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Normale Version: Jugendsünden 1393
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Inhaltsverzeichnis
Akt 1: Einleitung Akt 2: Begnungen Akt 3: Rot wie Hagebutten
Akt 4: Die Feste feiern wie sie fallen
  • 4.1 Wer andren eine Grube gräbt (Viktor)


    Der lange Weg nach Silendir

    Er hoffte wirklich, dass dieses endlose Wandern bald ein Ende finden würde. Jeden Tag wurden die Schmerzen in seinem Bein schlimmer, zu Beginn der Reise konnte er noch darauf hoffen nach jeder Rast zumindest für eine halbe Stunde von Krämpfen verschont zu bleiben. Doch seit zwei Tagen begann das Bein schon beim Aufstehen zu krampfen und Abends dauerte es bis lang in die Nacht ehe die Schmerzen abgeklungen waren. Dazu kam eine unerträglich schwüle Hitze an den Tagen. Aber zumindest hatte Vater Joachimus gesagt, dass sie vermutlich am heutigen Abend ihr Ziel, das große Herrenhaus des Stellmacherzweigs der Familie Veltenbruch in Silendir, erreichen würden.

    Und wozu ertrug er das Ganze überhaupt? Eigentlich war diese Frage recht einfach zu beantworten: Sein Onkel Linhart würde heiraten, also erwartete man sogar von ihm, dass er zu Besuch kommen würde, also würde er dort seine Familie nach 6 Jahren wieder treffen. Und dann war die Frage wiederum doch nicht so einfach zu beantworten, denn zum einen kannte er seinen Onkel Linhart kaum, zum anderen den Rest seiner Familie noch viel weniger und also war ihm gar nicht so recht klar, was man denn nun von ihm erwartete. Vor allem würde er seine Mutter Zerline dort wiedertreffen. Das bereitete ihm die größten Sorgen. Wie verhält man sich einer Frau gegenüber die einen, wohl für einen guten Preis, an die Kirche verkauft hatte? Wobei, streng genommen musste man wohl davon ausgehen, dass diese Entscheidung von seinem Vater Ludovig getroffen wurde. Dennoch, seit diesem Unfall hatte er auch kein Wort mehr mit seiner Mutter gewechselt. Würde das nun von ihm erwartet werden? Wahrscheinlich und das belastete ihn mehr als alles andere. Er würde es auf sich zukommen lassen und genau das hasste er wie kaum etwas anderes in der Welt: Nicht im Vorfeld analysieren zu können was das Richtige zu tun sei.

    Unwillkürlich erschien ihm das lächelnde Antlitz seiner Mutter vor Augen und aus diesem Bild nahmen die Gedanken ihren weiteren Gang. Furchtbar fröhliche Gedanken, ja, seine Mutter konnte damals durchaus liebevoll sein. Er vertraute ihr, er liebte sie. Wann immer sein Vater ihn am Tage zu sehr gegängelt hatte, ihn zu weit treiben wollte, von ihm Dinge verlangte, welche er schlicht und ergreifend nicht tun konnte, dann war sie für ihn da. Damals verstand sie es vortrefflich ihn aufzufangen, er fühlte sich als ihr Sohn und das fühlte sich gut und richtig an. Das war natürlich alles vor dem Unfall.

    Als er merkte, dass ihm eine Träne die Wange hinablief schlug er sich selber einmal auf sein rechtes Bein. Der Schmerz war mehr als ausreichend solche furchtbar unnötigen und dummen Gedanken aus seinen Kopf zu vertreiben. Das hatte er sehr schnell gelernt. Wer sich in seinem Schmerz badet, bietet ihm zu viel Raum und verschwendet Zeit, besonders wenn es um Vergangenes ging. Deshalb war es nötig sentimentale Anwandlungen möglichst schnell bei Seite zu schieben. Denn diese waren viel tückischer als der körperliche Schmerz in seinem Bein. An diesen konnte man sich beinahe schon gewöhnen, natürlich war es unangenehm und natürlich schränkte er ihn ein, aber immerhin nur den Körper und sein Körper war klein und schmächtig, und mit diesem Bein ohnehin beinahe gänzlich nutzlos. So war es leichter und klüger den körperlichen Schmerz zu ertragen und dafür den Kopf und den Verstand freizuhalten. Außerdem, kam ihm nun, nachdem er auch von den Schmerzen nicht mehr so sehr abgelenkt wurde, in den Sinn, dass es sich für ihn ja ohnehin ganz trefflich gefügt hatte. Der Tempel war sein zu Hause. Dort war er noch nützlich auch wenn er außer seinem Kopf kaum etwas anzubieten hatte. Noch war er zwar kein Novize, denn dies konnte man ja erst nach der kleinen Indoktrination werden, doch war es sich heute schon sicher einer zu werden, sobald er die Möglichkeit dazu hatte.

    Er musste nur auf Mithras Führung vertrauen und es würde sich auch alles Kommende fügen. Er war gespannt auf seine Vettern und seine Kusine. Er konnte sich kaum mehr an sie erinnern und sie waren allesamt im gleichen Alter wie er. Sicher würde es interessant mit ihnen zu sprechen, denn er es gar nicht mehr gewohnt mit Menschen seines Alters zu sprechen. Soweit er es überblicken konnte, und das konnte er nach 6 Jahren im Tempel sehr gut, war er mit Abstand der Jüngste im Tempel. Wobei dieser Abstand immer geringer wurde je mehr er sich seiner kleinen Indoktrination näherte, aber in jedem Fall gab es außer ihm im Moment niemanden im Tempel dem es gegeben war seine Bestimmung schon in so jungen Jahren zu erkennen. Er war gespannt darauf wie es seinen Vettern und seiner Kusine diesbezüglich ergangen ist. Ob sie schon alle wussten, was mal aus ihnen werden würde? Man könnte sich sicherlich trefflich mit ihnen unterhalten und dabei viel Spaß haben. Zumindest hoffte er das. Vater Joachimus meinte, dass wohl zumindest sein Vetter Viktor gute Anlagen zeigte und sich gerne Geschichte aus der Kirche, vor allem der Legion anhörte. Deshalb dachte Albert sich, dass Viktor wohl in Vergleich zu ihm viel größer und stärker sein musste, denn sonst fände er wohl die Legion nicht so spannend. Gewisslich aber wäre er sehr klug und vernünftig, mit ihm würde er sich wohl am besten verstehen.

    Vielleicht könnte er ihm sogar noch helfen etwas an seinem Traktat etwas zu verbessern. Dieser war das Geschenk, welches er seinem Onkel zur Hochzeit überreichen wollte. Er hatte sich viel Mühe gegeben und zwei ganze Wochen nur darüber nachgedacht wie gut eine Ehe doch im Sinne der mithrasischen Ordnung ist, deshalb hatte er ihn auch „Über die mithrasgefällige Ordnung in der Ehe“ genannt. Er hatte ein besonders gutes Papier gewählt und sich beim Schreiben viel mehr Mühe als sonst gegeben. Das war ja eigentlich ein großer Blödsinn, aber irgendwie wurde das wohl erwartet und es hatte ihm tatsächlich auch Spaß gemacht. Sicherheitshalber hatte er aber noch ein paar Bögen Papier dabei, damit er, wenn ihm noch etwas Besseres einfallen sollte, es sogleich niederschreiben konnte. Möglicherweise würden seine anderen Vettern und seine Kusine auch noch eine gute Idee haben? Er konnte ein kleines Lächeln nicht unterdrücken als er sich vorstellte, wie er mit seinen Altersgenossen zusammensaß und sie den Traktat noch verbesserten, das würde sicher ein großer Spaß werden.

