Jugendsünden 1393
#9
Erwartungsvoll schauten fast zweihundert Augen zum Ende der kleinen Kapelle, die vor zwei Generationen auf dem Familiengrund der Veltenbruchs errichtet worden war. Das Licht des jungen Tages fiel in warmen Tönen durch die hohen Buntglasfenster und tauchte die Wartenden in flüssiges Feuer. Jedes bisschen Metall blitzte im Licht und davon gab es vieles, denn zu diesem feierlichen Anlass hatte sich die ganze Familie herausgeputzt. Goldene Knöpfe an Manschetten und Reversen, silberne Ohrringe, juwelenbesetzte Ketten und schwere Ringe. Für gewöhnlich waren die Veltenbruchs ein bescheidener Schlag Menschen, der Schmuck nur sehr dezent und pointiert zur Kleidung einsetzte, doch an einem Tag, an dem man unter sich war und nur die eigenen Verwandten und einige wenige Freunde der Familie übertrumpfen musste, wurde auch bei den Veltenbruchs aufgefahren, was die Schmuckschatulle her gab. Die Luft war nicht nur geschwängert, sondern regelrecht trächtig von den Düften verschiedenster Duftwässerchen, Parfums, parfümierten Kerzen und dem aromatischen Rauch einiger Hölzer, die Vater Joachimus in die kleine Feuerschale auf dem Altar gelegt hatte. Er war es auch, der die Zeremonie führen würde, und nicht die hauseigene Priesterin Zerline. Man war überein gekommen, dass man jedem Mitglied der Familie die Gelegenheit geben wollte, die Zeremonie in vollen Zügen zu genießen und da Joachimus ein Freund der Familie war, wurde er gebeten die Hochzeit zu leiten, damit Zerline diesen Tag nicht in Gedanken an ihre Pflichten beginnen musste. Natürlich mauschelte man, dass Zerlines mürrische Miene und ihre Angewohnheit, Messen und andere Gottesdienste quälend in die Länge zu ziehen, etwas zu der Entscheidung beitrugen, aber niemand konnte wissen, ob es wirklich der Tatsache entsprach. Aus Zerlines Gesicht herauszulesen war es sicherlich nicht. Das war mürrisch wie immer und so wurde allerorten immer nur bekräftigend genickt und zustimmend gebrummt, wenn die Wahl des Priesters zur Sprache kam.
Vater Joachimus stand vor dem Altar, in jeder Hand eine jungfräuliche Kerze. Viktor fiel auf, dass der alte Mann am gestrigen Abend noch einen Barbier aufgesucht haben muss, denn das lange Haar um die Halbglatze fiel wie gestriegelt und auch der dichte Vollbart wirkte nicht ganz so struppig wie zuvor. So zurechtgemacht verlor er zwar ein wenig von dem geselligen alten Herrn, zu dessen Füßen Viktor so gern den Geschichten aus der Kirche lauschte, gewann aber gewaltig an Majestät. In dem warmen Licht, durch das der Rauch der kleinen Feuerschale träge tanzte wie ein verliebtes Paar, wirkte das Rot seiner Robe nur noch um so deutlicher. Erst recht, da er einer von nur dreien war, der so aus der Menge herausstach. In der vordersten Reihe, die traditionell den engsten Angehörigen und der Priesterschaft zustand, hoben sich auch die Roben von Albert und Zerline deutlich ab. Der Rest der Hochzeitsgesellschaft war in Weiß und Hellblau gehüllt, die stolzen Farben der Familie.
Eine kleine Musikantentruppe aus Streichern erhob sich am Rand der Kapelle von ihren Hockern, nahm Position ein und begann unaufdringlich zu spielen. Feierlich erhoben sich die Klänge und zu der Melodie von „Mithras, golden in der Höh'“ wandten sich alle Köpfe dem Eingang zu.
Als er sich umdrehte fing Viktors Blick kurz den Gwendolyns auf. Kurz starrte er das Mädchen an, ehe auch er dem Brautpaar gebührendes Staunen schenkte.

