Arx Obscura

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Als er die Augen aufschlug, war es stockdunkel. Er hatte von Margund geträumt, von ihren zarten Händen, davon, wie sie ihrer gemeinsamen Tochter Adele die Haare flocht. Sie hatte unaufhörlich zu ihm gesprochen, streng und fordernd ... aber nun, da er in die Düsternis des kleinen Zimmers starrte, konnte er sich bei bestem Willen nicht an ihre Worte erinnern. Hatte sie ihn gewarnt, oder war es eine Idee gewesen?
Fast blind tastete er nach dem Becher mit Wasser und wünschte dabei, sie würde noch leben. Jeden Morgen seit vielen Jahren nun durchlebte er das selbe Dilemma: schliefe er nun noch eine Stunde, dann würde er mürrisch erwachen und mürrisch den Tag erleben; stünde er hingegen nun auf, so würde er zwar die meiste Zeit dem Tag ruhig gegenüberstehen, doch der Abend würde wieder von den vielen, kleine Schläfchen unterbrochen sein, derentwegen er sich oft unwohl fühlte. Seinen Gedanken nachhängend erhellte sich nach und nach sein Geist, und im gleichen Maße schien auch das Zimmer sich mit Licht zu füllen. Mühselig sog er die Luft tief in seine Brust und richtete sich mit einem Ruck in dem harten, kleinen Bett auf. Während sein Atem für einige Minuten rasselnd das Zimmer mit Geräuschen füllte, starrte er auf seine Hände. Seit gestern Abend, so schien ihm, war ein weiterer Fleck dazu gekommen. Altersflecken. Er mochte diesen Namen nicht wirklich. Daran hatte er natürlich sehr viel früher keinen Gedanken verschwendet.

Als er endlich fertig bekleidet war, trat er an das Fenster. Neblig, wie so oft am frühen Morgen. Dennoch waren schon einige Leute unterwegs. Ob er sich jemals an die Stadt gewöhnen würde können? Es war niemals leise, niemals. Irgendwo ein Schrei, ein gemurmeltes Gespräch in der Nähe, Getrappel auf den Straßen. Und dann erst der Geruch. Der war zwar schon vor der Seuche da, aber seither hatte er an Intensität gewonnen, schien geradezu bedrohlich in der Nase zu beißen. Sein Blick verschob sich, und seine lange, dünne und verbogene Nase sprang ihm aus dem Glas entgegen. Es war draußen sogar noch dunkel genug, dass er seine eigenen graublauen, ein wenig wässrigen Augen in ihren tiefen Höhlen im Spiegelbild des Fensters erspähen konnte; ganz zu schweigen von den ergrauten, buschigen Augenbrauen, den eingefallenen Wangen und dem schmalen, roten Mund, der in Mitten eines schneeweißen Knebelbartes saß. Fasziniert und zugleich ein wenig enttäuscht musterte er die Falten, die sich immer tiefer in sein Gesicht gruben, aber schon einen Wimpernschlag später zuckte eine Schulter des Spiegelbildes und er wandte sich ab. Während er vom Fenster weg und auf die Tür zutrat, hörte er ein Husten auf der Straße, weswegen er kurz an der Waschschüssel innehielt, um sich die Hände zu waschen. Dann aber öffnete er die Tür des kargen Zimmers und schritt zum Frühstückstisch der Familie.
Wie eine zähflüssige Masse bahnen sich erste Sonnenstrahlen ihren Weg ins karge Zimmer, spenden Wärme, Leben, Heiterkeit, verkünden den neuen Tag. Dichter Nebel drückt sich gegen die kalte Fensterscheibe, hinter der ein Mann nachdenklich das frühmorgendliche Treiben der Straßen Löwensteins beobachtet. Er ist von drahtiger Statur, breite Schultern tragen die etwas zu lang anmutenden Arme, an deren Enden lange, feingliedrige Finger die Hände bestücken. Der matte Glanz seines blaugrauen Augenpaares wird von hellen Wimpern umrahmt. Darüber erheben sich schwach geschwungene Brauen, die fast den selben aschgrauen Gelbton ihr Eigen nennen wie die meist streng zurückgekämmten, kurz geschnittenen Haare. Der Blick des Mannes fixiert eine Gruppe von Freien, die zu dieser frühen Stunde bereits den alltäglichen Überlebenskampf der Stadt aufnehmen. Sie schleppen Kisten, Fässer, mit Stoffen umwickelte Ware in Richtung des alten Hafens. An der Straßenecke direkt gegenüber des kleinen Zimmers muss einer der Männer husten, er beugt sich nach vorne über, hält sich ein Tuch vor den Mund. Die Gruppe geht auf Abstand zu ihm, ehe der Mann am Fenster sich, von einem schweren Seufzen begleitet, von der Szenerie abwendet. Die Hexerkeuche braucht keine Türen oder Fenster, sie springt von Person zu Person, zerstört Existenzen, hinterlässt klaffende Wunden und sucht sich stets ein neues Opfer. Sie ist die tägliche Angst, die unausgesprochene Drohung Indharims, die jeden Schritt der Bevölkerung begleitet. Knarrend schwingt die klapprige Holztür des Zimmers auf; ein junges, hübsches Gesicht schiebt sich hinter der Türe hervor.