    Dieser Moment des relativen Optimismus sollte jedoch nur recht kurz währen. Vor ihm erhob sich ein sachter Hügel, der die meisten Wanderer nicht im Mindesten interessiert hätte für ihn jedoch eine höchst unangenehme Herausforderung darstellte. Kurz überlegte er ob er Vater Joachimus um eine kurze Rast bitten sollte. Er entschied sich dagegen, die Krämpfe würde noch lange nachhallen, sodass eine kurze Rast ohnehin nicht zielführend gewesen wäre und so war es gewisslich am Klügsten diese Gelegenheit zu nutzen um sich weiter im Ertragen von Unabänderlichem zu üben, so war die Chance auch größer, dass sie ihre Reise tatsächlich noch heute beenden würden. Und wie richtig es ist, solcherlei Unbill zu ertragen wenn ohnehin wenig oder nichts daran geändert werden kann, zeigte sich, als sie am Ende der Steigung ankamen und in der Ferne schon das Herrenhaus zu sehen war.
Zwischen zwei Spiegeln zu stehen kann einem die Seele stehlen, hatte er die Wäschemagd einmal munkeln gehört. In diesem Moment glaubte Viktor daran, und wenn es ihm nicht die Seele stahl, so doch zumindest die Nerven. Die Tür zu seinem Zimmer stand sperrangelweit offen und in dem Raum gegenüber saß seine Mutter Melinda vor ihrem Frisiertisch und richtete sich die Haare. Er dagegen stand in seinem Zimmer vor dem Ankleidespiegel und warf ihr so immer wieder missmutige Blicke zu, die sie mütterlich weglächelte. Ihm fiel durchaus auf, dass das Lächeln immer schmaler wurde, als sich immer mehr ihrer Geduld abzureiben begann.
Janusch, sein Vater, und zu diesem Zeitpunkt lang über seine Toleranz dem Jungen gegenüber hinweg, stand neben ihm und zupfte das Hemd zurecht, das Viktor über gestreift hatte.
"Stell dich nicht an, Viktor. Ich hab es für dich gekauft, damit du auf Linharts Hochzeit was anständiges zum anziehen hast." Die Worte führten nur dazu, dass Viktor ihn finster anstarrte. Noch immer fummelte er an den Ärmeln herum, die so perfekt passten, dass es ihm ein Graus war.
"Du siehst bezaubernd aus, Schatz.", hallte es aus dem gegenüber liegenden Zimmer herüber.
"Ich verstehe nicht, warum! Ich habe gute Hemden. Und die sind allesamt schöner als das hier!" Wer mochte schon gestepptes Weiß-Blau? "Ich könnte das Rote anziehen?" Sein versöhnlicher Ton war ein Friedensangebot. Eine entgegen kommende Schmeichelei, um die Eltern davon zu überzeugen, dass hier doch alle an einem Strang zogen.
"Nein Viktor", schaltete sich wieder Janusch ein. "Das hast du erst letzte Woche bei deiner unsäglichen Kletterei in der Scheune der Dachhebers eingerissen, wie du sehr wohl weißt. Du wirst in den Familienfarben zur Hochzeit gehen. Wie alle."
"Albert nicht!"
"Albert kommt auch aus dem Tempel. Er hat das Rot der Kirche angelegt."
Albert hatte es gut. Der durfte im Tempel leben und bekam hautnah die Verehrung des Volkes zu spüren. Er durfte mit den Legionären leben und all den tollen Geschichten lauschen, die sie vom abenteuerlichen Kampf gegen Dämonen, Hexen und Drachen zu erzählen hatten. Er konnte es kaum abwarten mit ihm zu reden.
Viktor brummte vor sich hin. Das gefiel ihm alles nicht. Seit längerem schon spürte er in sich eine Unruhe, eine Unzufriedenheit mit der Situation, die ihm regelrecht unter den Fingern brannte. Seit kurzem brannten seine Eltern darauf, dass er, wie jeder tüchtige Veltenbruch ein Handwerk erlerne und sie hatten für ihn entschieden, dass dies die Alchemie sein sollte. Wie er es doch hasste. Tue dies im richtigen Verhältnis zu dem, lasse jenes zu jenem tropfen, seie das da durch das Sieb, stelle die Kerze unter das andere und oh bei Mithras leg das bloß wieder weg, Viktor! Solche Dinge hörte er täglich und sie hingen ihm zum Hals raus.
In letzter Zeit hatte er sich immer wieder weggeschlichen, zu Vater Joachimus, der nun aber schon seit Tagen weg war, um Albert aus Löwenstein abzuholen. Bei dem alten Mann konnte er ein wenig zur Ruhe kommen. Oder viel eher, seinen Unmut über alles und jeden in die Welt entlassen. Vater Joachimus war nicht einmal dann aus seiner heiter-ernsten Ruhe zu bringen, wenn Viktor Steine durch die Gegend trat. Den hätte es sicher sogar gefreut, wenn Viktor das rote Hemd angezogen hätte, Flicken am Ellenbogen hin oder her.
Viktor wehrte die zurecht zupfende Hand seines Vaters durch eine Drehung der Schultern ab und sah im Spiegel, wie seine Mutter sich die Haare hoch steckte. Sie hat es nicht leicht, dachte er. Seit Janusch sie geheiratet hatte, musste sie immer wieder beweisen, dass sie der Familie doch würdig war. Meist schaffte sie es ganz gut dadurch, sich als zuverlässige Arbeiterin zu präsentieren, aber gelegentlich, wenn sie Angst hatte, zu sehr wie die Schankmagd zu wirken, die sie damals nun mal gewesen war, protzte sie mit allem, was die Kosmetik, der Juwelier und der Schneider her gaben. Seine Mutter so um Aufmerksamkeit kämpfen zu sehen machte Viktor nur noch wütender.
„Die anderen müssen das sicher auch nicht! Sich so blöde raus putzen! Onkel Holger zwingt die nicht!“
'Die anderen'. Das waren schon immer die Geschwister Lucius, Welf und Gwendolyn gewesen. Seine Cousins und seine Cousine. Das Verhältnis war ein wenig gespalten, aber im allgemeinen verstand man sich. Vor einigen Jahren noch wurde man zum spielen immer zusammen gesteckt, freilich erst, wenn alle Pflichten erledigt waren, die man im jungen Alter so hat, und besonders mit Welf kam Viktor gut aus. Viktors Wut auf seine Situation ergänzte sich hervorragend mit Welfs Verständnis für Streiche und er sorgte, allein schon durch seinen Altersvorsprung, dafür, dass Viktors Streiche nicht allzu boshaft wurden. Lucius dagegen hielt sich meist etwas abseits. Er war einer der wenigen Veltenbruchs, der an der Waffe unterrichtet wurde und Viktor war schrecklich neidisch. Und dann war da noch Gwendolyn. Seine Cousine wurde auch in der Alchemie unterrichtet und bewies erstens größeres Talent und zweitens größeres Durchhaltevermögen. Mehr als einmal durfte er sich schon anhören, wie geschickt sie darin wäre.
„Die 'Anderen', junger Mann, sind deine Verwandten. Und die müssen auch nicht gezwungen werden, weil sie das von sich aus machen.“ Der tadelnde Tonfall war so wenig zu überhören wie er unbeabsichtigt war. Janusch hatte ein Talent dafür.
„Und überhaupt, Viktor, könntest du dir mal ein Beispiel an ihnen nehmen. Denk nur an die kleine Gwen. So ein liebes Ding und was für Fortschritte sie gemacht hat.“
Das Fass lief über. Viktor riss sich von den korrigierenden Händen seines Vaters los, zog das Hemd über seinen Kopf und warf es in die Ecke, wo es eine Hauskatze aufscheuchte, die eiligst das Weite suchte. Dann trat er gegen den Spiegel, der daraufhin an der unteren Ecke einen kleinen Riss bekam und stürmte davon.
Wie im Gleichklang seufzten seine Eltern enerviert. Melinda war sich sicher, würde sie jetzt ihr Haar nach grauen Strähnen untersuchen, so würde sie mehr finden, als ihr gut tat. Janusch starrte den Spiegel an. Das Ding war sündhaft, Mithrasvergib, teuer gewesen.
„Neue Stiefel wird er auch brauchen.“ Nebenan seufzte Melinda gleich noch einmal.
„Langes Fädchen, faules Mädchen“, feixte Cousine Alma hämisch von gegenüber. Gwen gab vor, sie nicht gehört zu haben und mühte sich mit heißen Fingern weiter daran ab, den viel zu langen, dicken Faden in das dünne Nadelöhr zu schieben. „Wir besticken die Hochzeitsdecke!“, hatten sie gesagt. „Wird ein Spaß!“, hatten sie gesagt. Pah. Spaß. Sehnsüchtig schaute die 12-Jährige aus dem Fenster. Welf rannte draußen mit einer Promenadenmischung, die er Mithras weiß wo aufgegabelt hatte, um die Ecke. Er hatte ihr einen sonnenlegionärlichen Umhang gebastelt, der täuschend echt aussah aus der Ferne. Lucius schien ihn grade auszuschimpfen für seine Freveltat, aber der ältere Bruder verwickelte ihn in eine Rauferei, anstatt mit ihm zu diskutieren. Nichts Ernstes, soweit Gwen das beurteilen konnte. Welf wusste eben, wo seine Stärken lagen.

Es war warm in der Stube. Vierzehn Köpfe in unterschiedlichsten Rottönen beugten sich über das satte Weiß der Decke. An allen Ecken herrschte Geplauder und Gelächter vor. Man fühlte sich wohl miteinander, man kannte sich gut und vertraute einander. Gwen kannte es nicht anders. Und trotzdem wünschte sie sich zum zweiten Mal fort. Wenn der blöde Faden nur nicht so widerständig wäre! Sie schaute neidisch nach links und rechts, wo zwei ältere Veltenbruchtanten im flotten Tempo der erfahrenen Näherinnen dahinstickten, als gäbe es kein Morgen. Die brauchten nicht mal hinsehen!

Das Korn draußen wogte und es wäre ein perfekter Tag gewesen, Welf auf dem gemähten Feld drüben bei einem Wettrennen abzuhängen. Sie hätte auch gerne mit Weidenrinde herumgepanscht oder sich überlegt, wie man Wachs schneller zum Schmelzen brachte. Wie gerne hätte sie sich in die Küche verkrochen und dem Geschwätz der Mägde gelauscht, die stets skandalöse Geschichten über ruchlose Mondwächter zu berichten wussten, die sich nicht um Recht und Ordnung scherten. Wenn sie sich still genug verhielt, vergaßen sie nach einer Weile ihre Anwesenheit. Irgendwann verkroch sie sich dann meistens mit roten Ohren unter dem Kachelofen, schlief ein und erwachte, weil es nach Brot roch. Was war schöner als das? Vielleicht hätte sie draußen auch Lucius überreden können, mit ihr Fangen zu spielen. Er hielt sich ja zu alt für solche Kinderspielchen, aber wenn sie ihm lang genug auf der Nase herumtanzte, ließ er sich doch gutmütig breitschlagen. Das war eine von Gwens Stärken. Sie kriegte immer, was sie wollte. Wenn nicht grade Cousine Alma zu Besuch war, weil ein großes Familienfest bevorstand, war sie das Nesthäkchen am Hof. Ihre Brüder und gleichaltrigen Cousins waren noch die resistentesten, die konnte man nicht so leicht um den Finger wickeln. Am einfachsten war Onkel Janusch. Ob es nun eine Hütte im Wald zum Spielen war, Schmuck aus Holz oder eine Angel – Gwen brauchte nur fragen. Sie liebte Onkel Janusch dafür heiß und innig und der kauzige Onkel dankte es ihr mit Erzählungen über allerhand verrückte Erfindungen. Jedes Mal versprach er ihr, er werde ganz bestimmt am selbstdrehenden Kochlöffel weiterforschen. Janusch würde auch bald anreisen. Und mit ihm Viktor, Gwendolyns gleichaltriger Cousin. Dauernd zündelte er herum während der Alchemielektionen, die sie manchmal gemeinsam erhielten. Während Gwendolyns Hand ständig in die Höhe schnellte, interessierte Viktor sich nur für Flammen, Zunder und Wachs. Dabei war er gar keine schlechte Gesellschaft und rennen konnte der auch.

Und sie saß hier drin und bestickte diese öde Decke, wo sich doch so viele andere Möglichkeiten zur Beschäftigung geboten hätten! Alle sollten sie mitmachen, hatte es geheißen. So verlange es die Tradition. Jede solle ein Stück von sich hineinlegen, jede gab ihr Bestes und es tat nichts, wenn das Beste nur ein Saum war wie bei Gwen. Alma hatte sich eben über das Hochzeitsgeschenk gebeugt und zeigte ihrer Mutter die Stelle, für die sie verantwortlich war. „Schau, und das da ist Onkel Linhart! Und da bist du, die da vorne bin ich“ „Und was ist das für ein hübsches Pferd?“ Alma lachte kokett. „Aber Mama, das ist Gwendolyn!“ Die sprang wie von der Abyssnatter gebissen auf, wobei sie leider feststellen musste, dass Kreuzstich nicht ihre Stärke war. Statt den Saum einzunähen, hatte sie den Stoff der Decke an ihrem eigenen Rock festgenäht. Aber noch hatte es keine bemerkt. Jetzt bloß nicht auffallen! Zornesrot ließ sie sich wieder niederfallen. Eine liebevolle, mütterliche Hand streichelte ihr über den Karottenschopf. „Brav, Gwendolyn. Du lernst ja doch noch, dich zu beherrschen.“ Alma schaute sauertöpfisch drein. Gwen grinste auf ihren windschiefen Saum hinunter und nestelte unter der Decke mit einer spitzen Schere herum. Sollte Alma nur weiter Pferde mit Gwens Gesicht drauf sticken, lang würde es Gwen hier nicht mehr halten. War doch auch egal, was die fabrizierte. Nach der Hochzeit würde sie bald aus Gwens Dunstkreis verschwunden sein.

