Stärke durch Einigkeit
#2
Wie eine zähflüssige Masse bahnen sich erste Sonnenstrahlen ihren Weg ins karge Zimmer, spenden Wärme, Leben, Heiterkeit, verkünden den neuen Tag. Dichter Nebel drückt sich gegen die kalte Fensterscheibe, hinter der ein Mann nachdenklich das frühmorgendliche Treiben der Straßen Löwensteins beobachtet. Er ist von drahtiger Statur, breite Schultern tragen die etwas zu lang anmutenden Arme, an deren Enden lange, feingliedrige Finger die Hände bestücken. Der matte Glanz seines blaugrauen Augenpaares wird von hellen Wimpern umrahmt. Darüber erheben sich schwach geschwungene Brauen, die fast den selben aschgrauen Gelbton ihr Eigen nennen wie die meist streng zurückgekämmten, kurz geschnittenen Haare. Der Blick des Mannes fixiert eine Gruppe von Freien, die zu dieser frühen Stunde bereits den alltäglichen Überlebenskampf der Stadt aufnehmen. Sie schleppen Kisten, Fässer, mit Stoffen umwickelte Ware in Richtung des alten Hafens. An der Straßenecke direkt gegenüber des kleinen Zimmers muss einer der Männer husten, er beugt sich nach vorne über, hält sich ein Tuch vor den Mund. Die Gruppe geht auf Abstand zu ihm, ehe der Mann am Fenster sich, von einem schweren Seufzen begleitet, von der Szenerie abwendet. Die Hexerkeuche braucht keine Türen oder Fenster, sie springt von Person zu Person, zerstört Existenzen, hinterlässt klaffende Wunden und sucht sich stets ein neues Opfer. Sie ist die tägliche Angst, die unausgesprochene Drohung Indharims, die jeden Schritt der Bevölkerung begleitet. Knarrend schwingt die klapprige Holztür des Zimmers auf; ein junges, hübsches Gesicht schiebt sich hinter der Türe hervor.

„Herr, das Frühstück ist angerichtet“ spricht die Leibeigene mit leiser Stimme. Ein bitteres Lächeln zerrt sich über die müde Mimik, ein kurzes Nicken ist die einzige Reaktion des Mannes.

„Darf ich die Familie wecken?

Kurz zögert der Patriarch, die spitze Zunge befeuchtet die trockenen Lippen, ehe er in ruhigem Tonfall antwortet: „Ja, aber nicht meine Schwester. Deine Herrin wird bereits wach sein.“

Ohne weiteren Kommentar schließt die junge Frau die Türe des Zimmers. Kurz zögert der Mann, hängt in Gedanken dem kränkelnden Malochen nach ehe die Lippen ein altes Familiensprichwort rezitieren: „Man gewöhnt sich an alles, - besonders an das Unglück der anderen.“. Ein kurzer Ruck geht durch seinen ganzen Körper, dann setzt er sich in Bewegung, öffnet die Türe und sucht das gemeinsame Frühstück auf.
[Bild: ckzing2s.png]
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RE: Stärke durch Einigkeit - von Carl Gustav Jehann - 01.05.2013, 14:21
RE: Stärke durch Einigkeit - von Ernst Jehann - 01.05.2013, 16:08
RE: Stärke durch Einigkeit - von Annabell - 12.06.2013, 13:45
RE: Stärke durch Einigkeit - von Magdalena - 24.08.2013, 20:28



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