„Herr, das Frühstück ist angerichtet“ spricht die Leibeigene mit leiser Stimme. Ein bitteres Lächeln zerrt sich über die müde Mimik, ein kurzes Nicken ist die einzige Reaktion des Mannes.

„Darf ich die Familie wecken?

Kurz zögert der Patriarch, die spitze Zunge befeuchtet die trockenen Lippen, ehe er in ruhigem Tonfall antwortet: „Ja, aber nicht meine Schwester. Deine Herrin wird bereits wach sein.“

Ohne weiteren Kommentar schließt die junge Frau die Türe des Zimmers. Kurz zögert der Mann, hängt in Gedanken dem kränkelnden Malochen nach ehe die Lippen ein altes Familiensprichwort rezitieren: „Man gewöhnt sich an alles, - besonders an das Unglück der anderen.“. Ein kurzer Ruck geht durch seinen ganzen Körper, dann setzt er sich in Bewegung, öffnet die Türe und sucht das gemeinsame Frühstück auf.
„Mmff.“ Das müde Stöhnen eines aufwachenden Mannes erklingt dumpf aus dem Berg von Leinendecken und Heukissen. Die ersten Sonnenstrahlen vertreiben an diesem Morgen das Dunkel der Nacht und erwecken die Stadt zu neuem Leben – ob gewollt oder auch nicht. Sie durchdringen die Stadt und fallen durch jede noch so kleine Ritze, selbst in einem hoffnungslosem Viertel wie dem Alten Hafen kriecht sie mit nicht enden wollender Entschlossenheit jeden Tag aufs Neue das Firmament empor. Der Mann schlägt die Decke zurück und entblößt neben seinem eigenen muskulösen Oberkörper auch den der üppigen Hure neben sich. Der Mann richtet sich im Bett auf, neigt den Kopf nach links und nach rechts, lässt seine Nackenwirbel knacken. Fetzen der letzten Nacht ziehen an seinem inneren Auge vorbei. Ohja – er verzieht seine Mundwinkel zu einem beinahe verzückten Lächeln – letzte Nacht war gut gewesen. Er zieht seine Hose über die Schenkel und zurrt den Gürtel fest, ehe er sich in der Wasserschüssel auf dem kleinen Beistelltisch neben dem Bett das schmale, kantige Gesicht und seine kurzen, blonden Locken wäscht. Die Angst vor der Hexerkeuchte macht auch hier nicht halt – eine geheuchelte Angst, denn auf ihre Arbeit will eine Dirne schließlich nicht verzichten.