Währenddessen entspann sich ein Gespräch zwischen den erwachsenen Veltenbruchfrauen, die unterdrückt sprachen, obwohl sie unter sich waren. „Habt ihr gehört? Albert wird kommen.“ Tante Theresia, die Schneiderin und in vielen Aspekten Gwens Vorbild war, schaute auf und kommentierte knapp: „Der arme Tropf.“ Alma und Gwen warfen sich einen Blick zu. Jetzt hieß es, stillzuhalten, ehe den Erwachsenen wieder einfiel, dass sie sich vielleicht zügeln sollten. Da konnte man sich noch so spinnefeind sein, das durfte man nicht verpassen. Die Cousinen gaben sich größte Mühe, Interesse für die Decke zu heucheln, während sie die Ohren spitzten. Gwens Mutter äußerte sich: „Ich wünschte, Zerline hätte sich die Sache noch einmal überlegt.“ Jemand fragte, wo Zerline abgeblieben sei. „Betet“, war die lapidare Antwort. Keine sagte etwas. In einem mithrasfürchtigen Haus war es schließlich eine anerkannte Beschäftigung, seine Schritte zur Kirche zu lenken. Und doch lag da ein unterschwelliger Vorwurf in diesem einen Wort – „Betet“. Zerline hatte ihr Kind an die Kirche in Löwenstein gegeben, soviel wusste Gwendolyn. Die 12-Jährige machte sich wilde Vorstellungen zu dem weitgehend unbekannten Vetter Albert. Jemand seufzte. „Armer kleiner Albert, muss sich hierher plagen mit seinem schlechten Bein.. wir sollten uns gut um ihn kümmern.“ Man ermahnte sich gegenseitig, Albert die besten Stücke beim Essen zuzuschieben. Ihm sollte auch einmal etwas Gutes getan werden. Gwen schnappte auf, wie bewundernd man über den Vetter sprach. Er werde einmal ein großer Priester, da waren sich die Rotschöpfe im Raum ganz einig.

Eine Welle des Mitleids erfasste Gwendolyn. Eigentlich war sie bisher vor allem eins gewesen, wenn sie an Albert gedacht hatte: neidisch. Er verkörperte ein Musterbild, das den Kindern im Haus gerne vorgehalten wurde. Sie hatte den Verdacht das geschah vor allem auch deshalb, weil der gute Albert ja nie unter Beweis stellen konnte, ob er diesem Bild überhaupt entsprach. Natürlich war es leicht, zu sagen: „Kannst du nicht mehr wie Albert sein?!“, wenn der nicht einmal protestieren konnte. Gwen nahm sich vor, nett zu Albert zu sein. Er hatte schließlich nicht nur einen schlechten Fuß, sondern auch eine schlechte Mutter. Dagegen war ihr Leben schließlich ein Zuckerschlecken.

Die Tür flog auf, dann knallte es und ein scheußlicher Gestank breitete sich aus. Gwen jauchzte begeistert. Entrüstete weibliche Stimmen überschlugen sich, während Fenster aufgerissen wurden und Cousine Alma Würgegeräusche über der Decke machte, die eilig zusammengerollt wurde. Schweinemistbombe.. sie wusste genau, auf wessen Mist das gewachsen war und tauchte in der Aufregung ab, um den Unruhestifter zu finden..
Auf Gwens Kopfkissen war ein nasser Fleck. Hatte sie geweint? Eine vorwitzige Himmelfahrtsnase schob sich ans Kissen und den zerzausten Rotschopf der Jüngeren heran und der dazugehörige lange Lulatsch hockte sich neben das Bett. Alles Leben am Hof lag in trägem Schlummer, nur von Ferne trug ein Lüftchen das Geplauder der Milchmägde heran, aber nicht mal die konnten sich zu großer Aktivität aufraffen um diese Uhrzeit. Die Sonne, Diktatorin des Lebens am Hof, schickte ihre ersten Strahlen durch die offenen Fenster. Draußen ging ein lauer Wind, der noch erfrischend war, aber es würde ein drückend heißer Tag werden, genau wie die letzten.

Die Schlafende lächelte selig. Es war ein friedliches Bild. Ein perfektes Bild. So sollte ein Sommermorgen sein. Welf zwickte den Grashalm zwischen seine Daumen und trötete Gwendolyn entschlossen aus dem Schlaf. „Huammmpf!“, kam es unter dem roten Vogelnest hervor. Ein Speichelfaden hing ihr aus dem Mund. Unsanft boxte sie Welf gegen die Schulter, dann ließ sie sich wieder hinfallen. Die Vogelnestbesitzerin zog sich das Laken über den Kopf und warf sich unwirsch herum. Für Decken war es schon viel zu heiß. „Komm mit, Karotte!“, lockte eine ekelhaft muntere Stimme. „Selber Karotte. Du Depp, ich hab von Kirschkuchen geträumt und du weckst mich! Geh weg!“ „Du sabberst, Karotte! Kirschkuchen willste, eh? Ich geb dir Kuchen! So viel Kirschkuchen wie du willst, aber nur, wenn du mitgehst!“ „Lass mich in Frieden!“ Aber sie drehte sich immerhin zu ihm und zog die Decke bis zur Nase. Misstrauisch untersuchte sie sein begeistert grinsendes Gesicht. „Wohin?“ „Wirste schon sehen, jetzt zieh dich an, sonst hört uns noch die blöde Alma!“ „Wie kommst du an den Kuchen?“ Ihre Lebensgeister krochen langsam aus den Laken. So einfach würde sie es ihm nicht machen. „Elana mag mich!“ Die neue Köchin. Das stimmte allerdings. Welf trug ihr seit Wochen Töpfe durch die Gegend. „Gib mir die Bürste.“

Welfs Ideen klangen immer spektakulär, wenn er sie vorbrachte. Unterwegs, auf dem Weg zur Umsetzung, stellte sich dann bedauerlicherweise trotzdem oft heraus, wie unfassbar dämlich sie wirklich waren. Gwen versuchte, sich auf den Kirschkuchen zu konzentrieren, den sie so sicher wie das Amen im Tempel einfordern würde. Saftiger Teig. Reife Früchte. In goldgelbe Samtigkeit aus Biskuit eingesunkene Süße. Eine Ameise pisste auf ihre Füße. Sie schob sie mit dem anderen Fuß weg. Eine Heuschrecke sprang ihr auf die Nase. Sie gab sich selber einen Nasenstüber. Welf kicherte hämisch, aber selbst der war schon etwas ermattet. Zwei Stundenläufe lagen sie bestimmt schon hier im Unterholz. Die Insekten fraßen sie auf und der Schweiß lief ihnen über die Stirnen. Und sie hatte solchen Hunger..

„Wir überfallen Onkel Janusch, wenn er kommt! Was meinst du, was Viktor für Augen machen wird!“ Und schon hatte er ihr einen pechschwarzen Sack übergestülpt, den die Knechte zum Kohletragen benützten. Die Gerüchte von räuberischen Banden aus Ravinsthal waren ihm wohl zu Kopf gestiegen. Gwen gab zu, es klang tatsächlich wie ein lustiger Einfall. Man würde in dem Augenblick, da sich die Kutsche der Verwandtschaft näherte, blitzschnell aus dem Graben springen und hoffentlich Süßigkeiten ernten. Janusch war berühmt-berüchtigt bei den Veltenbruchkindern für die Bonbons, die er erfand. Er experimentierte ständig mit Geschmacksrichtungen herum. Seine eigene Lieblingsvariante war „Rote Beete“. Und Welf war nicht bereit, mit Erbsenhirnen wie Alma zu teilen. „Wir luchsen ihm einfach schon vorher was ab!“ Schwarze Gugeln hatte der findige Tunichtgut auch aufgetrieben, Mithras allein wusste wo. So lagen sie schwitzend da, zwei rabenschwarze Häufchen mit kohleschwarzen Gesichtern und zerliefen unter der Silendrischen Sonne. Die Handarbeitsrunde vom Vortag war plötzlich ein Sehnsuchtsort geworden. In der Stube war’s wenigstens insektenfrei! Plötzlich ein unangenehmes Ziepen am Oberarm. Sie inspizierte ihn hektisch „Bah, ich hab eine Zecke!“ „Is‘ gesund, die saugt dir die Haarfarbe aus. Dann wirste blond!“ „Ehrlich wahr?“ „Klar, machen die Gelehrten auch so.“ „Na gut.“ Treuherzig dreinschauend ergab sie sich in ihr Schicksal und kreuzte die Arme unter dem Nacken. Wenn es ihr nur gelingen könnte, die mehrfachen Juckquellen zu vergessen.. dumpfes Hufgetrappel durchbrach den Versuch. Welfs Augen glänzten, er schob ihr den Knüppel hin. „Los jetzt! Und du bist stumm!“

Die zwei Kinder krabbelten den Hang hoch und sprangen auf die Straße – Welf mit deutlich mehr Überzeugung. Die Gugel hatte er Gwen im letzten Moment noch fest über den Rotschopf gezogen. „Süßes oder Leben!“, stieg er schon mit verstellter Stimme in die Verhandlung ein, während sie noch damit beschäftigt war, mit gesenktem Kopf die Reisegesellschaft zu inspizieren. Neben Janusch, dessen verdutztes Gesicht langsam unterdrücktem Amüsement wich, saß Viktor auf dem Kutschbock und starrte die zwei Räuber feindselig an. Januschs Augen glänzten schelmisch: „Wir sind bescheidene Handwerker, bitte tut uns nichts!“ „Wir allerdings sind ganz schlimme Finger, uns fürchten sie in der ganzen Region!“ „Ach ja? Seid wohl eine berühmte Räuberbande, was?“ „Ganz recht!“, versicherte Welf selbstbewusst, während Gwen heftig nickte. „Und wie heißt Ihr, oh garstiger Räuberhauptmann?“ „Äh. Zolderich Haudrauf! Das ist meine Kumpanin! Schlange!“ „Schlange?!“, motzte seine Schwester und fiel aus ihrer stummen Rolle. „Erst redest du mir diesen Schmarrn hier ein und dann gibste mir nicht mal einen ordentlichen Namen!“ Sie schlug die Gugel zurück und stampfte zur Kutsche, so gut sich das barfüßig eben machen ließ. „Mir reicht’s! Ich will jetzt Frühstück! Mach deinen Dreck alleine!“

