FSK-18 Ein Spiel aus Licht und Schatten
#8


Das Königreich Amhran war dem Mithrasglauben treu ergeben. Das Volk von Amhran war es nicht.

Ich war in einer Welt der Mondwächter aufgewachsen. Das Lehen Ravinsthal stand traditionell treu zum alten Glauben und seinen 21 vermeintlichen Göttern. Und es stand zu den Druiden, die diesen Glauben als Oberhäupter der Mondwächter vertraten. Und doch wusste ich - wie jeder in Ravinsthal - dass das Reich und seine Könige nur durch Mithras Wirken hatte entstehen und bestehen können. Vor Mithras Ankunft, als der Mondwächterglaube noch das Leben der Menschen bestimmt hatte, war das heutige Amhran eine chaotische Ansammlung von sich bekämpfenden Sippen und Clans gewesen, die schliesslich vom Stamm der Ulgard unterjocht und versklavt worden waren. Ein ganzer Kontinent, der unter der eisernen Faust seiner Gewaltherrscher ächzte und blutete. Erst die Ankunft Mithras hatte die Menschen von diesem Joch befreit und sie in ein Zeitalter der Ordnung und des Friedens geführt. So wurde das heutige Königreich Amhran geboren. Ohne Mithras gäbe es kein Reich, keine Königswürde, keinen Fürsten von Ravinsthal. Und trotz dieser Tatsache gab es da noch immer dieses störrische Lehen, welches hartnäckig den alten Glauben bewahrte und in dem die Druiden das geistliche Leben bestimmten. Ein Lehen der Mondwächter inmitten eines Reiches von Mithras' Ordnung. Ein Widerspruch, der zu häufigen und langen Disputen mit meinem einstigen Mentor - meinem Oheim Berengar - geführt hatte. Damals war ich davon überzeugt gewesen, dass Ravinsthal ein absonderlicher Schandfleck auf dem makellosen Hermelin des Reiches sein musste, welcher über kurz oder lang durch den König und seine Kirche geläutert und missioniert werden würde. Ich hatte nie verstehen können, wieso Berengar als treuer Anhänger des Mithrasglaubens meine Überzeugung stets infrage gestellt hatte und Ravinsthal nicht als einziges Übel hatte anerkennen wollen.

Nun aber verstand ich es.

Ravinsthal war vielleicht in seiner Kompromisslosigkeit, den Mondwächterglauben zu bewahren, ein Sonderfall innerhalb des Königreichs Amhran. Aber der Mondwächterglaube hatte sich nicht allein in Ravinsthal festgesetzt. Auch in anderen Lehen schienen immer mehr Menschen zu vergessen, welches Leid Amhran einst zu erdulden gehabt hatte, als es noch unter dem Einfluss des Mondwächterglaubens gestanden hatte. 1400 Jahre in Freiheit konnten durchaus manches vergessen lassen. So schienen die Menschen mittlerweile einen fast romantisch verklärten Blick auf dieses dunkle Zeitalter der Kriege und der Versklavung zu entwickeln. Und auf die Mondwächter, unter deren Zeichen die grausame Epoche der Ulgard gestanden hatte.

Vandokir war nur der erste Mosaikstein für diese Erkenntnis gewesen. Sein Verhalten in der Kathedrale hatte mich damals noch entsetzt. Aber ich sollte bald lernen, dass es viele andere wie ihn gab; andere, die wie er einen verklärten Blick auf den archaischen Glauben eines grausamen Zeitalters entwickelten.
Meine Zeit als Anwärterin der Sonnenlegion war von der bitteren Erkenntnis geprägt, dass ich nun zwar meinen Glauben ohne Furcht vor Verfolgung würde leben und verteidigen können, aber dass dieser Glaube innerhalb des Reiches bei weitem nicht so dominierend war, wie ich es immer angenommen hatte. Immer wieder begegnete ich mitten in Löwenstein - der Wiege des Reiches und seines Glaubens - Menschen die offen die 21 Götter priesen und sich zum Mondwächterglauben bekannten. Menschen, die völlig zu leugnen schienen, wer ihnen diese Ordnung überhaupt erst geschenkt hatte. Und sie alle blieben darin unbehelligt. Jenseits der Lebensgrenzen Servanos sah es gar noch düsterer aus: Eine Mondwächterin als Baronin von Hohenquell, ein Jure als Ritter von Greifanger. Ein Jure! Keiner von ihnen folgte Mithras - im besten Fall schwiegen sie zu ihm, im schlimmsten Fall schmähten sie ihn.
Hätte es in Ravinsthal jemand gewagt, an den heiligen Stätten der Druiden die 21 zu schmähen und Mithras anzurufen, er wäre wohl nicht mit dem Leben davon gekommen. Aber hier, im Herzen des Königreichs und des Mithrasglaubens, blieben die Mondwächter gänzlich unbehelligt. Die Kirche verfolgte sie nicht und die weltliche Ordnung tat es auch nicht.

In meiner Zeit als Anwärterin stand ich dieser Erkenntnis oft fassungslos gegenüber. Bis ich lernte zu verstehen. Und ich verstand auch endlich, warum Berengar mir stets zu erklären versucht hatte, dass Ravinsthal nicht der Kern allen Übels war. Ich lernte zu verstehen, was der wahre Kern war: Opportunismus.