Sie war so hübsch gewesen, die Dirne. Vielleicht war es aber auch nur der Alkohol. Der Mann wirft dem schlafenden Weib einen giftigen Blick zu, während er sich sein Wams über den Leib zieht. Ja, er hatte seinen Spaß mit ihr, und sie hat ihren Lohn dafür bekommen. Der Mann stülpt sich die Stiefel über seine Füße und stapft wortlos zur Türe. Bevor er das kleine Zimmer verlässt, greift er nach seiner Geldkatze und zieht ein paar zusätzliche Heller hervor, die er klimpernd auf den Boden fallen lässt – für die blauen Flecken.
Schwach flackerte das Kerzenlicht, welches dem Zimmer gerade soviel Schein spendete, dass die Buchstaben des aufgeschlagenen Buches zu entziffern waren. Über diesem Buch war Marius Xaver gebeugt, flankiert von jeweils zwei Stapeln dicker Wälzer, müde und gekennzeichnet vom harten Arbeitstag, mehr als einmal gegen den nach ihm greifenden Schlaf kämpfend. Es war nicht ungewöhnlich, dass er noch bis spät in die Nacht arbeitete, aber dieses Mal tat er es aus eigener Überzeugung, denn dem Bestreben den hohen Anforderungen der Familie genügen zu wollen.
Mit einem Gähnen streckte er die Arme über den Kopf, müde rieb er sich mit den Fingern die Augen. Dann setzte er die Ellbogen wieder auf den Tisch ab und blickte nachdenklich auf das Buch über die Kunst des Schmuckhandwerks. „Für jedes noch so ernste Problem gibt es eine dementsprechende Lösung“, mahnte er sich selbst.

Zu seiner Überraschung waren die letzten Tage erstaunlich gut verlaufen. Irgendwie war es ihm immer wieder gelungen all jenen Arbeiten am Hof zu entgehen, bei denen er sich schmutzig machen würde, auch war der Kübel zum Gießen der Felder stets unauffindbar, wenn er an der Reihe war die Pflanzen zu gießen. Zudem war seine Mutter durch ihre Tätigkeiten an der Akademie völlig eingespannt und selbst die obligatorischen Ohrfeigen von seinem Onkel Ernst hatten sich drastisch verringert. Ob das wohl mit dem Segen Mithras zusammenhing, welcher ihm dieser Priester Manesser vor einigen Tagen gespendet hatte?

Er wusste nur zu gut, dass es töricht war sein Glück nun auf die Probe zu stellen. Allerdings war Wentzel jenes Familienmitglied, welches er nach dem von ihm verehrten Großvater am meisten leiden konnte. Darum an jenem Abend der Entschluss diesem unbeschwerten und lebendigen Jungen durch seine Fähigkeiten zu helfen, auch wenn dies für den ältesten der neuen Generation vermutlich eine kräftige Tracht Prügel bedeuten würde – vermutlich? Ach, das würde es ganz bestimmt.
Von allen Gebeten war Wentzel das Nachtgebet das liebste. Zum Einen beflügelte der Gedanke an den Kampf gegen die Dunkelheit immer seine Phantasie. Er verlor sich dann in Tagträumen, in denen er mit Flamme und Schwert die Feinde Mithras' niederstreckte, eine sehr willkommene Abwechslung zu seinem harten und langweiligen Alltag. Der zweite, viel wichtigere Grund aber war, dass die Mitternacht einen der wenigen Momente darstellte, die Wentzel ganz für sich und seine Gedanken hatte. Auf den zwei Höfen herrschte beinahe stets Betrieb, nur wenige Stunden der Nacht war es hier völlig ruhig. Nunja, ruhig war es eigentlich auch dann nicht, aber inzwischen hatte sich Wentzel an das ständige Gemeckere und Geblöke gewöhnt. Seiner eigenen Meinung nach hatte er sich überhaupt recht schnell an die neuen Lebensumstände gewöhnt und nützlich gemacht. Wo er nur konnte, ging er seinen älteren Familienmitgliedern zur Hand. Sein Rücken war krumm von der Arbeit auf den Äckern, seine Hände voller Schwielen von der Holzfälleraxt und seine Börse leer, da die Tante ihre Ausgaben decken musste. Wieviele Aufgaben er für seinen Vater erledigt hatte, konnte er nicht mal mehr zählen. Er bezweifelte aber stark, dass der Patriarch seine Sicht der Dinge teilen würde. Für ihn würde er wohl immer der unnütze Zweitgeborene sein, ganz gleich wie geschickt er sich anstellen sollte. Immerhin schien Mithras gnädig, denn die Höfe liefen gut, und gute Erträge brachten den Patriarchen zumindest in eine halbwegs leidliche Stimmung. Mit Marius überraschender Hilfe hatte er ihm sogar eine Spende für den Tempel abringen können. In seinem Cousin hatte er einen wertvollen Verbündeten gewonnen, nicht nur was den Patriarchen betraf.
Ihr Plan, Onkel Ernst "aus dem Weg" zu schaffen, konnte tatsächlich funktionieren.
Es bedurfte nur ein wenig Geschick, um die notwendigen Informationen zu beschaffen.
Und gerade weil er von allen als überflüssig betrachtet wurde, fiel es ihm besonders leicht unauffällig zu sein. Das Ohr zur rechten Zeit am rechten Ort, und er würde den Namen bald in Erfahrung gebracht haben.
Das Glück war schon ein sonderbares Element des Lebens. Meinte jemand genug davon zu haben, so verflüchtigte es sich und kein Bitten oder Flehen konnte es wieder zurück locken. Zudem nahm es all jene Annehmlichkeiten mit sich, die es zuvor reichlich mitgebracht hatte.