Janusch brach in schallendes Gelächter aus und half seiner Nichte hinauf auf den Kutschbock, wo Viktor erst rutschte, um ihr Platz zu machen. Der kicherte, sprang dann hinunter und gesellte sich zu seinem Cousin. Gwen winkte ihrer Tante zu, die sich hinten auf der Bank gerade schlaftrunken aufrappelte, und lächelte aus ihrem kohlrabenschwarzen Gesicht in die Welt. Welf warf sich in Pose und schwang den Knüppel. Er war nicht kleinzukriegen. „Was ist jetzt mit Süßem?!“ Janusch tippte sich in einer übertriebenen Geste mit dem Finger auf die Nase. „Ich hab hier ein Kästchen. Wenn du’s aufkriegst, kannst du’s behalten. Und der Inhalt gehört dir auch. Ist aber für Erwachsene! Damit musst du noch ein paar Jährchen warten.“ Januschs breite Pranke reichte dem Jungen einen hölzernen Würfel, der in Gwens Augen völlig kompakt aussah. Wo war da die Öffnung? Wie sollte man den aufkriegen? Janusch schnalzte mit der Zunge und das Fuhrwerk setzte sich wieder in Gang. Welf und Viktor schauten verdattert drein und brauchten einen Moment zu lange. „He! Und wir?!“ Janusch rief den Buben über die Schulter zu: „Wer rauben kann, der kann auch laufen!“ Viktor protestierte noch: „Ich hab gar nix gemacht!“ „Mitgefangen, mitgehangen!“

Gwen fühlte sich herrlich. Der Fahrtwind pfiff ihr um die Nase. Die Sonne schien. Man kutschierte sie zu ihrem Frühstück und als Kirsche auf dem Sahnehäubchen hatte sie den geliebten Onkel Janusch für sich allein. Allein mit Erwachsenen zu sein, die nicht die Eltern waren, fand sie großartig. Sie hatte auf dem Rückweg schon Tante Melindas Frisur bestaunt und sich erklären lassen, wie man sich die Haare wie sie machte, was die Tante glücklich zu stimmen schien. Janusch hatte ihr verraten, wie der geheime Mechanismus des Kästchens funktionierte. Außerdem hatten die zwei ihr dauernd Zuckerstangen zugeschoben und sogar einen kandierten Apfel. Nicht einmal die vierzehn Insektenstiche an ihren Beinen konnten ihr jetzt noch den Tag vermiesen. „Melinda, wo hast du meine Pfeife hingesteckt?“ „Ich? Ich rühr doch die heilige Pfeife nicht an, Janusch.“ Der Onkel betastete seine zahlreichen Taschen. „Gwen, kletter nach hinten und durchsuch mal unser Gepäck. Aber wisch dir die Hände vorher ab!“

Die tat wie geheißen. Melinda hatte die Augen geschlossen und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen, während Onkel Janusch ein Lied pfiff. Gwen rubbelte notdürftig die Hände an ihrem unbequemen Räubergewand ab, was reichlich wenig brachte, aber genügen musste. Die Reisesäcke waren aus feinem Leder gearbeitet, jeder hatte einen Buchstaben. Sie begann mit „J“. Gwen wühlte sich durch Januschs Siebensachen. Ein Werkzeug nach dem anderen wanderte auf die Sitzfläche, eins abstruser als das andere. „Das da sieht aus wie ein Vogelbein, Onkel!“ Er drehte den penetrant roten Rotschopf. Die anderen Verwandten munkelten, er färbte ihn mit roter Beete. „Ah, du hast meine Elsterklemme gefunden, da mit kann man hervorragend Schrauben…“ Gwen ließ ihn reden. In dem Sack war nichts, was einer Pfeife auch nur ähnelte. Sie lugte nach vorne. Melindas Ausdruck kündete von größter Entspannung, die Augen hatte sie immer noch entspannt geschlossen. Janusch redete unentwegt. Was wohl Viktor mitgebracht hatte? „Unser Gepäck“, war die Instruktion gewesen. Das schloss ja wohl auch Viktors Zeugs ein. Ganz wohl fühlte sie sich nicht, aber Janusch brauchte schließlich die Pfeife, sonst konnte er nicht denken – sagte er zumindest.

Oben lag ein steifes, blau-weißes Hemd. Darin war etwas Hartes eingewickelt. Sie schaute noch einmal nach Melinda und Janusch, aber niemand achtete auf sie. Behutsam fischte sie ein Buch heraus, dabei Acht gebend, dass sie mit ihrem Rücken die Sicht drauf verdeckte. Imposante Goldbuchstaben auf rotem Grund funkelten in der Morgensonne. „Vom Dienste an Mithras“. Die neugierige Zwölfjährige starrte das dünne Büchlein an und stopfte es eilig zurück. Den Sack zog sie ruckartig zu. „Gefunden?“ „N-n-nein!“
Er wurde mit den ersten Sonnenstrahlen wach. Das machte ihn schon ein wenig stolz, dass er es schaffte so zeitig aufzustehen auch nach all den Strapazen, welche eine so lange Reise zu Fuß für jemanden wie ihn nun einmal mit sich brachte. Es war nicht so, dass er sich lange an diesem Gefühl er freuen konnte, ganz und gar nicht. Ehe sich überhaupt so etwas dem Hochmut auch nur Ähnliches einstellen konnte, machte sich in ihm eine unglaubliche Nervosität breit und sein ganzes Inneres fühlte sich einfach nur noch wie ein dicker, schwerer Klumpen an. Jetzt galt es noch schnell in die Kapelle zu huschen, Mithras Beistand suchen bevor er sich seiner gesamten Verwandtschaft stellte. Eifrig zeichnete er mehrmals das Sonnensymbol, anschließend humpelte er so leise, wie es ihm eben möglich war die Treppe hinunter, ignorierte stur die neugierigen Blicke des schon arbeitsamen Gesindes in der Küche und atmete erst einmal durch als er das Haus endlich verlassen hatte.

Die Nervosität wurde er tatsächlich in der Kapelle los. Es war zwar nur eine kleine Kapelle, gleichwohl war sie von erhabener Architektur. Außen waren geschickt eine große Anzahl an Stützstreben angebracht, sodass die beiden Seitenwände sehr großzügig mit Buntglasfenster versehen werden konnten, anstelle eines großen Portals hatte man es beim Eingang bei einer kleinen Tür belassen, wodurch auch hier noch weitere Fenster angebracht werden konnten. So war die gesamte Kapelle rundherum von Fenstern gesäumt. Da sie ein relativ kleiner Bau war, lag das Deckengewölbe direkt auf den Außenmauern und es mussten keine weiteren Stützpfeiler hineingebaut werden. Tatsächlich entstand dadurch ein Innenraum, der, sofern sich die Sonne überhaupt zeigte, in solch hohem Maße lichtdurchflutet war, dass künstliche Beleuchtung durch Kerzen nicht notwendig war. Hinter dem Altar, der nach dem Osten hin gebaut war, ging nun also die Sonne auf und ließ die Mithrasstatue in einem höchst majestätischen Licht erscheinen. Dies verriet ihn zum einen, dass er den besten Zeitpunkt gefunden hatte die Kapelle aufzusuchen, zum anderen aber, dass seine Familie es mit der Frömmigkeit schon einmal genauer genommen haben musste, da die Kapelle außer ihm im Moment nur eine weitere Besucherin hatte. Als er diese erkannte wandelte sich das Gefühl von Erhabenheit und Entrücktheit, welches sich gerade in ihm breit zu machen begann, in eine Mischung aus Angst und Taubheit, etwas was er schon lange nicht mehr gespürt hatte. Aber als er sie betend in der Kapelle erblickte entglitten ihm jegliche Gesichtszüge. Zerline musste ihn gehört haben, zumindest drehte sie sich jetzt um, Wenn doch bloß nicht dieses verfluchte, verkrüppelte rechte Bein wäre, er hätte zumindest noch eine Chance zu fliehen. Doch, wenn er in diesem Moment ehrlich zu sich gewesen wäre, wäre ihm klar gewesen, dass er auch dann von der Situation zu gelähmt gewesen wäre um sich zu rühren. Auch Zerline riss ihre Augen nun weit auf. Sie war allerdings auch schneller in der Lage sich wieder zu fassen. Mit ernster Miene schritt sie nun auf Albert zu und ein gedämpftes „Mithras Segen Albert.“ kam von ihr in seine Richtung. Diese Worte rissen ihn zumindest aus seiner Lethargie. Eilig senkte er das Haupt, ordnete seine Gesichtszüge wieder und erwiderte hastig, kaum hörbar „Mithras Segen“ und nach einigem Zögern „Mutter.“ Die Angesprochene schritt an ihm vorüber, wobei sie ihre rechte Hand kurz und kaum merklich über seinen Kopf streichen ließ, ehe sie die Kapelle auch schon wieder verlassen hatte. Diese Berührung war nun noch weniger zu erwarten gewesen, als hier auf seine Mutter zu treffen. Und für einen recht langen Moment, mochte er nach dieser Berührung genauso erstarrt gewesen sein, wie die Mithrasstatue beim Altar. Für einen winzig kleinen Augenblick erinnerte er sich an die Zeit vor dem Unfall. Als er zumindest zu seiner Mutter so etwas wie eine normale und gesunde Beziehung hatte. Aber das war lange vorbei und es gab keine sinnvolle Erklärung für die eben erfahrene Berührung. Was wollte seine Mutter damit zum Ausdruck bringen? Und wie ernst war ihr Glaube überhaupt? Diesen lebte sie ja ohnehin erst so richtig seit Ludovig mit dem König nach Indharim war. Diese Fragen beschäftigten eine Weile, ehe er sich wieder, ohne sie zufriedenstellend beantworten zu können, von ihnen lösen konnte und er sich nun endlich dem kontemplativen Gebet zuwenden konnte. Und gleichwohl er mehrere Stunden im Gebet verbrachte, wollte sich an diesem Morgen nicht die so sehr erstrebte Ruhe in ihm einstellen.

