Ganz und gar
#15
Sie sah die verschwundenen Worte ganz genau. Nun, verschwunden war womöglich das falsche Wort - vielmehr waren sie nie geschrieben worden. Und doch sah Gwendolin sie, Buchstabe für Buchstabe. Sie quollen hinter dem nach Druckerschwärze riechendem Text auf der Zeitungsseite vor ihr hervor, duckten sich spielerisch unter starren Zeilen hindurch, krochen über jede noch so kleine freie Stelle, um mit dem nächsten Lidschlag wieder zu verschwinden.
Die meisten dieser Worte würden auch nie geschrieben werden. Sie waren nicht wie Andere auf einen späteren Zeitpunkt geschoben, oder aber aus Langeweile wieder fallen gelassen worden, nein. Es war lediglich so, dass diese speziellen Worte zu speziellen Wahrheiten gehörten, für die auf dem billigen Papier der Gösselpost kein Platz blieb; kein Platz bleiben durfte. Gewisse Dinge würden dem Haus zu sehr schaden, hatte Onkel Gaius erklärt. Mit gewissen Leuten konnte man sich einfach nicht anlegen, ohne, dass es auf die Familie zurückfiel.

Das hatte Gwen verstanden. Sie verstand alles gut, was Onkel Gaius erklärte. Wahrscheinlich lag es daran dass er nicht schrie und auch sonst nichts... Feindseliges machte. Mit Feindseligkeit kam sie so gar nicht zurecht, da begann es ihr vor Angst stets in den Ohren zu rauschen und hektisch vor den Augen zu flimmern, und wie wollte man so noch etwas verstehen können? Meistens reichte es sogar, bloß irgendetwas Unangenehmes zu erwarten; da verweigerten ihr Kopf und Zunge peinlicherweise den Dienst, noch lange bevor irgendetwas geschehen konnte. Dann war es besser zu schweigen und nur zu sprechen, wenn man auch wirklich aufgefordert wurde, um schließlich bei der erstbesten Gelegenheit um irgendwelcher dringender Dringlichkeiten willen, die man doch tatsächlich bis zu jenem Moment ganz vergessen hatte, zu entschwinden. Bestenfalls fanden diese Dringlichkeiten irgendwo weit weg statt.

Onkel Gaius jedenfalls löste magischerweise seit einiger Zeit keinerlei Fluchtgedanken mehr aus, mehr noch: Ihr Kopf blieb so wunderbar glasklar wenn sie mit ihm sprach, dass sie sich ehrlich auf jede Besprechung freute, ebenso, wie sie in ehrlichem Eifer seine Zeitung zum eigenen Interesse machte. Die junge Frau hatte Zeit ihres Lebens nur sehr wenige eigene Interessen gehabt, und die meisten davon erst aufgebracht, weil Njal Dieses oder Jenes beachtenswert fand. In ihrem eigenen Geist bildete sich nur selten etwas, was sie selbst für der Verfolgung Wert halten konnte - umso einfacher ließ es sich da für all das begeistern, was einem Anderem wichtig war, jemandem den sie mochte und der sich die Muße nahm, ihr die eigenen Interessen näher zu bringen.
Also begeisterte Gwendolin sich, erst nur für die ersten kleinen Aufgaben und die hohe Kunst des richtigen Stifthaltens, dann für die Fragen und Arbeit, die hinter einem jeden Artikel steckten, und schließlich für all den Tross an Kleinigkeiten und Feinheiten, die sich da hinter dem unauffälligen Wort "Zeitung" versteckten. Nicht, dass sie sich einbildete, auch nur die Hälfte zu kennen: Aber sie lernte, und sie wollte lernten.


Das mit der Wahrheit war nun die neueste Lektion gewesen. Man konnte nicht alles in die Welt hinausschreiben, was interessant oder sogar wichtig war, nicht, wenn plötzlich die ganze Familie betroffen sein konnte. Es galt abzuwägen, und so blieben nach und nach all die ungeschriebenen Worte auf der Strecke, trugen eine Wahrheit mit sich, die niemals aufs Papier finden würde. Oder zumindest... vorerst nicht.
Das war auch so eine Sache mit der Wahrheit. Man konnte sie verschweigen und verstecken und unter einem Haufen halbgarer Banalitäten begraben, die die Marktweiber zum tuscheln und die feinen Herren zu unzufriedenem Stirnrunzeln brachten, aber aus der Welt schaffen ließ sie sich nie. Gewissermaßen war die Wahrheit unsterblich, und wahrscheinlich war es diese Eigenschaft, die ihr all die pathetischen Sprichworte einbrachte, die so durch Amhran geisterten und gern zitiert wurden, wenn es etwas Bedeutungsvolles zu sagen galt - meistens dann, wenn der Sprechende sich irgendwie ungerecht behandelt fühlte.