War er noch wenige Tage zuvor von den beschwerlichen Arbeiten verschont geblieben, die es am Hofe zu tun gab, so waren diese nicht nur bloß zurück gekommen. Nein, sie hatten sogar Verstärkung mitgebracht. Marius Xaver konnte sich nicht daran erinnern, jemals diese Menge an Baumstämmen geschlagen zu haben. In den letzten Tagen hatte er so viel Zeit im Wald verbracht, dass man ohne Übertreibung von Wentzel-ähnlichen Zuständen sprechen konnte. Viel lieber hätte er seine Zeit und Arbeitskraft in das Feinwerkhandwerk oder die Schmuckschmiedekunst investiert; jenen zwei Gebieten, bei denen er behaupten konnte sich auszukennen. Doch der Patriarch blieb unnachgiebig und das war zu akzeptieren.
Selbst in seiner nicht vorhandenen Freizeit (was im Grunde genommen jene Zeit war, bei der er eigentlich schlafen sollte), war es nicht möglich seiner eigentlichen Berufung nachzugehen, da sein Onkel Ernst, der Herrscher über die Metallbarren des Hauses, ihn nicht mit den Materialen bedachte, die er so dringend benötigte. Für jeden noch so unbedeutenden Eisenbarren musste Marius Xaver ihm Rede und Antwort stehen. Bei seinen Bitten nach etwas Nachschub war der strenge Onkel wie eine Steinmauer, welche die Anfragen nicht nur blockierte, sondern regelrecht zerschmetterte.

Doch an einem Abend zu später Stunde hatte ihm das ständige Betteln dann gereicht und er war schnurstracks – ohne viel zu überlegen – zum kleinen Hof gegangen, wo die Familie die Metallbarren lagerte. Nachdem er sich versichert hatte, dass keiner seiner Verwandten zugegen war, bediente er sich einfach am Vorrat der Kupferbarren. Diesem Metall schenkte Onkel Ernst ohnehin kaum Beachtung, also warum sollte es unnütz herumliegen? Mit diesem Kupfer würde er die schönsten Schmuckstücke herstellen, wenngleich er wusste, dass das Fehlen der Barren nicht lange verborgen bleiben würde. Toben und beben würde Onkel Ernst, bis nach Hohenmarschen würde man ihn hören können. Die ehemaligen Nachbarn würden dann sagen: „Hast Du das gehört? Einer der Jehann-Jungs hat wieder einmal etwas angestellt!“

Trotz des drohenden Unheils, war es das Feilen und Formen der Materialien in den späten Nachtstunden, welche ihm die Kraft gab den eigentlichen Tag zu überstehen. Dass es möglich war aus einfachen Materialien mit viel Hingabe schöne Sachen zu formen, faszinierte und motivierte ihn zugleich. Bei schwachem Kerzenschein saß Marius Xaver dann in einer Ecke des kleinen Hofes und bearbeitete möglichst leise die Materialien, in der Hoffnung nicht von seinen Verwandten entdeckt zu werden. Eines Nachts jedoch hatte ihn Annabell, die Leibeigene des Hauses, bei seiner nächtlichen Tätigkeit ertappt. Ohne viel nachzudenken hatte er ihr jenen Kupferring geschenkt, den er in den Nächten zuvor mit viel Mühe und Herzblut hergestellt hatte. Warum, das wusste er selbst nicht. Vielleicht als eine Art Bestechung, damit sie das Wissen über sein kleines „Refugium“ für sich behielt. Vielleicht auch nur weil er der Meinung war, dass eine junge Frau Schmuck haben sollte. Spielte das denn wirklich eine Rolle?