Onkel Linhart und seine Braut standen in Kleider gehüllt vor dem Altar, für die man ein halbes Haus hätte verkaufen müssen, befand Viktor. Das war standesgemäß, nicht diese fürchterliche Kreation aus Blau-Weiß, die er trug und ihn dermaßen am Kragen juckte, dass er Mühe hatte, es nicht einem Hund gleich zu tun und sich mit dem Fuß zu kratzen. Mehrmals musste ihn seine Mutter Melinda die Hand auf die Schulter legen um ihn stumm zur Ruhe zu rufen, wenn er zu arg hin und her zappelte. Selbst Vater Joachimus konnte Viktors Aufmerksamkeit nicht recht fesseln. Der alte Priester sprach so zart, so sanft und doch so raumfüllend, wie der Junge es von ihm gewohnt war. Da steckte doch der altbekannte Joachimus unter dem geputzten Äußeren. Das Brautpaar, immer wieder den einen oder anderen schüchternen Blick tauschend, als hätten sie sich eben erst kennen gelernt und nicht schon fast ein Jahr eine innige Beziehung geführt, lauschte andächtig seiner kurzen Predigt. Auch die Familie lauschte und nur selten durchbrach ein leises Hüsteln oder das Rascheln von schwerem Brokatstoff die Stille. Viktors Blick fiel auf Alberts rasierten Hinterkopf. Warum auch immer der sich eine Glatze geschoren hatte wusste er bis heute nicht. Wie eine Statue saß Albert da, oder nein, noch eher wie eine Schaustellerspuppe mit angezogenen Fäden, dachte sich Viktor. Angespannt und fest, als sei er mit Drähten befestigt. Pffft! „Das ist eine Feier, du Blödian“, nuschelte er zerknirscht vor sich hin, was ihm einen strafenden Blick seiner Mutter einbrachte, „entspann dich ein mal in deinem Leben.“ Das weckte irrationalen Zorn in ihm. Warum konnte der Kerl sich nicht einfach mal geben wie es sein sollte? Er war nicht mal ein halbes Jahr älter als Viktor und Gwendolyn und gab sich, als sei er einer der Erwachsenen.
Vielleicht bewegte sich Albert aber auch einfach nicht, weil er sonst mit dem von Gwendolyn eingepulverten Stoff der Robe in Berührung kam? Ha, das musste es sein! Der Eumel konnte sich nicht bewegen ohne sich gänzlich zu blamieren! Doch dann kam der Schwur und alle erhoben sich. Kurz wandte Viktor den Kopf zur Seite, als besonders lautes Geraschel von Stoff seine Aufmerksamkeit weckte. Alma war in der Reihe vor Gwendolyn und ihr Festtagskleid war so opulent, dass es für zwei Mädchen gereicht hätte. Sie war so über und über behangen mit Schmuck, dass sie eher wie die Auslage eines geschmacklosen Juweliers aussah, denn wie die nach der Mode Guldenachs gekleidete Dame, die sie darstellen wollte. Viktor schauderte.
Dann fiel ihm auf, dass Gwendolyn selbst abgelenkt war. Irgendetwas fesselte die Aufmerksamkeit der Cousine auf einen Teil von Almas Rücken. Er hatte keinen guten Blick darauf, aber es sah fast so aus, als griffelte Gwendolyn an Almas Kleid herum. Mädchen! Alle gleich, dachte er sich. Kaum trägt eine ein wuchtigeres Kleid mit mehr Klunkern und schon wurden sie zickig und bissig wie …
Es fiel ihm kein rechter Vergleich darauf ein. Irgendwas mit Katzen vielleicht. Aber da sich bei den Veltenbruchs ein schlanker, gerader Wuchs mit langen Beinen durchgesetzt hatte, konnte es auch was mit Pferden sein. Egal!, schalt er sich in Gedanken. Mädchen sind eh langweilig. Und Pferde erst recht, weil Mädchen Pferde mochten.
Als er sich wieder auf Albert konzentrierte musste er feststellen, dass dieser sich doch recht behaglich erhoben hatte. Kein Zeichen einer Einschränkung, nichts, was darauf schließen lassen könnte, dass er sich absichtlich zurück hielte um ein Jucken zu meiden. War Gwendolyns Mixtur vielleicht doch nicht so effektiv gewesen, wie sie es angekündigt hatte? Zu seinem Zorn mischte sich nun ein Gefühl, das er nicht einordnen konnte. Teils war er sehr selbstzufrieden, weil Gwendolyn eben doch nicht die Meisteralchemistin war, für die seine Eltern (und so gut wie jeder andere) sie hielten, teils verstimmt über den Misserfolg der von langer Hand geplanten Aktion.