Als er nach dem Gebet wieder ins Haupthaus ging um nun, wo das Schlimmste ohnehin schon ausgestanden war, zumindest der restlichen Familie mit so etwas wie Würde gegenüber zu treten, war von Zerline nichts zu sehen. Er fand lediglich seine beiden Onkel Janusch, den er zu diesem Zeitpunkt noch nicht kannte, sowie Kaspar und seine Tante Theresia, welche die Zwillingsschwester seines Onkels Kaspar war und die er beide gestern Abend bei seiner Ankunft zumindest noch kurz kennen gelernt hatte, vor. Sie waren wohl die letzten die sich noch beim Frühstück befanden, was bei seinem Onkel Janusch verständlich war, da er doch erst heute angekommen war, bei den Zwillingen jedoch eigentlich gänzlich unakzeptabel war, da der Morgen mittlerweile weit fortgeschritten war, sie hier lebten und auch nicht beim Gebet zu sehen gewesen waren. Selbstverständlich behielt er dies für sich, da es äußerst unhöflich gewesen wäre sie als Mitglieder des gastgebenden Haushaltes auf so etwas hinzuweisen. Im Übrigen war er sich in diesem Moment recht unschlüssig, ob er sich darüber freuen sollte, hier nun doch nur wenige Verwandte anzutreffen, was das Vorstellen vereinfachte, oder ob er sich darüber grämen sollte, dass die ganze Qual nun noch weiter in die Länge gezogen werden würde. Zumindest verlief dieser Teil der Vorstellungsrunde recht erträglich. Er erntete zwar von allen drei Anwesenden tief gerunzelte Augenbrauen als er sie, wie es die Etikette nun einmal vorgibt, mit „verehrter Onkel“ beziehungsweise „verehrte Tante“ ansprach, jedoch schien man ihm recht wohlgesonnen gegenüber zu treten. Sein Onkel Janusch hatte, obwohl er der älteste Anwesende war, etwas höchst Unerwachsenes an sich und häufig verkamen Albert und Theresia zu Statisten in diesem Gespräch, wenn Janusch und Kaspar versuchten, in einer wahren Kanonade von geistlosen Scherzen den jeweils anderen zu übertreffen, wobei stets Janusch das letzte Wort behielt. Seine Tante versuchte derweil offensichtlich ihn zu mästen und er befürchtete phasenweise, dass sie ihn zwingen wollte wirklich alle Reste des Frühstücks zu konsumieren, wo er doch mit etwas Brot, Käse und einem Becher Milch vollends zufrieden war. Er vermutete hinter dieser etwas übertriebenen Aufmerksamkeit redliche Motive. Ohnehin dauerte es nicht allzu lange ehe ein jüngeres Familienmitglied, seine Kusine Alma wie sich herausstellen sollte, die Küche betrat, die ihrerseits deutlich weniger Zurückhaltung, vor allen Dingen gegenüber den Resten der widerlichen Süßspeisen an den Tag legte. Alma war ein durch und durch seltsamer Mensch. Sie war in Etikette offenkundig gut bewandert, zeigte eine mithrasgefällige gerade Haltung und doch schien sie von einer ganz und gar maßlosen Gier durchdrungen zu sein. Schon nach wenigen Augenblicken hatte sie sich sowohl ihre Hände, als auch ihr Gesicht sowie ihr Kleid hoffnungslos mit Zucker verunglimpft und je schmutziger sie wurde umso gieriger griff sie nach dem nächsten Törtchen. Allein dadurch wurde die Atmosphäre in der Küche für Albert abstoßend und unerträglich. „Na, wo treibt sich denn mein Bube rum? Alma, hast du den vielleicht gesehen?“ wandte sich Onkel Janusch alsbald an Alma und riss Albert damit aus seiner stillen Rezitation der Bitte um Führung, die ihm diesen Aufenthalt hier erträglicher machen sollte. Alma fiel es sichtlich schwer daran zu denken noch rechtzeitig den durchgekauten Zuckerbrei herunterzuschlucken ehe sie den Mund öffnete: „Der ist mit Gwendolyn und Welf in der Scheune, aber ich hatte keine Lust mich da schmutzig zu machen.“ Faszinierenderweise sagte sie dies, während sie sich die die zuckerverklebte Hand ein weiteres Mal an ihrem mittlerweile zuckerverklebten Kleid abwischte. „Ach? Gwendolyn ist bei ihm? Dann ist es ja gut.“ antwortete der Onkel daraufhin seltsam erleichtert. „Hey Albert, willst du nicht einmal in der Scheune nachsehen was die anderen da treiben?“ fragte ihn Onkel Kaspar nun mit einem ziemlich unerträglichen Grinsen. „Ja, es wird ohnehin Zeit, dass du mal die Gleichaltrigen kennenlernst!“ fügte seine Tante nicht minder grinsend bei. Auch hier setze Albert wohlwollende Absichten voraus und befand das es ohnehin der rechte Zeitpunkt wäre sich aus der Küche zu verabschieden. „Sehr wohl verehrte Onkel und verehrte Tante, dies werde ich tun. Mithras schenke einen wohlen Tag.“ Er hatte sich gerade mühsam erhoben und zur Tür begeben als Onkel Janusch noch sagte „Und sag meinem Buben, dass er ja keinen Blödsinn anstellen soll! Und er soll Gwendolyn nicht ärgern.“ Diesmal war nichts Schelmenhaftes mehr in seiner Stimme und Albert nickte lediglich.

Bevor Albert sich jedoch zur Scheune aufmachte, mühte er sich noch einmal die Treppe zu seinem Zimmer hinauf, um dort noch schnell sein Traktat in einer Lederrolle zu verstauen. Wenn er jetzt schon seine Kusine und seine Vetter traf war es nur sinnvoll sogleich um Hilfe bei dem Traktat zu bitten. Mit der Schriftrolle humpelte er die eben erst erklommene Treppe wieder hinab und machte sich mit eher verhalten schnellen Schritten auf den Weg zur Scheune. Jetzt die jungen Leute zu treffen machte ihn eher noch nervöser, als er es schon bei den Alten gewesen war. Erwachsene traf er jeden Tag im Tempel, das war gewohnt. Irgendwie zumindest. Vielleicht hätte er doch die Chance nutzen sollen an Alma das Gespräch mit jungen Leuten einzuüben? Aber das hatte er nicht über sich gebracht, so wie sie ein Törtchen nach dem anderen aus dem Sein ins Nichts beförderte, nein, wirklich nicht. Er hoffte, dass ihm eine gute Begrüßung einfallen würde, denn er hatte einmal gehört, dass junge Leute in diesem Alter auf den ersten Eindruck sehr viel wert legen und sie mit größter Grausamkeit denjenigen behandeln der keinen Guten hinterlässt. In solcherlei Gedanken versunken erreichte er schließlich die Scheune, dort erblickte er drei Rotschöpfe die gerade dabei waren eiligst ein Feuer auszuschlagen, Mithras sei Dank mit einigem Erfolg. Einer von ihnen wirkte furchtbar blass und kaum in der Lage sich auf den Beinen zu halten, der andere wirkte, trotz der beinahe eingetretenen Katastrophe recht gefasst und dem einzigen Mädchen in der Runde war vor allem der Schrecken anzusehen. Und ihre Sommersprossen. Für einen kleinen Augenblick war er versucht sie alle zu zählen, entschied sich aber recht schnell dagegen, da dies zum einen sicher unhöflich gewesen wäre und er zum anderen vermutlich an seinem Lebensende noch nicht alle gezählt haben würde. Zumindest fiel ihm nun eine pfiffige Begrüßung ein, die sicher Eindruck schinden würde: „Manchmal ist es ein blasphemischer Akt, ein Feuer zu löschen, aber hier ist es vermutlich angebracht.“ Es dauerte einen kleinen Augenblick bis die anderen sich ihm zuwendeten und erst dann versuchte er freundlich zu lächeln und ergänzte: „Mithras zum Gruße.“ Er war sich sicher einen guten ersten Eindruck gemacht zu haben.
"Hast du Schiss?" Es war wie ein Zauberspruch. Diese drei Worte konnten jeden zu allem bewegen. Das galt vor allem dann, wenn derjenige tatsächlich Angst hatte. Und dass Gwendolyn, trotz des neugierigen Glanzes in den Augen, Angst davor hatte, etwas Verbotenes zu tun, war offensichtlich. Viktor lächelte hinterhältig.
"Gar nicht!", protestierte sie, aber noch immer schwang ein Hauch von Zurückhaltung mit. "Nur ... sollen wir das echt mit der Pfeife deines Vaters machen? Onkel Janusch wird sicher böse."
"Ach Unfug, du Ziege! Der kriegt davon gar nichts mit. Wir tun die danach einfach wieder in seine Kiste zurück. Kein Problem." Viktor genoss das Spiel. Er hatte die Pfeife. Er war es, auf den sie zu hören hatten, wenn sie mitmachen wollten. Und sie wollten mitmachen. Welf hatte er zuerst angesprochen, und danach, nachdem dieser mit nur wenig Arbeit überzeugt war, seine kleine Schwester. Welf war sogleich Feuer und Flamme gewesen und hatte ein paar Krümel alten Tabaks von Onkel Hagen geklaut. Gwendolyn zögerte dagegen noch länger. Typisch Mädchen, dachte sich Viktor.
Ihren milden Protest, dass sie keine Ziege, er dafür aber ein dummer Bock sei, ließ er großmütig an sich abperlen. Letztlich wollte er ja auch, dass sie mitkam. Sollte sie doch sehen, dass er ihr in anderen Lebenslagen, die sich nicht um Alchemie und Anstand drehten, haushoch überlegen war. Ohne Zuschauer war es nur halb so lustig, die Regeln zu brechen.
„Na gut, aber du bringst sie zurück!“, stellte sie gleich selbst unbewusst eine Regel auf. Das stieß ihm übel auf, schließlich ging es ihm hier gerade darum, sich keinen zu unterwerfen. Er war sich ziemlich sicher, dass er auf Dämon komm raus nicht derjenige sein würde, der sie zurück brachte. Viktor würde sich dafür schon was einfallen lassen, erst recht, wenn sie so dreist wäre, ihn dazu zu zwingen.
„Das machen wir schon noch und jetzt hör auf, so ein Kleinkind zu sein!“ Rote Wangen, zu Schlitzen verengte Augen, ein wütendes Prusten … perfekt. Viktor lächelte noch immer.