Das Königreich Amhran war in erster Linie eine weltliche Institution. Natürlich verstand sich der König auch als Bewahrer des Mithrasglaubens, denn man kann schlecht das leugnen, was einem erst die Daseinsberechtigung gegeben hat. Aber in Wirklichkeit ging es dem König und seinem Reich nicht um das Bewahren des Glaubens. Zumindest nicht in erster Linie. Stattdessen ging es um das Bewahren von etwas gänzlich anderem: Macht.
Macht gründet sich auf Menschen. Und Herrschaft über Menschen ist immer auch die Kunst des Möglichen. Zumindest solange man nicht die Ulgard war. Der König und seine Lehensfürsten wussten dies nur zu gut. Ihre Macht würde genau dann enden, wenn sie die Herrschaft über ihre Untertanen verloren. Und um diese Menschen an sich zu binden, mussten sie Kompromisse eingehen. Sie mussten sich arrangieren. Herrschaft als Kunst des Möglichen. Die weltlichen Herrscher konnten nicht einfach einen Grossteil ihrer Untertanen ignorieren. Oder sie unterjochen. Oder sie mit Gewalt in Scharen zum wahren Glauben zwingen. Wenn sich - aus welchen irrsinnigen Gründen auch immer - die Mehrheit der Untertanen dem Mondwächterglauben zuwandte, dann mussten sich die Herrscher damit arrangieren. Nicht der Glaube pflanzt das Korn, Menschen tun es.
Den Ulgard und ihrer Herrschaft der eisernen Faust wäre all dies einerlei gewesen. Einige Hundert Tote mehr oder weniger hätten für sie keine Rolle gespielt. Ihre Macht gründete sich auf Furcht. Gehorsamkeit geboren aus Angst; Folter und Tod als Bewahrer eines Reiches. Aber in einem Reich das der Ordnung und dem Frieden folgte, war Unterjochung keine Alternative mehr. Die einzige Alternative für das Königreich waren Kompromisse. Doch würden zu viele Kompromisse nicht unweigerlich dazu führen, dass sich das Königreich über kurz oder lang selbst zersetzte? Wenn es seinen Wurzeln im Glauben untreu wurde, würde es sich dann nicht schliesslich selbst korrumpieren? Konnte eine Regentschaft der harten Hand dem Königreich wie wir es kannten überlegen sein?
Doch wenn eine Regentschaft der harten Hand ein Reich davor bewahren konnte, sich selbst zu zersetzen, war dann Mithras Ankunft nicht nur Erlösung, sondern auch Vorbote des heutigen Zerfalls gewesen? War die blutige Herrschaft der Ulgard am Ende die stabilere Herrschaftsform? Würde die Nachsichtigkeit des Königreichs gegenüber den Mondwächtern einst den Untergang Amhrans einläuten? Und war das Lehen Ravinsthal vielleicht nur deshalb eines der schlagkräftigsten Lehen, weil es eine Herrschaft der harten Hand führte und eben keine Nachsicht übte? Fast blasphemische Fragen, die mich selbst heute noch erschrecken, denn ich habe bis heute noch keine klaren Antworten darauf finden können.

Ich habe damals, während meiner Zeit als Anwärterin, viele Gespräche über diese Fragen geführt. Wie hatte es nach dem Untergang der Ulgard dazu kommen können, dass der Mondwächterglaube wieder einen derart erschreckenden Aufschwung erlebte. Und wie konnten ein Reich und seine Kirche am besten darauf antworten. Ich erhielt viele Meinungen, aber keine Antworten. Egal mit wem ich sprach - Seligkeit Winkel, Ehrwürden Eschenbruck, Gnaden Teran, Frau Degener, natürlich Ehrwürden Schwarzstahl - sie alle hatten die Zeichen der Zeit erkannt und sie alle sorgten sich deswegen. Aber alle - Kirche und Weltlichkeit gleichermassen - schienen unschlüssig gefangen zwischen den wenig beglückenden Optionen: Ignorante Duldung? Mildtätige Missionierung? Harte Verfolgung? Inquisition?

Damals begann ich zu erkennen, dass das Leben in Ravinsthal auf eine befremdliche Art einfacher gewesen war: Ravinsthal war eine Welt von Schwarz oder Weiss, Leben oder Tod. Die Welt, in der ich nun aber gelandet war, kannte diese Trennschärfe nicht. Löwenstein, Servano und das ganze Königreich waren eine Welt in Grau - eine Welt gefangen zwischen Licht und Schatten.

Und so wie das Königreich würde auch ich stets um eine verzweifelte Balance zwischen Schwarz und Weiss ringen müssen. Dies war zugleich die bedeutendste und die bitterste Erkenntnis meiner Zeit als Anwärterin unter dem Banner der Sonnenlegion. Die Erkenntnis, dass das Spiel aus Licht und Schatten niemals enden würde. Auch nicht für eine Dienerin der Heiligen Kirche des Mithras. Vor ALLEM nicht für eine Dienerin der Heiligen Kirche des Mithras.

Erst als ich dies erkannt hatte, fand ich wahrhaftig zum Mithrasglauben.



[Bild: symbol_sonne_mond.png]

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Ein Spiel aus Licht und Schatten - von Eylis - 07.02.2016, 19:31
RE: Ein Spiel aus Licht und Schatten - von Eylis - 24.02.2016, 17:45



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