Jäh wurde er aus seinen Gedanken gerissen, als Vater Joachimus seine Kerze anhob, damit Linhart die Kerze seiner Braut daran entzünden konnte. Es wurde mucksmäuschenstill, als er zu sprechen anhob.
„Mithras ist das Licht der Welt.
Ich aber will sein das Licht deines Lebens.
Von nun an und immerdar.
Dies gelobe ich in Mithras‘ strahlendem Angesichte."
Seine Braut sprach denselben Schwur und entzündete die Kerze des Onkels an der des Priesters, nur um sie Linhart dann zurück zu reichen. Viktor hatte nicht viel für Romantik über, doch auch ihn ergriff dieser Moment und brachte das Tosen der Gefühlsregungen in ihm für einen Augenblick zum Schweigen. Er bemerkte, wie seine Mutter jappste und sich mit einer Hand Luft zufächelte, während sie mit der anderen Hand nach Janusch griff. Dann beendete Joachimus die Zeremonie.
"Der Herr Mithras hat die Glut in eure Herzen gelegt, die hier vor Seinem Angesichte zur Flamme wurde. So wie das Licht der Welt ewig über uns erstrahlt, soll auch das Licht eures Bundes niemals erlöschen. So gebietet es die Ordnung. Und jetzt küsst euch schon!"
Sie küssten sich, die Menge jubelte. Viktor nicht. Er beobachtete Albert.

Unter Hochrufen wurde das Brautpaar aus der Kapelle begleitet. Kinder, die für Viktor, obwohl er selbst nur ein paar Jährchen älter war, nervende krakelende Quälbeutel darstellten, warfen mit Blumenköpfen und Blütenblättern und gingen der Prozession lärmend voran. Dabei teilten sie sich nach eigenem Gutdünken auf und verteilten ihre florale Fracht überall über dem Gutshof. Nur wenige hielten sich an die Vorgaben ihrer Eltern und bestreuten auch den richtigen Weg, hin zum großen Garten hinter dem Haupthaus, wo schon Tische und Bänke bereit standen.
Die Erwachsenen dagegen bestürmten die frisch Getrauten mit Glückwünschen, Handschlägen, Schulterklopfern und noch viel mehr Hochrufen. Bedienstete kamen herbei um auf Tabletts Erfrischungen anzubieten, aber Viktor wusste genau, was es mit diesen Erfrischungen auf sich hatte. Das war Schnaps und Wein und wenn man davon zu viel trank, wurde man alles andere als frisch. Im Alchemieunterricht mussten Gwendolyn und er auch gelegentlich mit Alkohol hantieren, doch der Lehrer achtete immer aufs Peinlichste genau darauf, dass die beiden bloß nicht davon tranken. Umso seltsamer, dass die Erwachsenen es nur so in sich hinein stürzten. Auch das Brautpaar ließ sich das eine oder andere Gläschen schmecken.
Janusch schob Viktor auf Onkel Linhart und seine Ehefrau zu.
"Gratuliere, Viktor!"
"Ich will aber nicht", protestierte er. "Ist doch nicht meine Hochzeit."
"Das macht man aber so. Das ist nur höflich", beharrte sein Vater und verstärkte den sanften Druck, mit dem er den Jungen in Richtung des Brautpaares lotste. Viktor rang es sich ab, beiden förmlich die Hand zu schütteln und ein paar Glückwunschworte heraus zu stammeln. Zu seiner Überraschung schien es dem Brautpaar kaum etwas aus zu machen, und sie bedankten sich lachend bei ihm und gingen sogar extra etwas in die Hocke. Unter all den Dingen, die ihn erzürnten, und derer gab es sehr viele, brachte so etwas das Fass fast immer zum Überlaufen. Wenn Erwachsene vor ihm in die Hocke gingen, dann behandelten sie ihn wie ein Kind und das war er schließlich nicht mehr. Er hüpfte und tanzte ja auch nicht mit Pflanzenabfall über den Hof und schrie dabei wie mit der Heugabel abgestochen. Was die Eskalation gerade noch so abwand war die mahnende Vatershand auf der Schulter des Burschen, die sanft aber bestimmt ein stummes Pass-bloß-auf-Junge-oder-es-setzt-was ausdrückte. Erleichterung durchströmte ihn, als der Pflichtteil erledigt war.