Der Weg zur Scheune war mit Fallen nur so gespickt. Sie mussten den breiten Hof überqueren, um den die Gebäude des Gutes angeordnet waren. Knechte trugen gerade einige Tische vom einen Haus ins andere und hatten, trotz ihrer Arbeit, ein Auge auf das Geschehen. Mehrere Katzen strichen umher und forderten lautstark nach Essen und nicht zuletzt war vor dem Haupthaus alles voller Erwachsener, die sich munter über dies und das, Mithras und die Welt, Geld und Familie unterhielten. Nicht auszudenken, würde ein Knecht sie entdecken, sie, die vor Hinterlist nur so trieften und sie als geborene Unschuld tarnten. Oder eine Katze, die sich ihnen allzu aufdringlich anschloss und die Aufmerksamkeit auf sie lenkte. Und nicht zuletzt ihre Eltern, die sie immer neu eintreffenden Freunden und Verwandten als das Musterkind präsentieren wollten, das, zumindest Viktor, nicht im Ansatz war. Sie huschten hinter dem alten Brunnen her und hielten kurz inne, um zwei Knechte mit mächtigen Stühlen passieren zu lassen. Viktor warf einen sichernden Blick über den Brunnenrand hinaus, zum Haupthaus, als sondiere er die Lage. Die Pfeife in seiner Hand hielt er wie eine Reliquie, oder eher: Ein Schwert. Wie ein heiliger Sonnenlegionär fühlte er sich dabei, der gerade einen geheimen mitternächtlichen Hexenzirkel ausspäht und versucht, eine Möglichkeit zu finden, der Entdeckung zu entgehen, nur um nachher umso besser zuschlagen zu können. Doch plötzlich versteifte er sich.
„Was ist?“, flüsterte Gwendolyn aufgeregt. „Ich glaube, ich habe Albert gesehen.“, zischte er zurück. Er hatte einen Teil der roten Robe gesehen, wie sie kurz zwischen den Erwachsenen auftauchte. Die Spannung wurde ihm beinahe unerträglich und die Raucherei war fast vergessen. In Gedanken begann er, sich all die Geschichten auszumalen, die Albert zu erzählen hatte. Die Hauptstadt, die Legion, die jubelnden Massen und ein Tempel, in dem es keinen Schatten gab. Gwendolyn schob sich näher an den Brunnen und lugte neben ihm über den Rand. Beide gaben keinen Ton von sich, ganz in ihren geheimen Beobachtungsposten an der Neugierfront versunken.
„Was macht ihr da?“ Viktor zuckte zusammen. Alma. Ein silendirer Traum von Löwenstein, sagte man in der Verwandtschaft oft. Das lag daran, dass sie in allem, was kitschig und teuer war, einen 'Hauch von Hauptstadt' sah. Und das traf nun mal vor allem auf Kleider, Schmuck und Kosmetika zu, was ihrem dreizehnjährigen Ich, zu allgemeinem Bedauern, nur leidlich gut zu Gesichte stand. Er drehte sich zu ihr um und ignorierte Gwendolyns Augenrollen. „Wir … gucken nur. Ob das Wasser gut ist.“
„Ob das Wasser gut ist?“ Cousine Alma hatte diese enervierende Angewohnheit, auf alles mit einer Frage zu antworten. Als die Veltenbruchkinder einmal darauf gewettet hatten, wer einen ganzen Tag lang nur in Fragen reden könnte, hatten sie Alma erst gar nicht gefragt, ob sie mitmachen würde. Sie hätte eh gewonnen. Und danach vermutlich noch gefragt, ob sie auch tatsächlich gewonnen hätte.
„Ja. Weeeeiiiil … Zur Hochzeit soll sich ja keiner den Magen verderben, nur weil er schlechtes Wasser getrunken hat.“ Die Lüge saß nicht richtig, aber was Besseres fiel ihm in diesem Moment nicht ein. „Stell dir vor, dann erbrechen alle.“
„Muss man dafür nicht -in- den Brunnen gucken, statt darüber? Für mich sah es aus, als würdet ihr die Erwachsenen ausspannen?“ In Viktors Innerem zerbrach etwas. Selbst ihre normalen Aussagen hörten sich wie Fragen an. Almas spöttelnder Ton machte es nicht leichter, die Ruhe zu bewahren. Er spürte, wie Gwendolyn etwas Hitziges entgegnen wollte, legte ihr aber schnell die Hand auf den Arm, um sie zurück zu halten. Er hatte eine bessere Idee.
„Na gut, Alma. Du hast uns durchschaut.“ Verschwörerisch sah er sich um. „Ich verrate dir ein Geheimnis, aber du darfst es niemandem sonst verraten, ja?“ Sie nickte zögernd. Geheimnisse waren ihr suspekt, ein Charakterzug, den Viktor nie verstand. Der Plan dagegen war perfekt: Er würde Alma dazu bewegen, mit in die Scheune zu kommen und mitzurauchen. Er wollte unbedingt sehen, wie dieses Sauberfraupüppchen an der Pfeife paffte und ihre reine Fassade dabei aufgab. Sie sollte eine Mittäterin sein, damit sie sie, im Falle eines Falles, nicht verraten konnte ohne sich selbst belasten zu müssen.
„Wir gehen in die Scheune und da...“ Weiter kam er nicht.
„Iiiiih, in die Scheune? Da ist es doch so eklig! Sind da nicht überall Flöhe und Ratten?“
„Nein, da sind...“, versuchte er noch, den Schaden zu begrenzen.
„Da gehe ich nicht rein! Das ist ja widerlich!“ Und dann, als wollte sie die Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen: „Aber da passt ihr ja hin, nicht wahr? Also -ich- gehe jetzt zu den Erwachsenen und da petze ich!“ Viktor wollte noch die Hand nach ihr ausstrecken, aber es war zu spät. Ihr gutes Dutzend Unterröcke rauschte wie ein Wasserfall, als sie um den Brunnen herum stolzierte und auf die Menge der Erwachsenen zu hielt. Sie wirbelte in jeder Hinsicht einiges an Staub auf.
Die zwei Verborgenen seufzten gleichzeitig.
„Blöde Ziege“, murrte Viktor.
„Das reicht nicht“, kommentierte Gwendolyn finster.
„Blöde Kuh.“
„Schon besser.“