"Die Wahrheit wird eines Tages ans Licht kommen", sagte man dann etwa, oder auch "Die Wahrheit wird triumphieren". Eigenartigerweise war damit stets nur die Wahrheit über die Anderen gemeint, und das zeigte deutlich genug, dass aller Pathos einem Trugbild zum Opfer gemacht wurde. Tatsächlich war die Wahrheit nichts was erstrahlen oder triumphieren konnte. Die Wahrheit war nichts... Schönes oder auch nur Erhabenes. Sie war hart und klamm und mit so vielen Ecken und scharfen Kanten ausgestattet, dass es gänzlich unmöglich war, mit ihr zusammenzustoßen und unbeschadet davonzukommen. Sie offenbahrte sich nicht majestätisch, sondern schlug einem mit aller Härte ins Gesicht und manchmal alle Zähne aus.
Gewissermaßen hatte die Wahrheit also viel mit einem Straßenschläger gemein, oder mit einer dieser rohen selbstgemachten Keulen, aus denen allerhand krumme Nägel herausguckten, und ebenso wie Schläger oder unangenehm spitze Gegenstände versteckte sie sich gern im Dreck.

Das war dann auch der Punkt, an dem Gwen sie fand. Onkel Godwin hatte sie mal auf diese Weise den Jehanns vorgestellt, als jemanden, der gut im Dreck wühlen konnte, bis irgendetwas dabei herauskam - vielleicht auch nur, weil der Dreck frustriert aufgab. Das Mädchen hielt diese Theorie nicht für gänzlich abwegig, wenngleich sie sich zunehmend mit eher metaphorischem Dreck beschäftigte. Die Regeln blieben die Selben wie auf dem Felde: Wenn man lange genug wühlte, fand man auch etwas.
Manchmal konnte man dann darüber schreiben, manchmal nicht, doch all die spitzen und rostigen Funde verschwanden nie. Sie blieben da und warteten nur auf eine Gelegenheit. Doch solange es dafür nicht Zeit war... solange versteckten sich all die dreckigen kleinen Wahrheiten zwischen den Zeilen, winkten hier und da zwischen dunklen Buchstaben und starren Worten hervor, man musste nur wissen, dass sie da waren.

Gwendolin wusste es. Und der Gedanke, die kleinen stacheligen Biester irgendwann, irgendwem in sein selbstzufriedenes Gesicht schleudern zu können bis dieser nur noch Blut und Zähne spucken konnte, fühlte sich unheimlich gut an.
Zitieren


Nachrichten in diesem Thema
Ganz und gar - von Gwendolin Grünthal - 11.05.2013, 19:39
Trommeln am Fluss - von Gwendolin Grünthal - 16.05.2013, 01:14
Von Toten - von Gwendolin Grünthal - 21.05.2013, 18:23
Von Lebenden - von Gwendolin Grünthal - 27.05.2013, 17:01
RE: Ganz und gar! Oder doch lieber blutig? - von Galaria Ganter - 30.05.2013, 19:23
Schuld - von Gwendolin Grünthal - 04.06.2013, 17:07
Sehen und gesehen werden - von Gwendolin Grünthal - 10.06.2013, 13:41
RE: Ganz und gar! Oder doch lieber blutig? - von Galaria Ganter - 10.06.2013, 15:35
Stille - von Gwendolin Grünthal - 15.06.2013, 20:04
Glühwürmchen - von Gwendolin Grünthal - 22.06.2013, 14:25
Mohn und Schmetterlinge - von Gwendolin Grünthal - 04.07.2013, 16:52
Von Kosten und Wert - von Gwendolin Grünthal - 12.07.2013, 16:23
Das ungeschriebene Wort - von Gwendolin Grünthal - 21.07.2013, 15:43
RE: Ganz und gar - von Guntram Ganter - 29.07.2013, 11:24
RE: Ganz und gar - von Godwin Ganter - 05.08.2013, 15:19
Vom Wesen der Schweine - von Gwendolin Grünthal - 07.08.2013, 15:48
Vor der Tür - von Gwendolin Grünthal - 15.08.2013, 19:35
Des Bastards neue Kleider - von Gwendolin Grünthal - 03.09.2013, 19:51
RE: Ganz und gar - von Galaria Ganter - 06.09.2013, 18:42
Familienangelegenheiten - von Gwendolin Grünthal - 18.09.2013, 16:53
Galates - von Gwendolin Grünthal - 24.10.2013, 16:51
Das Mädchen mit den Kerzen - von Gwendolin Grünthal - 05.11.2013, 13:29
Schritte in der Dunkelheit - von Teranas - 06.05.2014, 00:06
Mabon - von Gwendolin Grünthal - 13.07.2014, 14:22



Benutzer, die gerade dieses Thema anschauen: 1 Gast/Gäste