Ganz und gar
#14
Sie hatte nicht viel Schlaf bekommen. Eigentlich gar keinen richtigen. Das lag allerdings nicht an der Arbeit, wie sonst oft in der letzten Zeit: Vor einigen Tagen hatte Gwendolin feststellen müssen, dass, wenn man nur genug Vorarbeit geleistet hatte, es irgendwann erstaunlich wenig zu tun gab. Wenn man die Keller einmal ausgefegt hatte, musste das tagelang nicht mehr gemacht werden. Mehr als ein Mal am Tag Staubwischen musste man auch nicht, und eine einmal gründlich entmistete Koppel blieb frecherweise entmistet, wenn man jeden Tag das Geschäft des Selbigen aufräumte. Kurzum, ihr Plan, möglichst viel zu arbeiten, erlitt einen raschen Sturzflug, und das war durchaus ein Problem. Am Ende ging es um Wert, und die Wenigsten würden ihr zustimmen, dass die durchwachte Nacht irgendeinen Wert besaß.

Zumindest ließ es sich nicht in Heller berechnen, einem Leibeigenen den Kopf zu halten während jener ein geschätzt halbes Fass Kartoffelschnaps wieder loswurde. Es brachte auch überhaupt nichts Nützliches hervor, hernach noch lange bei ihm zu sitzen, über das wirre Haar und die geschundenen Finger streichend, einfach für den Fall, dass er den Bottich nochmal brauchte oder nach einem Becher Wasser verlangen sollte. Und als sie endlich etliche Zeit später, als der Atem des Schlafenden ruhiger und gleichmäßiger wurde, hinausgegangen war um den Bottich im Kanal zu reinigen, hatte sich in einem schmalen Strich am Horizont bereits das erste Morgengrauen angedeutet.
Also hatte Gwen der kurzen Versuchung wiederstanden, das noch etwas müffelnde, hölzerne Gefäß dem ein oder anderen Familienmitglied über den Kopf zu stülpen - ein plötzlicher, aber sehr verlockender Gedanke, aus irgendeiner Ecke des erstaunlich wachen Verstandes hervorgekrochen - und war direkt zu den Feldern hinabgewandert, nur um die dortige Arbeit wiederum schneller und früher erledigt zu bekommen als sonst.


Schnell genug jedenfalls, um nunmehr mit einem Becher warmer Milch im Gras zu sitzen, den Sonnenaufgang zu beobachten und über Wert und Unwert der letzten Nacht speziell und des eigenen Seins im Allgemeinen nachzugrübeln. Dabei fanden die sich träge windenden Gedanken alsbald zu einem toten Punkt: Wie wollte man überhaupt den Wert von Irgendetwas feststellen?
Natürlich konnte man beispielsweise Arbeit irgendwie berechnen, aber 'irgendwie' war keine verlässliche Größe. Und dann waren da noch Dinge, die gar nicht messbar schienen. Wieviel war ein Sonnenaufgang wert? Sicher, niemand würde je auf einen verzichten wollen, aber würde jemand dafür bezahlen? Wie bemaß sich der rettende Atemzug eines beinah Ertrunkenen? Die Milch in ihrem Becher hatte einen festen Preis auf dem Markt, aber was kostete es, wenn sie noch dampfend frisch war und die im kühlen Morgenwind klammen Finger wärmte?
Kurzum: Es war schwierig mit dem Wert, und über den eigenen ließ sich nur mit Sicherheit sagen, dass dieser zu gering war. Das hatte Onkel Gaius recht überzeugend dargelegt. Wäre es anders, würde man sie nicht verschenken wollen.

Wenn es denn so einfach war...
Ihr fielen noch ganz andere Worte von Onkel Gaius dazu ein, zusammen mit einer Zahl, die immer größer und drohender schien. 21. Nummer 21. Wo waren die anderen 20 hin? Interessierte es wirklich niemanden? Nahm man es bloß hin? Oder wusste man sehr wohl Bescheid? Wenn ja, wer? Onkel Godwin bestimmt, aber wer noch? Onkel Gawin, der so auffällig unauffällig kaum noch zu erblicken war? Gornelius, der so gar nicht überrascht gewirkt hatte? Warum war Gerwulf nach all seinen Reisen ausgerechnet jetzt zurückgekehrt? Warum interessierte sich Herr Jarcath auf einmal dafür, wem sie vertraute?

Gwen runzelte die Stirn und sah sich plötzlich nervös auf der leeren Wiese um.
Die friedliche Morgenstimmung war dahin: Irgendetwas war umgeschlagen, ließ die Schatten länger erscheinen, die Sonnenstrahlen röter, den Wind nervöser. Irgendetwas...irgendetwas das an ihren Gedanken nagte und ihr keine Ruhe mehr ließ. Keine Ruhe...nur noch mögliche Feinde hinter einem jeden gleichgültigen oder freundlichen Gesicht. Und dass hier keiner zu sehen war, bedeutet vielleicht nur, dass sie sich versteckten. Irgendwo im Gebüsch beim Fluss, oder hinter den Bäumen an der Straße. Irgendwer hatte schließlich auch den Brief im Heulager abgelegt gehabt, und da hatte sie auch niemanden gesehen. Wer sagte denn, dass sie nun allein war? Dass nicht gleich jemand...


Es war Schmerz, der sie in die Wirklichkeit zurückriss, so überraschend, dass Gwendolin leise aufschrie und den halb geleerten Milchbecher fallen ließ.
Die Schatten wichen zurück... Sie war allein. Da war nichts außer der aufgehenden Sonne, den nahen Hühnern, und dem Geräusch des eigenen, rasch schlagenden Herzens. Die junge Frau atmete durch, schämte sich beinah vor sich selbst als der Blick auf die rechte Handfläche und den feinen Schnitt darauf fiel - eine deutliche Spur des zu festen Griffs um den Dolch unter dem Stoff ihres Kleides. Sie tastete in letzter Zeit öfter danach; das Gefühl kühlen Metalls an den Fingerkuppen wirkte regelrecht tröstend. Und in Momenten wie diesen auch noch hilfreich.
Gwen schnaubte leise aus und stand auf, sich nach dem nunmehr leeren Becher im Gras bückend. So ein Dolch war jedenfalls viel mehr Wert als er kostete.
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Ganz und gar - von Gwendolin Grünthal - 11.05.2013, 19:39
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Von Lebenden - von Gwendolin Grünthal - 27.05.2013, 17:01
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RE: Ganz und gar! Oder doch lieber blutig? - von Galaria Ganter - 10.06.2013, 15:35
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RE: Ganz und gar - von Galaria Ganter - 06.09.2013, 18:42
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