Der Gedanke, dass womöglich nie jemand die Schmuckstücke tragen würde, traf ihn jedoch Mitten ins Herz.
Mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung nahm er in seinem geliebten Sessel in der Küche des Hofes Platz. Hier war es wohlig warm, es stand immer ein Teller Essen auf dem Tisch und durch das Fenster konnte er die Ziegen im Gatter grasen sehen. Ein lautes Knacksen hallte von den Wänden wieder, als er seine Beine ausstreckte, gefolgt von einem kurzen, schmerzerfüllten Stöhnen. So lange stehen, das war nicht gut für ihn gewesen. Aber in der Eile hatte er nicht daran gedacht, auch noch einen Sessel zur Armenspeisung am Platz vor dem Tempel mitzubringen - die vielen Säcke und Kisten voller Gebratenem und Gekochtem, voller Gemüse und Obst waren sein einziges Augenmerk gewesen.
Seit Wochen nun hatten die Mägde und er angebaut und gefüttert, auf dass die Pflanzen reichlich und die Schweine dick würden. Und tatsächlich waren ihre Bemühungen ausreichend gewesen, die acht Tische vor der Kirche waren reichlich gefüllt. Novizin Alina hatte am Ende sogar noch Speisen mitgenommen, um sie in den Straßen zu verteilen. Es erfüllte ihn mit einem Stolz, der dem Vaterstolz glich, wenn er daran dachte, dass alles in den fruchtbaren Äckern der Jehannschen Ländereien wurzelte. Natürlich, noch war es nicht ihr Land, und natürlich hatte Mithras den Boden fruchtbar gemacht - das würde er jedenfalls jedem so sagen. Aber in seinem tiefsten Inneren... da waren es seine Nachkommen und seine Angestellten, die all das in so kurzer Zeit geschaffen hatten.

Zu seinem Überraschen war der Andrang auf die Armenspeisung - nun, mäßig gewesen. Es gab Momente, da schien ihm, es waren mehr rot gerobte Priester und Novizen zu sehen, als Bedürftige in schäbiger Kleidung. Es ließ ihn erschauern, wenn er die Möglichkeit erwog, dass es bereits zu spät für viele Arme gewesen war. Inständig hoffte er, dass dies nicht der Fall war, dass im Gegenteil, wie dieser Herr Umbinor mutmaßte, die vielen Hungernden lediglich abgeschreckt waren von der großen Anzahl Anwesender. Nun, das war nicht ganz, was Herr Umbinor geäußert hatte; dieser dachte doch tatsächlich, die Armen hätten Angst, verhaftet zu werden, ganz so wie es ihm ergangen war. Es war ihm durchaus schwer gefallen, nicht erheitert über diese Aussage zu wirken. Umbinor zu beobachten übte durchaus einen gewissen Reiz aus, ganz so, wie er, Wilbrant, gerne auch am Zaun stand und den unbeholfenen Fohlen zusah. Jener Mann hatte durchaus Potenzial, aber es gelang ihm nicht, zu erkennen, wessen Fürstimmen er brauchte. Nun, vielleicht hatte er durch eben jene Verhaftung endlich erkannt, dass er seinen ehrgeizigen Weg nicht ohne Kirche und Stadtwache beschreiten konnte. Jedenfalls freute sich Wilbrant auf das vereinbarte Treffen mit Umbinor. Es war gewiss wesentlich spannender, als es der heutige Abend der Armenspeisung gewesen war. Er hatte ja auch nicht erwartet, dass diese Veranstaltung auch nur im entferntesten interessant würde, aber er hatte doch gedacht, viele neue Gesichter zu sehen. Tatsächlich hatte er sogar viele bekannte Gesichter vermisst, die Familie Ganter hatte er nicht gesehen, auch die Famile Greifenfels war nicht erschienen. Durchaus beachtenswert, wie er fand. Natürlich hatte es keine offizielle Einladung gegeben, aber er hatte zumindest ein paar Ganter-Sprösslinge erwartet.

