[Schattenlos] Es ist sicher
#15
Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis die Spur schliesslich aufgenommen wurde, aber so war es immer: Die Gerechtigkeit musste sich eilen, um dem überwältigenden Griff der Bürokratie zu entkommen, um nicht in den Mühlen menschengemachter Gesetze zermahlen zu werden, bis von ihr nur noch Staub blieb. Am Ende, dass realisierte der Mann, während er den Fahndungsaufruf betrachtete, würde es genau das sein, was ihm blühte. 

'Aber davon darf die Gewissheit sich nicht schrecken lassen. Wo das Werk der Tugend getan werden muss, ist kein Raum für Zaudern und Zögern. Kein Raum für Angst vor dem Unausweichlichen.'

Ein Moment der Verwirrung, während die Augen weiterhin an den Zeilen hingen, den Gedanken folgend, die gerade durch seinen Geist gewandert waren. Wann hatte er das zuletzt gehört?

"Ein ganzer Gulden! Da kann man schon schwach werden, was?"

Die Frau hatte ihre besten Jahre ohne Zweifel schon hinter sich, ihre Finger waren gekrümmt, die Knöcheln geschwollen und der Satz zerschlissener Kleidung würde den Sommer nicht mehr erleben. In den Augen aber, in jenem Funkeln in Aussicht einer möglichen Belohnung, strahlte eine Erinnerung an früheres Feuer, an Emotionen und Wünsche. Glut, die zu Asche geworden war.

"Wir alle folgen unserer Pflicht. Manche ist einfach zu erfüllen, zu tragen wie ein bequemer Bärenfellmantel, wärmend und betörend. Und manche Pflicht fordert alles von Euch, was Ihr habt. Eure Ehre, euren Besitz, euer Leben."

Verständnislosigkeit mischte sich mit Vorsicht auf dem Gesicht, der Funke zog sich zurück um der Demut des täglichen Lebens Platz zu schaffen. Sich ducken. Ausweichen. Und schon war sie fort.

Eine weitere verlorene Seele in dieser Stadt und während er nach dem Spiegel in der Tasche tastete, lauschte er auf das Flüstern, das ihn sonst so zuverlässig geleitet hatte - aber die Stimme blieb stumm. Die Gerechtigkeit hatte nichts vor mit dieser Frau.

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Die Sünden hinterliessen immer ihre Zeichen an jenen, die sich ihnen unterwarfen. Manchmal dezent, meist aber recht offensichtlich und der fette Banker war ein gutes Beispiel dafür. Die Hemmungslosigkeit, die er in den täglichen Geschäften durch Verträge und Gesetze eingefangen und unterworfen hatte, offenbarte sich im Ventil der Fresssucht, schuf sich Raum in der Gier, mit der der Mann Essen verschlang. Am Liebsten, daran hatte Wilhelm Andras keinen Zweifel, würde er auf diese Weise auch Gold und Edelsteine, Wertbriefe und Grundbesitzurkunden verschlingen. Vielleicht sogar Menschen.

Das würde keine Rolle mehr spielen.

"Herr Areng?"

Die kleinen Äuglein verrieten nichts von der Gier, geschickt verbarg sich die Sünde hinter dem jovialen Lächeln des schnaufenden Mannes und seinem klebigen Händedruck. Das Schwitzen, da war Wilhelm sich plötzlich sicher, war auch einer der Preise, denn Areng dafür bezahlte sich in der Öffentlichkeit zu bezähmen.

"Ich habe hier etwas, was Ihr Euch ansehen müsst. Ein Einzelstück."

Auf den ersten Blick war der Handspiegel nichts Besonderes: Eine ovale Silberscheibe in einem Rahmen aus einem hellem Holz. Wenn man ihn freilich in die Hand nahm, konnte man den Irrtum bemerken: Was wie Holz erschien, war etwas Anderes, Knochen vielleicht - nur, dass kein Knochen jemals in so eine Form wachsen konnte und Bearbeitungsspuren gab es keine an dem Stück. Während der Handgriff vollkommen glatt war, trug der Spiegelrahmen eine ganze Anzahl vermeintlicher Runen - in Wirklichkeit wohl einfach das zufällige Gekritzel eines Handwerkers, der seinem Stück einen besonderen Nimbus verleihen wollte.

"Das ist wirklich ein sehr hübsches Stück, Herr Andras."

Der kurze Moment von Verwirrung paarte sich mit aufflammendem Ärger und einer feinen Note geschmeichelter Verlegenheit. 

'Er weiss, wer ich bin. Woher weiss der, wer ich bin?'

Nicht, dass das eine Rolle spielen würde. 

"Seht nur hinein, Herr Areng. Ihr habt Unrecht getan. Seht die Maßlosigkeit.

Das Lächeln gefror auf den Lippen Wilhelms, als nichts geschah. Die Magie, sonst so zuverlässig, versagte einfach und es brauchte zwei Momente schockierter Verlegenheit, um den Grund zu begreifen: Der Banker war einfach so fett, dass seine Abbildung nicht in Gänze in den kleinen Spiegel hineinpasste.

"Ich würde Euch 20 Schilling dafür geben, Herr Andras. Wie ihr wisst, sammle ich hübsche Dinge."

Der Satz war an den Flüchtenden verschwendet: Es würde eine andere, bessere Gelegenheit geben. Die Gerechtigkeit würde nicht versagen. Die Gerechtigkeit konnte nicht versagen.
Sie musste sich nur eilen, denn die Liste war noch lang.
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[Schattenlos] Es ist sicher - von Armaud - 07.02.2017, 00:27
RE: [Schattenlos] Es ist sicher - von Armaud - 06.04.2017, 14:20
Gespräche zwischen Tür und Angel - von Armaud - 09.04.2017, 22:53
RE: [Schattenlos] Es ist sicher - von Armaud - 23.04.2017, 19:44
RE: [Schattenlos] Es ist sicher - von Armaud - 10.05.2017, 18:28
RE: [Schattenlos] Es ist sicher - von Armaud - 18.05.2017, 11:34



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