Er lungerte eine Weile am Brunnen und beobachtete die Gesellschaft, die sich grüppchenweise auflöste um dem Garten zuzustreben. Als der größte Teil hinter das Haupthaus verschwunden war, folgte auch Viktor nach. Gwendolyn hatte er irgendwann aus den Augen verloren.
Im Garten war eine kleine Bühne errichtet worden und mehrere bunt bemalte Pfosten dienten mit hoch in der Luft hängenden Girlanden als Abgrenzung. Alles war so randvoll mit Blumen und die Luft so voll ihres Duftes, dass sich Viktor fast der Magen umdrehte. Die Tische bogen sich leicht durch unter der Last der ganzen Speisen und man hatte sogar extra einen Süßwarenbäcker aus Hohenkliff kommen lassen, der einen eigenen Tisch nur mit seinen klebrigen Waren gefüllt hatte. Die Kinder, deren Eltern nicht auf sie geachtet hatten, waren innerhalb kürzester Zeit zu widerlichen Zuckerkreaturen geworden, an denen alles haften blieb, und die sich dennoch weiter bedenkenlos alles in den Mund schoben, das auch nur im Ansatz nach Praline aussah. Eine haarende Katze, die alle streicheln wollten, dazwischen herum schnurren zu sehen, machte den Anblick keineswegs angenehmer.
An das Hauptgebäude angrenzend war eine kleine Bühne errichtet, von der aus die Musikanten gerade ihre Kunst auf die Feiernden nieder rieseln ließen. Zwischen den Stücken durften Verwandte und Freunde noch einmal, in Anekdoten verpackt, ihre Geschichten mit dem Brautpaar zum Besten geben und gegen Ende sollte Albert sein Traktat vorlesen. Die Bühne war ein recht einfacher Aufbau, aber auch hier hatte man es sich nicht nehmen lassen, über ihr schwere Vorhänge und mehr Blumengestecke als Viktor es für schicklich erachtet hätte, zu befestigen. Die Bühne hatte so etwas von einem dicken, bunten Schweinchen auf dünnen Stelzen.
An einem der Tische fand er Gwendolyn, die versonnen einige kleine Würstchen und ein halbes, hartgekochtes Ei auf ihrem Teller hin und her schob. Viktor fiel auf, dass das Eigelb durch irgendwas anderes ersetzt worden war.
„Er kratzt sich gar nicht.“ Ihre Stimme klang enttäuscht. Weniger, weil Albert keinen Juckreiz zu spüren schien, sondern eher, weil ihre eigenen Fähigkeiten nicht so weitreichend waren, wie sie dachte.
„Schon viel früher gemerkt.“ Lässig, wie er dachte, lehnte er sich an den Tisch, aber seine Augen taxierten die Menge nach auffälligen roten Roben.
„Was machen wir jetzt?“, fragte Gwendolyn und drehte sich ihm zu. Beiläufig schnappte er das Ei von ihrem Teller und schob es sich in den Mund.
Noch immer kauend antwortete er ihr: „Wir müffen ihm moch härter treffem alf vorher.“
„Bah“, quittierte sie sein Kaureden und starrte ihm angewidert auf den Mund. „Wie sollen wir das...“
Viktor schnitt ihr mit einer gehobenen Hand das Wort ab. Am anderen Ende des Gartens sah er Albert. Und dieser sah ihn. Viktor hob, die Backen noch voller Ei, die Hand, um einen fröhlichen Gruß zu mimen. Gwendolyn tat es ihm hastig gleich. Albert winkte nicht.
Obwohl immer wieder Leute ihr Blickfeld durchkreuzten, hielt der Bursche in der Farbe der heiligen Kirche Mithras' den Blick lange aufrecht. Zu lange.
„Wir sind am Almarsch“, flüsterte Viktor, das Lächeln tapfer weiter tragend.
„Warum?“ Gwendolyns Rotschopf wandte sich wieder ihm zu.
„Er weiß bescheid.“
"Novizen, die ich segne, sind großindoktriniert. Nicht."
-Elian


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