Ganter - 06.09.2013, 18:42
Familienangelegenheiten - von Gwendolin Grünthal - 18.09.2013, 16:53
Galates - von Gwendolin Grünthal - 24.10.2013, 16:51
Das Mädchen mit den Kerzen - von Gwendolin Grünthal - 05.11.2013, 13:29
Schritte in der Dunkelheit - von Teranas - 06.05.2014, 00:06
Mabon - von Gwendolin Grünthal - 13.07.2014, 14:22



Benutzer, die gerade dieses Thema anschauen: 1 Gast/Gäste