Kopfschüttelnd, fast so, als wolle er damit die Gedanken abschüttelnd, drehte er sich langsam und mühevoll am Sessel, um die steifen Beine unter den Tisch zu schieben. Der Rücken noch gebeugter als sonst, begann er nun, die kalte Suppe, die am Tisch stand, zu löffeln. Er würde heute wohl sehr gut schlafen.
Marius Xaver konnte sich nicht erinnern früher so oft so wütend gewesen zu sein, wie es in den vergangenen Wochen der Fall war. Dabei waren es nicht nur einige bestimmte Vorfälle, welche seine innere Ruhe auf eine beinahe unüberwindbare Probe stellten. Vielmehr schien es als würde jeder einzelne verdammte Tag höchstpersönlich bemüht sein schlecht zu verlaufen. Die Tage teilte er schon gar nicht mehr in gute und schlechte Tage ein. Es reichte ihm mittlerweile schon, wenn ein Tag nicht in einer mittleren Katastrophe endete.

Zwar waren einige Vorfälle, wie zum Beispiel der Streit mit Wentzel im Waldstück, einigermaßen aus der Welt geschafft – wobei „aus der Welt geschafft“ mit Sicherheit der falsche Ausdruck war – aber nicht selten war das für das tatsächliche Endergebnis unerheblich. Aus irgendeinem Grund hatte sich Wentzel entschlossen dem familiären Druck nachzugeben und somit einen anderen Weg zu gehen, als es sich sein Cousin für ihn gewünscht hatte. Zwar hatte Marius Xaver damit gerechnet gehabt, dass der Jüngste in der Familie irgendwann diese Entscheidung treffen würde, doch trotzdem hatte ihn diese Erkenntnis unerwartet schwer getroffen. Nur auf Drängen seines hochverehrten Großvaters hatte er die Aussprache mit Wentzel gesucht. Kontakt hatten sie nach den wenigen klärenden Worten allerdings kaum noch.

Dieser Vorfall, sowie einige nachfolgende, hatte stark an den bis vor kurzem noch stabilen Grundpfeilern seiner Welt gerüttelt. Doch durch die Sache mit Annabell, der Bediensteten des Hauses Jehann, war schließlich endgültig alles aus den Fugen geraten. Und in all dieser Zeit war die Wut ein stiller, aber ständiger Begleiter von ihm.
Doch Marius Xaver war nicht wütend auf die anderen. Er war wütend auf sich selbst. Wie konnte er bloß so dumm sein? Die ganze Zeit hatte er sich eingebildet, dass wenn er die Bediensteten mit Freundlichkeit und Höflichkeit behandeln würde, sie ihm im Gegenzug Respekt und Wertschätzung entgegen bringen würden. Aber genau das Gegenteil war der Fall.
Die Begrüßungs- und Abschiedsworte, die er vernehmen musste, wurden immer nachlässiger – wenn er überhaupt welche erhielt. Immer mehr bekam er das Gefühl, dass eben jene Wertschätzung, die er sich erhofft hatte, gar nicht wirklich existierte; der erwünschte Respekt war nur eine Illusion seines Wunschdenkens.
Wahrscheinlich lachten die Bediensteten sogar über ihn, wenn er sich nicht in der Nähe aufhielt. Er merkte doch, wie sie tuschelten, wenn er an ihnen vorbei ging! Und wenn sie ihm ihre Dienste anboten, wie zum Beispiel den Schutz auf der Straße, dann wollten sie ihm in Wahrheit vermutlich sagen: „Wir wissen, dass du für den Patriarchen entbehrlich bist. Und wenn es soweit ist, werden wir dich im Stich lassen. Glaubst du wirklich, dass du dich auf uns verlassen kannst?!