Als sie dann endlich die Scheune erreicht hatten, saß Welf schon auf einem Heuhaufen. Sein Unmut darüber, dass sie sich zu viel Zeit gelassen hatten wurde schnell auf Alma abgelenkt. Auch er hatte nicht die höchste Meinung von ihr und so wurde die erste Zeit ausgiebig darauf verwand, einen passenden Namen für sie zu finden. Alma dein Maul, einen Alma voll Wasser vom Brunnen holen, Hundeschalma von den Stiefeln kratzen, Almachselschweiß und so weiter. Letztlich setzte sich Almarsch durch. In der Kürze liegt eben oft die Würze.
Dann war der Zeitpunkt gekommen. Das Heu wurde zurecht geschoben um den dreien ein bequemes Nest zu bieten, in dem sie sich gegenüber sitzen konnten. Viktor präsentierte die Pfeife, Welf den Tabak und Gwendolyn wurde, als einzige, die nichts mitgebracht hatte und weil sie ein Mädchen war, dazu verdonnert, eine Lampe zu holen.
Ein letztes Mal wurden im Kreise der geheimen Raucherloge Blicke ausgetauscht, die die Eingeschworenen zu einem festen Kreis verbanden, der über das, was hier geschehen würde nie mit Außenstehenden zu reden hatte. Viktor entzündete die Pfeife an der von Gwendolyn geholten Lampe und begann zu husten. Reihum ging es jedem der drei so, aber alle gaben sich größte Mühe, es sich nicht anmerken zu lassen. Dass es nicht schmeckte fiel ebenso unter den Tisch und es wurde gequält gelächelt, wo die Lungen brannten und die Zungen belegt waren. Ein Opfer hatten sie dennoch zu beklagen: Welf, der vorher noch so große Töne gespuckt hat, wie oft er doch schon geraucht habe, erbrach sich nach seinem zweiten Zug an der Pfeife. Es begann ganz langsam, zuerst hat er nur langanhaltend gehustet, dann gewürgt. Viktor und Gwendolyn tauschten einen unbehaglichen Blick und rutschten ein wenig von Welf weg. Und dann geschah es auch schon. Er beugte sich zurück, in dem vergeblichen Versuch, nicht den Heuhaufen zu erwischen, doch dafür war es zu spät. Geräuschvoll entleerte er seinen Magen und brach so die Hoheit der geheimen Zusammenkunft. Viktor verzog den Mund, war das Rauchen doch schon ekelhaft genug.
Dennoch mussten sie den Heuhaufen wechseln, um dem Geruch zu entgehen, der sich nur notdürftig mit drüber gestreutem Heu verbergen ließ.
Als letztlich nur noch wenig Glut in der Pfeife vorhanden war, klopfte Viktor sie achtlos aus, um sie erneut befüllen zu können. Noch während er die Pfeife neu stopfte, einen Vorgang den er bei seinem Vater tausendfach gesehen hatte, stieg neben ihm ein dünner Rauchfaden in die Luft.
„Pass auf! Feuer!“ Gwendolyns Ruf ließ ihn auffahren. Schnell stürzten die drei vom Heu und klopften mit Pferdedecken, die neben ihnen an einem Balken hingen darauf herum, was das Zeug hielt.
„Manchmal ist es ein blasphemischer Akt, ein Feuer zu löschen, aber hier ist es vermutlich angebracht.“
Sie verharrten in ihrer angebrachten Blasphemie und drehten sich langsam um. Was war es eigentlich mit den Leuten, dass sie ständig unangemeldet hinter einem auftauchen mussten, dachte Viktor noch seltsam irritiert. Da stand Albert. Er war, wie Viktor es schon von fern gesehen hatte, in eine rote Robe gekleidet und trug eine lederne Rolle unter der Hand, aus der schüchtern ein Pergament heraus lugte.
„Mithras zum Gruße.“ Albert lächelte, ebenso scheu wie das Pergament und doch selbstbewusst zugleich, als wisse er am richtigen Ort zu sein, nur ohne Plan, wie er beginnen solle.
„Ent... entschuldigt mich.“ Welf würgte noch immer und stand auf. Die stinkenden Flecken auf seinem Hemd reizten seine Schwester zu einem langgezogenen Anwiderungsquieken. Viktor dagegen lachte hämisch und kurz darauf fiel auch das einzige Mädchen der Runde ein. Voll geknicktem Hochmutes eilte Welf davon und ließ die anderen zwei Mittäter amüsiert und einen Albert irritiert zurück.
„Ja, äh, Mithras mit dir, Albert“, sagte Viktor, sich nun schnell wieder fassend, und trat etwas näher. Gwendolyn hielt sich abwartend zurück. „Gut, dass du endlich da bist.“ Eine halbe Lüge, denn man hatte ihn weder erwartet noch eingeladen.
„Weshalb? Und was war mit Vetter Welf?“
„Dem war nur etwas übel, kümmere dich nicht drum. Wir dachten uns schon, dass du bald kommen würdest. Weißt du, wir haben hier gerade eine geheime Gesellschaft und du darfst Teil davon sein. Außerdem bist du unser Vetter und wir freuen uns, dass du da bist. Komm, setz dich zu uns.“ Viktor wedelte einladend mit der Hand und deutete Albert, sich zu den anderen zweien auf dem Heuhaufen zu gesellen.
„Geheime Gesellschaften sind nicht im Sinne Mithras'. Er ist der Gott der Wahrhaftigkeit.“
„Jajaja, es ist auch nicht geheim-geheim, sondern Wir-wollen-keine-Erwachsenen-geheim. Ganz ohne Eltern, verstehst du?“ Das hatte gesessen. Es war bekannt, wie Albert und seine Mutter Zerline zueinander standen. Zögernd trat Albert dazu und ließ sich mit auf dem Heuhaufen nieder.
Tastend fuhr Viktor durch das Stroh. In all der Hektik hatte er die Pfeife verloren.
„Cousine Alma sagte, ihr wäret in der Scheune“, stieg Albert ein. Gwendolyn schnaubte, aber keiner ging drauf ein.
„Ach Alma. Die hätte uns fast alles versaut. Wo hab ich denn jetzt ...“, fuhr Viktor etwas abgelenkt fort, noch immer das Heu durchwühlend.
„Schön, dass du den Weg gut überstanden hast, Albert.“ Gwendolyn war so ekelhaft perfekt wie immer, ging es Viktor durch den Kopf. Immer freundlich, immer nett.
„Seid bedankt, Kusine. Ich bin auch froh, dass ich hier sein darf. Der Tempel ist da sehr großzügig, wenngleich es nur dank Vater Joachimus auch tatsächlich umgesetzt werden konnte.“
„Hühnerdreck, ich finde sie nicht mehr.“ Viktor verschränkte unzufrieden die Arme.
„Onkel Janusch wird böse sein“, gab Gwendolyn zu bedenken.
„Ist schon nicht so wild“, winkte Viktor ab. „Er wird sich einfach eine Neue machen.“
Ein kurzer Moment des Schweigens füllte die Scheune. Albert war der erste, der wieder zu sprechen anfing.
„Was habt ihr denn gemacht?“
„Wir haben geraucht.“ Der Stolz in Viktors Stimme war nicht zu überhören.
„Geraucht? Aber das dürft ihr doch gar nicht. Das ist eine Regel und daran müsst ihr euch halten. Mithras sagt, Regeln sind die kleinen Geschwister der Gesetze.“ Die folgende Stille war sogar noch tiefer als die erste. Das war so gar nicht, wie sich Viktor Albert vorgestellt hatte. In seiner Fantasie war er wesentlich verwegener. Ein schneidiger Wortschmied, der, von tapferen Sonnenegionären begleitet, gegen Ungeheuer und Hexen zog um die feurige Gerechtigkeit des Herrn zu verbreiten.
„Nun ja, tatsächlich bin ich gekommen um euch um etwas anderes zu bitten.“ Albert hielt die Ledermappe empor. „Ich habe ein Traktat verfasst, dass ich zur Hochzeitsfeier vortragen will. Vielleicht könntet ihr es vorher lesen und mir eine Kritik dazu geben? Das wäre sehr freundlich.“
Er hatte eine gestelzte Ausdrucksform, die Viktor zugleich abstieß und faszinierte. Dennoch erschien es ihm arg trocken jetzt so ein blödes Traktat lesen zu müssen, statt sich durch das verbotene Rauchen vor den gleichaltrigen Rotschöpfen profilieren zu können.
„Hm. Sicherlich. Können wir machen.“
„Machen wir sogar sehr gerne, Albert“, ergänzte Gwendolyn. War da ein bemutternder Ton heraus zu hören?
„Das ist erfreulich, Kusine Gwendolyn. Ich...“
„Nur, nicht jetzt, ja?“, fiel ihm sein Cousin ins Wort. „Wir machen es später. Die Lampe hat eh nicht mehr genug Öl um bequem lese zu können. Jetzt wollen wir die Pfeife suchen. Wir haben noch ein halbes Beutelchen Tabak!“ Triumphierend reckte Viktor den kleinen Schatz in die Luft.
„Nein, da kann ich nicht dran Teil haben. Und ihr solltet das auch nicht tun.“
„Komm schon, Vetter. Was ist schon dabei? Hast du Schiss?“ Und da waren sie wieder, die drei magischen Worte. Nur scheinbar bewahrheitete sich, was über Mithras und seine Ablehnung gegenüber Magie gesagt wurde. Der Zauberspruch prallte harmlos an Albert ab.
„Ich habe keine Angst davor, aber wir müssen die Regeln einhalten.“ Albert rappelte sich ungelenkt auf dem Heuhaufen auf, was zum Teil am Heu, zum Teil am verkrüppelten Bein lag. Sein Tonfall hatte seltsamerweise kaum etwas anklagendes an sich, es war einfach nur eine nüchterne Feststellung.
„Albert...“, versuchte es auch Gwendolyn, doch da war der rotberobte Vetter schon fast bei der Tür.
„Ich werde das leider sagen müssen. Falls doch noch ein Feuer ausbricht oder euer Vater seine Pfeife vermisst, Vetter Viktor. Dieser machte mich übrigens darauf aufmerksam, dass ich auf euch Acht geben solle.“
„Was?“, begehrten die zwei anderen auf. Es überraschte Viktor nicht, dass Gwendolyn fast noch panischer war als er, schließlich stand ihr guter Ruf bei seinem Vater auf dem Spiel. Dass Janusch allerdings Albert instruiert hatte, ein Auge auf seinen Sohn zu werfen, fand Viktor unerhört.
„Das kannst du nicht machen!“, jaulte sie. „Bitte, Albert, sei nicht so. Es war doch nur ein Spiel.“
„Untaten müssen gesühnt werden, deshalb denke ich nicht geringer von euch. Und danke noch einmal, dass ihr euch meines Traktates annehmt.“ Er lächelte noch einmal, in gleicher Weise wie nach seinem Eintreten. Dann war er fort.
Viktor war wie vor den Kopf geschlagen. Er wollte sie verpetzen und erwartete dennoch, dass sie ihm bei seinem dummen Zettel halfen?! In diesem Moment war alle Vorfreude auf spannende Geschichten wie weggeblasen und zurück blieb nur dasselbe Schwelen im Bauch, das er hatte, wann immer er mit seinen Eltern sprach oder von seiner Cousine übertrumpft wurde.
Er merkte, wie Gwendolyn ihn entgeistert ansah.
„Was machen wir jetzt?“
„Wenn er petzt, dann rächen wir uns!“ Viktors Miene war dunkel und, wenn er es richtig deutete, teilte seine Cousine sein Bauchgefühl.
„Gut. Der kann was erleben!“ Sie reckte angriffslustig die Fäuste in die Höhe. „Nur, wie machen wir es?“
„Wir verderben seinen Auftritt“, prophezeite Viktor in eine Scheune hinein, in der noch immer Gerüche von Erbrochenem und Rauch um Vorrang kämpften. Er griff zu der Lampe und drückte sie Gwendolyn wieder in die Hand.
„Du meinst das Traktat? Meinst du nicht, das wäre ein bisschen hart?“
„Hast du Schiss?
Die Dächer des Gutshofes standen mit ihren roten Ziegeln über der Baumkuppe und leuchteten geradezu im Licht des untergehenden Mithrasauges. Es war nun später Nachmittag, der Vorabend der Hochzeitsfeier. Die Grillen zirpten, als wollten sie unbedingt den Gesang der Vögel übertreffen, die ihrerseits gegen das Plätschern des kleinen Flusses und das Klappern des Wasserrades anzwitscherten. Im Wind lag dieser altbekannte Sommergeruch nach Gras, Blumen und einer reinen Luft, die man im menschenüberladenen Guldenach vergeblich suchte. Alles in allem hätte es ein herrlicher Abend werden können ... wenn er denn ein Auge dafür gehabt hätte.
Viktor saß mit einem Strohhalm in der Hand am Wasser und zürnte. Frösche waren auch nicht mehr das, was sie mal waren. Vermutlich war er mittlerweile zu groß und zu auffällig, als dass sie sich noch problemlos fangen ließen. Und dabei dachte er, dass seine Technik so ausgereift sei, dass er im Nu welche in seine Taschen hätte stopfen können. Zumindest einen. Vielleicht wussten die schleimigen Biester auch einfach, was ihnen bevorstand. Wie arrogant von ihnen! Wie konnten sie denn mit Gewissheit denken, dass er sie aufpusten wollte? Vielleicht wollte er sie auch nur Albert in die Tasche schieben! Schon mal daran gedacht, ihr blöden Kleinkröten?! Wütend schmiss er den Strohhalm weg. Verschwendete Zeit. Es hatte ihm nichts weiter eingebracht als eine nasse Hose. Gut, die Stiefel hatten auch etwas abbekommen, ehe er bemerkt hatte, dass das Wasser tiefer gewesen war als zuerst angenommen. Vater würde wieder laut werden, die Stiefel waren noch keine Woche alt, aber das kümmerte Viktor herzlich wenig.
Viel mehr wurde seine Aufmerksamkeit von diesem Wasserrad gefesselt, das in dem kleinen Bach, nur ein paar hundert Schritte hinter dem Gutshof, fröhlich seine Runden drehte, als könne es kein Wässerchen trüben. Wozu brauchte man so etwas überhaupt, wenn da keine Mühle dran war? Um eine Mühle anzutreiben wäre es eh zu klein gewesen. Dann erinnerte er sich. Das Wasserrad hatte sein Vater Janusch gebaut, vor vielen Jahren. Es sollte keinem bestimmten Zweck dienen, sondern einfach nur nett aussehen, obwohl Janusch gelegentlich im Scherz erzählte, er wolle da noch eine Stange dran bauen, um ein Schwein über dem Feuer drehen zu lassen. Bestimmt hatte das dumme Geklapper alle Frösche verscheucht. Und dabei wäre ein Frosch in der Robe die perfekte Rache am hochnäsigen Albert gewesen. Am besten noch ein aufgeblasener. Tu zusammen, was zusammen gehört.
Albert. Viktor loderte, wenn er nur an ihn dachte. So viele tolle Dinge hatte er sich ausgemalt von dem Zusammentreffen mit seinem Cousin und war von der Wirklichkeit schmerzlich enttäuscht worden. Zumindest das musste man Albert lassen: Was er versprach zu tun, das tat er auch. Er hatte gesagt, er würde petzen und nur wenige Augenblicke später kam Janusch in die Scheune gerauscht wie ein Wirbelwind und hatte das ganze Maß angemessener elterlicher Erziehung über Viktor ergehen lassen. Er wurde angeschrien und am Ohr aus der Scheune gezogen, nur um dann von Vater und Mutter zugleich eine Predigt gehalten zu bekommen, die Vater Joachimus vor Stolz hunderte weitere Lachfalten ins Gesicht gegraben hätte. Er fand es absurd, dass er noch bemerkt hatte, dass sein Vater eher den Diebstahl der Pfeife rügen wollte, seine Mutter ob eines eventuellen Feuers in der Scheune aber fast den Verstand verlor. Falls sich Gwendolyn etwas hatte anhören müssen, so hatte er das nicht mitbekommen. Wäre ja auch nichts Neues! Sie war ja schließlich nie schuldig!
Eine Weile brütete er noch still vor sich hin, den abgründigen Blick auf das Wasserrad gerichtet. Er würde Gwendolyn trotz des Ärgers suchen müssen. Sie hatten Rache an Albert geschworen und er brauchte sie, zumindest dafür. Danach sollte sie doch dort hin gehen, wo de Pfeffer wächst. Dass er nicht wusste, wo das genau war, machte ihn nur noch wütender. Immerhin wüsste er dann aber auch, dass das von allen so geliebte Püppchen weit genug weg wäre.
Als er zum Gutshof zurück trottete, die Stiefel in den Händen, klapperte es nicht mehr. Das Wasserrad hing schief getreten in der Strömung.

