Ganz und gar
#13
Rot war so eine... dumme Farbe. Viel zu viele Dinge waren rot, gute wie schlechte, man konnte es nie genau einordnen. Mit anderen Farben war es wesentlich einfacher. Grün zum Beispiel. Grün stand für Laub und frisches Gras und manchmal auch für Jauche, die dennoch einmal etwas Hübsches gewesen war. Oder Gelb, die Farbe der Sonne und des Goldes. Beides Dinge, die für Lisbeth am wichtigsten waren - und damit stand Gelb auch für Lisbeth. Daneben gab es Grau, das trüben Himmel und tote Haut mit sich trug und ganz und gar nicht begrüßenswert schien, oder das Braun von Dreck und nasser Erde.

Rot allerdings... Rot war komplizierter, umso mehr, wenn andere Farben ins Spiel kamen. Rot auf Weiß beispielsweise, etwas, wovon sie in letzter Zeit beständig träumte. Was war es? Blut auf heller Haut oder Himbeersaft auf weißem Laken? Gwendolin hätte es nicht sicher sagen können, was das Bild vor ihrem inneren Auge umso beunruhigender machte.
Rot zeigte sich derweil ebenso in unschuldigen Mohnblumen, die ihre Köpfchen hier und da zwischen den Weizenähren auf dem Felde reckten, wie auch in Kriegszeiten, um plötzlich für Tod und Verderben zu stehen. Die Robe des Mithrasnovizen heute Morgen war auch rot gewesen...

Das Mädchen runzelte die Stirn, sich vorsichtig den Weg durch sonnenerhitztes Weizen bahnend, um einige der dort entdeckten Mohnblumen zu pflückten. Ja, es war sogar das gleiche Rot gewesen, wie es schien - und doch völlig anders. Bei den Blumen leuchtete es lebendig, sogar wenn man sie von der Erde trennte und zu einem Strauß band, die Mithrasrobe hingegen trug den selben Ton in einer festen Strenge zur Schau, die irgendwelche Blümchen, noch dazu an Orten, wo sie gar nicht hingehörten, ganz und gar nicht dulden würde.
Nicht, dass der Novize allzu streng oder unfreundlich zu ihr gewesen wäre, im Gegenteil... wahrscheinlich hätte sich manch einer über sein Angebot gefreut.
Was kann die Kirche für euch tun?

Sie verzog die Lippen etwas. Gar nichts, diese Antwort hatte ihr auf der Zunge gelegen. Natürlich hatte sie es nicht so ausgesprochen. Und doch wäre es ehrlich gewesen, bei aller Höflichkeit: Gar nichts.
Gwen war sich gar nicht sicher, wann die Resignation sich eingeschlichen hatte, um den Platz furchtbestimmten Glaubens einzunehmen. Vielleicht als sie bei der Beichte log und nicht bestraft wurde. Vielleicht noch früher, als die kleine Welt der letzten Jahre Bröckchen für Bröckchen unter ihren Füßen auseinanderzubrechen begann, bis sie nicht mehr sagen konnte, wem und was man glauben konnte, und die Wände des Tempels darauf stumm verblieben. Vielleicht auch tatsächlich erst heute früh, als der nette junge Mann kirchlichen Beistand anbot und ihr einfach nichts einfiel.
Gar nichts. Hässliche Worte, und ein noch hässlicheres Gefühl, als damit ein weiteres Stück altgewohnten Bodens unter ihren Füßen hinwegbrach und in eben diesem Nichts verschwand. Das Nichts war übrigens auch grau.

Gwendolin schauderte leicht und suchte sich mehr auf ihren Strauß zu konzentrieren. Vielleicht konnte sie auf dem Rückweg noch einige Kornblumen hinzutun, sie hatte oben auf den Feldern welche gesehen. Rot und Blau verstanden sich prima, die Farben eines sommerlichen Sonnenunterganges. Vielleicht würde sich so ein Strauß in der Küche gut machen. Vielleicht jemanden zum Lächeln bringen. Ja..das konnte sie heute Abend machen.

Die junge Frau stapfte wieder auf den Weg hinaus, die leuchtende Blumenbeute vorsichtig mit beiden Händen haltend. Es würde am Besten sein, das Sträußchen solange im Schatten des kleinen Landhofes abzulegen, schließlich gab es bis zum Abend noch mehr als genug zu tun. Das Feld wollte noch gegossen werden, die Apfelbäume von Raupen befreit, die Hühner brauchten frisches Heu und die Pferde gehörten gebürstet - ganz davon abgesehen, dass sie heute unbedingt mit ihren Reitübungen weitermachen wollte. Beim Herabsteigen fiel sie immer noch viel zu oft hin, und das war durchaus peinlich nach einer ganzen Woche des Übens. Onkel Gaius wäre sicher nicht erfreut, wenn das Problem in einigen Tagen noch immer bestünde. Vielleicht würde er es ihr dann sogar wieder verbieten...

Sie presste die Lippen zusammen und beschleunigte den Schritt.
Ja... mehr üben, Müdigkeit hin oder her. Das Heu bei den Hühnern ausstreuen konnte sie direkt auf dem Weg zur Koppel, und das Feld konnte dann bis hinterher warten. Die Raupen auch. Vielleicht würden sich die Kriechtierchen bis dahin ohnehin in Schmetterlinge verwandelt haben und von selbst wegfliegen. Bestimmt würden sie das. Dann würde da noch jede Menge Zeit sein, um Kornblumen zu sammeln.
Von derlei Gedanken beschwingt lächelte sie schon wieder leicht, und die Welt schien ein klein wenig zurückzulächeln. Der Mohn wippte leichtsinnig in ihrer Hand, die Plättchen in ihrem Gurtbeutel klapperten fröhlich dazu, und für einige Momente vergaß sie die schmerzenden Füße und die grauen Ängste der letzten Tage. Heute nicht...heute gab es Mohn und Schmetterlinge.


Für einige Momente. Dann verschwand alles wieder. Dann lagen die Blumen am Boden des Heulagers verstreut, rahmten ein fallen gelassenes Pergament ein, das sich gleich einer eklen Made wieder zusammengerollt hatte, und die Wände dröhnten und ächzten um das Mädchen herum.
Sie stolperte schwindelig zurück, presste sich die Hände an die Ohren, um die Kakophonie um sich herum nicht mehr hören zu müssen. Es half überhaupt nicht.
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Ganz und gar - von Gwendolin Grünthal - 11.05.2013, 19:39
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RE: Ganz und gar! Oder doch lieber blutig? - von Galaria Ganter - 10.06.2013, 15:35
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