Einer nach dem anderen würden sie sich von ihm abwenden, so wie es Menschen immer tun und es schließlich auch bis jetzt in seinen Leben immer getan haben – immer.
Geduldsam und freundlich zu sein und Jedem der Familie in seiner Eigenart entsprechend entgegen zu
kommen stellte sich als meist so diffiziles Unterfangen heraus wie das einführen eines dünnen Fadens
in noch dünneres Nadelör, wenn das Licht geizig und die Augen unter bleischwerer Müdigkeit litten.
Was ihr die letzten Wochen an Ausdauer geraubt hatten lies sich ohne eine fehlende Phase des
Müßiggangs und der Ruhe so schwer begleichen wie eine Schuld durch Leigaben. Im Versuch die
Differenz auszugleichen stahl sie sich hier ein wenig Zeit, die andern Orts wieder fehlte oder suchte
nach angenehmen Gedanken die unter zahlreichen kleineren Ärgernissen litten - ein Kampf gegen
Windmühlen.

In den letzten Wochen hatte sie die Nächte um etliche Stunden beraubt, hatte zu hunderte Säcke, Maische
und Gerste gemahlen, kistenweise frisches Gemüse gewaschen, geschält und geschnitten weil der Großteil
aller Vorbereitungen für das gewaltige Spektakel des Turniers, was die Verköstigung anging, an ihr hängen
geblieben waren wie ein entwurzelter Baum der sich auf eigentlich viel zu dünnem Astwerk ausruhte und
sie hatte ihn mit letzter Kraft gestemmt. Auf die Kirche war bereits zur Armenspeißung kein Verlass
gewesen, sie ruhte sich auf den Häusern aus und die Häuser ruhten sich auf dem Organisationstalent
der Familie Jehann aus, während ein Großteil der Familie Jehann sich auf vergleichsweise wenig Personen
aus den eigenen Reihen ausruhte.

Am Ende gründete leibliches Wohl hunderter Personen auf vier Paar Schultern ohne das es mehr als
einer Hand voll tatsächlich bewusst war. Vom Altpatriarchen kam der Wein, von Magda der Fisch
während Tische, Bänke und Becher durch Annabell beim gewissenhaften, hauseigenen Schreiner in Auftrag
gegeben worden waren. An diesem einen Abend sollten die Menschen die Sorge um die Keuche mitsamt
der Last ihres Tagewerks vergessen, sie sollten essen und trinken als wüchsen die gebratenen,
knusprigen Vögel an den Bäumen, als flösse Cervisia und Wein in den Flüssen während sie sich vom
Spektakel der Kämpfe in den Bann ziehen liesen. Dabei hatte sie, als zum zweiten Tage nach aller Arbeit
und Festevität Magda erschien - aufgebracht weil sie fehlendes Lob am rechten Platz nicht hinnehmen
wollte - nicht auch nur einen Gedanken an Anerkennung verschwendet.

Ganz rational betrachtet und darin war Annabell nicht ungeübt, war, was Magdalena beanstandete
Grundpfeiler jeder Gesellschaft. Könige ruhten sich auf ihren Untergebenen aus, und diese wiederum auf
ihren eigenen Angestellten. Zuletzt viel, was für jeden Einzelnen nur einen Handgriff bedeutet hätte, als
ganzes Tagewerk auf eine Hand voll Befähigter zurück , die ganz unabhängig von Stand oder
Berufung, der Mehrzahl regelmäßig den Arsch aus der Schlinge zogen. Wenn man also auch nur ein
Quäntchen Verstand besaß, wusste man das Potenzial dieser Menschen für sich, aber auch in ihrem
Sinne und damit im Sinne aller anderen, die oft garnichts davon mitbekamen, zu nutzen wie
zu fördern. Genauso hielt es der Patriarch der Familie Jehann und Annabell war klug genug ihm dafür
nicht nur ein angebrachtes Maß an Respekt sondern auch ihre Loyalität zu versichern, indem er ver-
trauensvoll jede Aufgabe in ihre Hände legen konnte um sie anschließend in der Gewissheit vergessen
zu können, das sie erfolgreich abgeschlossen wurde. Lob verlor an dieser Stelle seinen Wert, angesichts
dessen das sie sich immer sicher sein konnte, das es seine Beachtung fand und ihr nie zum Schaden
gereichte.
Nachdenklich musterte Marius Xaver die Zeichnung auf dem Pergament, welches am Boden ausgebreitet war. Je länger er auf diese starrte, desto größer wurde seine Unzufriedenheit. Irgendwie hatte er sich die Aufgabe deutlich einfacher vorgestellt.
Zögerlich näherte er die Feder dem runden Gebilde auf dem Papier, um eine der feinen Linien mit einem kräftigen Nachziehen das Schicksal der Endgültigkeit zu bescheren, die sie vor weiteren Veränderungen bewahren würde. Doch ehe er noch das Pergament erreichen konnte, beendete das Auftauchen einer kleinen weißen Pfote an ebenjener Stelle jäh das Vorhaben.
Rasch wurde die Feder in das Tintenglas fallen gelassen, und bevor die Katze die Skizze überqueren konnte, hatten die feinen Hände des jungen Mannes das Tier ergriffen und den Schoss gelegt. Ein protestierendes Miauen war zu hören, welches jedoch schon bald verstummte, als Marius Xaver die Katze mit Streicheleinheiten zu bestechen begann. Ein zufriedenes Schnurren löste nun das vorangehende anklagende Miauen ab.

