Schatten der Vergangenheit
#4
Sie war keine Schneiderin. Sicherlich, sie konnte, was jede Frau können musste: Löcher ordentlich stopfen, zerfaserte Ränder neu vernähen, das ein oder andere zu große Hemd enger fassen, und natürlich all die weniger nennenswerten Kleinigkeiten wie Knöpfe anbringen. Kurzum, sie konnte auf ihre Garderobe aufpassen - wer sollte es auch sonst tun?
Die Erfahrung reichte soweit natürlich auch aus, um vielleicht gar ein ganz, ein sehr einfaches Kleid selbst zu schneidern, was ebenso keine Seltenheit war. In einem jeden Armenviertel einer jeden Stadt unter dem Mond sah man sie, all die Straßenhändler, Wäscher und Tagelöhner in grober Kleidung, die irgendwie, ungefähr und möglicherweise besser als ein Kartoffelsack saß - zweckdienliche Stoffe aus eigener Hand, die das Notwendigste erfüllten. Marie erinnerte sich gar an die Zeit zurück, selbst so etwas getragen zu haben, und hing zuweilen sogar recht gern in Gedanken diesen einfachen Tagen hinterher, in denen sie noch wusste, wie sich warmes Straßenpflaster unter bloßen Füßen anfühlte. Sie war jedoch auch Realistin genug, um Nostalgie als Nostalgie zu enttarnen und ebenso leichthin zur Seite legen zu können, wie manches Andere aus früheren Jahren. Müsste sie tatsächlich barfuß über die Straße laufen und Kartoffelsäcke tragen, wären die Gefühle dabei weit, sehr weit von Glück entfernt, dessen war sich die Schreiberin vollends bewusst.

Und so kam es, dass sie die knappe Freizeit der letzten Tage damit zubrachte, nicht etwa verblichenen Erinnerungen nachzuhängen, sondern an etwas zu arbeiten, was sie ganz praktisch im Hier und Jetzt haben wollte: Das vermaledeite silendirer Überkleid. Während sich Brandt als echte Schneiderin mit dem befasste, wofür man nun mal Schneider brauchte, nämlich mit dem Schnitt an sich, galt es für Marie, eine angemessene Verstärkung der so tollkühnen wie wohlgeformten unteren Ränder des Kleides zu finden. Es musste weich und biegsam genug sein, um nicht aufzufallen, fest genug, um die zart zugespitzte Form zu halten, und dünn genug, um nicht durch allzu dicken Rand das ganze Stück zu verderben. Es wäre natürlich am einfachsten gewesen, das bereits vorhandene Kleid aufzuschneiden und nachzuschauen, doch was, wenn die Kopie dennoch nicht gelang? Dann würde sie überhaupt nichts mehr besitzen. So blieb raten und diverse Dinge in die Ränder der von Kalirana zubereiteten Probetücher zu stecken, um so irgendwie auf das Richtige zu kommen.

Sie hatte anfänglich gezielt angefangen: Metalldraht, feine Fischgräten, Weidenästchen, all das eben, was eine gewisse Formstabilität versprach, ohne allzu steif zu werden. Es wurde natürlich dennoch zu steif, und so griff sie irgendwann zu vollkommen zufälligen Dingen: Kettchen, Schnüre, Wollfäden, alles was man irgendwie in einen umgeschlagenen Stoffrand zwängen konnte. Womöglich war es dieses erratische Suchen, das nun, etliche Weinflaschen und Tage später, endlich etwas ergab, was erfolgversprechend aussah - eine dünne Lederschnur, die sich im Stoff verbarg und etwa jene Eigenschaften heraufbeschwor, nach denen gesucht wurde. Ob all das auch am fertigen Objekti wirken würde, ob das Leder nicht etwa zu viel Gewicht auf das Material geben und das Kleid verziehen würde, das blieb allerdings abzuwarten.

Der Gedanke entlockte Marie ein fahles Schulterzucken, als sie ihr erfolgversprechendstes Ergebnis vorsichtig einpackte. Wenn nicht, würde man es eben weiter versuchen. Alles gab nach, wenn man nur beharrlich genug blieb. Nun...fast alles.
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Schatten der Vergangenheit - von Marie Philippa Strastenberg - 25.02.2017, 14:54
RE: Schatten der Vergangenheit - von Marie Philippa Strastenberg - 13.03.2017, 12:25



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