Der junge Mann beugte sich nach vorne und hob die linke Ecke des Pergaments an. „Was meinst Du dazu? Könnte das funktionieren?“. Der Tonfall seiner Stimme war etwas gedankenverloren, während das hellblauen Augenpaar die Linien abwanderte. „Mehrmals habe ich mir alles durch gedacht.“, fügte er erklärend hinzu, „Die Berechnungen müssten stimmen, die Abmessungen ebenso. Ich hab alles mehr als einmal überprüft!“. Dabei nickte er immer wieder mit dem Kopf, wie als würde er seine eigenen Worte nochmals bekräftigend bestätigen wollen.
Mit einem fragenden Gesichtsausdruck sah er zur schweigenden Katze, die zwar die Streicheleinheiten sichtlich genoss, aber jedoch offensichtlich keine Meinung zu seinen Berechnungen hatte. Resigniert löst sich sein Blick von dieser und er sah erneut auf die Zeichnung, ehe er schließlich das Blatt losließ, um wieder zur Feder zu greifen. Mehrmals rührte er diese im Glas um und das Geräusch, das entstand, als der Federkiel die Innenseite des Tintenglases berührte, durchbrach die Stille des Raums, der sonst nur das Miauen der Katzen kannte.

Nachdem er sich sorgfältig vergewissert hatte, dass die überschüssige Tinte am Glasrand abgelaufen war, hob er erneut die Feder und visierte einen bestimmten Punkt auf der Zeichnung an. Er würde nun Nägel mit Köpfen machen und ein für alle Mal den Entwurf finalisieren. Doch auch dieses Mal zögerte er. Irgendetwas in ihm wehrte sich dagegen und hinderte ihn der Zeichnung die erforderliche Absegnung zu geben. Marius Xaver neigte zur Perfektion, das wusste er selbst. Doch bei diesem Handwerksentwurf war es etwas anders als sonst. Er wollte nicht nur einen perfekten Gegenstand, nein, er wollte etwas, das weit mehr war als das – nämlich etwas ganz besonderes. Nur die völlige Hingabe und das Herzblut konnten etwas erschaffen, dass nahe einem Wert kommen konnte, was streng genommen gar nicht erreicht werden konnte. Für eine junge Frau, die genau das und nicht weniger verdient hatte.

Plötzlich überkam ihm ein Drang das Pergament zu ergreifen und in die nächste Mülltonne zu werfen. Ruckartig schoss seine Hand nach vorne und mit wenigen Bewegungen wurde das sauber und sorgfältig bezeichnete Papier in ein zerknülltes Etwas verwandelt. Mit einer Mischung aus Resignation und Wut warf er es in eine Ecke, was die Katze zu einem blitzschnellen Sprung weg von ihm veranlasste. Als er die fliehende Katze beobachtete, entkam ihm ein leises und bedrücktes Seufzen. „Es tut mir leid, aber der Entwurf war einfach nicht gut genug. Ich will Handwerksstück, das sie zu strahlen bringt!

Niedergeschlagen ließ er den Blick zu Boden sinken. Seine rechte Hand legte sich auf die Stirn, einige der aschblonden Haare wurden dadurch nach oben gedrückt. „Hoffentlich hat Wentzel gerade mehr Erfolg als ich. Sein Beitrag wird der schwierigste Teil der Aufgabe sein. Möge er es besser hinbekommen als ich es tue …“
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