"Und dann hätte er sich irgendwo hin gesetzt und Peng! Einen Knall und die Taschen voller Frosch! Was meinst du, wie der geguckt hätte!" Viktor kicherte boshaft, aber nicht lange. Gwendolyns Gesichtsausdruck verdarb ihm irgendwie den Spaß an der Vorstellung. Vermutlich fand sie es einfach eklig, aber sie war ja schließlich nur ein Mädchen. Was konnte man von denen schon erwarten? Einen guten Sinn für Humor auf jeden Fall nicht.
"Das ist gemein, Viktor. Der arme Frosch", tadelte sie ihn sanft, aber mit Nachdruck.
"Ich hab ja eh keinen bekommen, von da her müssen wir uns sowieso was anderes einfallen lassen." Eine der Hauskatzen strich ihm ums Bein. Sie saßen in der kleinen Vorkammer der Stube im Haupthaus, dort, wo alle Schuhe und Stiefel aufbewahrt wurden. Reihauf türmten sich die ledernen Fußbekleidungen neben Töpfchen voll Stiefelwichse, Stiefelkechten und Schuhkellen. Auch der ein oder andere Mantel hing hier, gleich unter einigen auf Bretter genagelten Geweihen und Dammwildschädeln. Onkel Hagen war in der Zeit seiner Jugend gelegentlich zur Jagd ausgeritten und jetzt begrüßte sein waidmännisches Glück jeden, der das Haus betrat. Das ließ den sonst so friedlichen Hof der Stellmacher in einem unerwartet wehrhaften Licht erscheinen. Nun allerdings starrten die leeren Augenhöhlen der Schädel auf die zwei jungen Veltenbruchs nieder, teils anklagend, teils neugierig wie stumme Zeugen eines Verbrechens.
Viktor saß hier, weil er zum Stiefelputzen verdonnert worden war und Gwendolyn war eher zufällig in ihn hinein gelaufen. Sie hatte Alberts Traktat bei sich.
"Wir könnten in seine Robe Löcher schneiden, wie wär das?", schlug er vor und wedelte mit der Schuhbürste, die heute noch keinen ernsthaften Strich getan hatte. "Dann will er sie anziehen und jeder sieht seinen Almarsch!" Das bewegte beide kurz zu kichern.
"Ist aber doch Blasphemie, oder? Ich meine, so eine Priesterrobe?"
"Der ist nur Novize, es wäre also nur eine kleine Blasphemie." Er war selbst schon nicht mehr so überzeugt von seiner Idee. Es wäre vielleicht ein wenig zu derb. Sein Blick fiel auf das Traktat, das noch immer in seinem ledernen Umschlag steckte. Er schnaubte abfällig.
"Gut, dann eben doch das Ding. Wird schon nicht so schwer sein. Hier und da ein paar Worte ändern, vielleicht einen Satz streichen ..."
"Er wird aber selbst wissen, was er schrieb. Und er wird vor dem Vortrag sicher noch einmal drüber gucken", erinnerte sie ihn und sah selbst unzufrieden aus.
So ging das eine Weile lang noch hin und her. Vorschläge wurden gemacht und entweder als zu schwach oder zu übertrieben abgeschmettert. Einige Pläne fielen bei den Kindern auch wegen der schieren Unumsetzbarkeit in Ungnade. Mittlerweile hatte die Sonne den Horizont längst berührt und Mithras füllte die kleine Kammer durch ein winziges Fenster mit rubinrotem Licht.
"Juckpulver." Gwendolyn lächelte triumphierend, als sie die Idee hatte. Viktor war von diesem Triumph zwar angeödet, war aber wieder hellwach, nachdem das Hin und Her ihn ermüdet hatte.
„Oooh, gute Idee! Nur … wie? Ich weiß nicht, wie man so was macht.“
Sie plusterte sich auf wie ein Rotkehlchen.
„Ich aber!“ Und dann begann sie, den Plan zu erläutern. Gwendolyn würde Juckpulver herstellen und es in Alberts Robe verteilen. Sie hatte in der Nähe einen Strauch Hagebutten gefunden, die sich perfekt dafür eignen würden. Sie gab auch vor, dass sie über den komplizierten Herstellungsprozess, über den sie Viktor nicht einweihte, genau Bescheid wüsste. Es sei ein Geheimnis und nur ganz besondere Alchimisten seien darin eingeweiht. Natürlich, und sie hielt sich für ach so besonders, ging ihm im Kopf herum. Das Goldkind. Die, die alle sooo gern hatten. Gwendolyn die Fehlerlose. Es widerte ihn beinahe an. Dass er den Fakt ihrer scheinbaren Unfehlbarkeit in unrealistische Höhen hob war ihm nicht einmal bewusst und wäre es das gewesen, so wäre es ihm vermutlich auch gleich gewesen. Es war vermutlich nicht einmal ihr Können, sondern einfach die Art, wie sie Leute damit um den Finger wickelte. Ob er etwas von dem Zauberpulver auch für sie aufheben sollte ..?
Noch während Gwendolyn ihren Plan, Albert zu sabotieren, darlegte und Viktor ihr voller Genugtuung in Gedanken Juckpulver in das Unterkleid schüttete, hörten sie Schritte vor der Tür. Als darauf aber nichts folgte, setzten sie ihr Gespräch fort. Gwendolyn hatte an alles gedacht, die Herstellung des Pulvers, das Auftragen auf der Robe, denn Albert hatte Gepäck mitgebracht und sicher noch eine zweite, saubere für die Feier dabei und die Ablenkung, die Viktor übernehmen sollte
Sie waren gerade fertig, den schlimmsten Racheakt seit Thanos Zeiten zu planen, als sich die Haustür plötzlich öffnete und Alberts Kopf im Türspalt auftauchte.
Augenblicklich wurde es betreten still.
„Mithras mit euch.“ Drei Worte wie eine Ohrfeige.
„Mithras mit dir, Albert“, scholl es ihm zweifach entgegen. Viktor fiel auf, wie er seine Zähne aufeinander drückte, kaum dass er Albert sah. Es knirschte leise.
„Ich sehe, ihr habt euch schon mit meinem Traktat beschäftigt?“ Er deutete auf das noch immer unangetastet in der Lederhülle liegende Traktat. Unschuldig lag es da, und doch Anlass zur Sünde. Schuldbewusst schauten die beiden zu der Lederhülle und Viktor lief es heißkalt durch den Bauch. Jetzt war es zu spät, auch daran noch etwas zu ändern.
„Ja, äh, sicherlich.“ Es fiel ihm schwer, unter Alberts Blick zu lügen. Konnte der Klerus es spüren, wenn man log? Er zwang sich selbst zu einem Lächeln, das genauso auch aussah: als hielte man es gefangen und erpresste es mit vorgehaltenem Schwert, auf seinem Gesicht auf und ab zu exerzieren.
Der Blick, den ihm sein Vetter zuwarf, war etwas zu lang, um bloßes Interesse auszudrücken, doch zum Glück sprang ihm Gwendolyn bei.
„Wir haben es uns angeguckt, lieber Vetter, aber wir konnten einfach nichts daran finden, das man noch verbessern könnte.“
Albert nickte und trotz seines jungen Alters kam es Viktor vor, als schwenke ein Geier seinen Kopf auf der Suche nach Aas. Nicht, dass er je einen Geier gesehen hätte, aber Vater Joachimus erzählte einmal von Indharim, wo die Heiden von Mithras Zorn ganz schwarz gebrannt würden und nur Geier am Himmel flogen.
„Welcher Teil gefiel euch am besten? Ich möchte darauf dann besonders eingehen.“ Albert sprach langsamer, aber Viktor war sich sicher, dass seine Fassade hielt.
„Och, die waren eigentlich alle ganz gut, aber, hmmmm, am besten fand ich wohl den mit … Mydrion?“ Schnell wurde ein Blick mit Gwendolyn getauscht, die aber nur ebenso ausdruckslos schaute. Unmöglich, daraus einen Hinweis für das weitere Vorgehen abzulesen.
Albert griff nach dem Traktat und die ganze Bewegung hatte etwas hölzernes, was Viktor aber auf das lahme Bein schob.
„Ich danke euch, für eure Mühen.“ Er drückte das Lederetui an sich.
„Gerne doch, Albert“, sprang Gwendolyn bei. „Wenn es noch etwas gibt, bei dem wir helfen können …“
„Nein. Ich ziehe mich nun zurück und werde über den Tag kontemplieren. Ich wünsche einen guten Abend.“ Und damit war er auch schon weg. Gwendolyn und Viktor sahen sich an und einen langen Moment sprach keiner. Gebrochen wurde diese Stille davon, dass Gwendolyn erleichtert den Atem ausstieß und Viktor sich zurück sinken ließ.
„Ich glaube, er hat nichts bemerkt“, sagte sie, und auch wenn Viktor daraufhin nur bestätigend nickte, so war er doch nicht völlig überzeugt.

„Erzähl mir noch einmal von Galdrion, dem Güldenen!“ Viktor saß auf dem Küchentisch, was Albert schon zwei mal strengt gerügt hatte. „Er hatte einen goldenen Helm, wie hat er das gemacht? Ist Gold nicht zu weich?“
„Der Helm war nur beschlagen, er war nicht aus purem Gold, Vetter.“ In der letzten halben Stunde waren Alberts Antworten zwar noch immer gewohnt sachlich, aber doch deutlich knapper geworden und die Worte flossen um ein Winzigstel langsamer. „Er war der Sonnenlegionär, der vor knapp 250 Jahren die Bestie des Schwarzweilers erschlagen hat. Tatsächlich fand seine Gnaden Asmodan aber vor kurzem ein Dokument, in dem beschrieben steht, dass Ehrwürden Galdrion nicht allein auszo...“
Viktor winkte ab.
„Jajaja, zerstör' nicht die gute Geschichte. Ist eh alles schon wesentlich langweiliger, als ich es erwartet habe.“ Er ließ er den Kopf erschöpft zurück fallen, dann wieder nach vorn sacken, wo er auf den Händen zu ruhen kam.
„Wie soll ich das verstehen? Dich langweilt die glorreiche Geschichte unserer geliebten heiligen Kirche?“ Gehobene Brauen, vorwurfsvolle Aussprache, Viktor hatte genug von diesem Gehabe. Als sei immer er derjenige, der an allem Schuld war, so dass ihn jeder zu schelten hatte.
Hoffentlich musste er das nicht mehr allzu lange ertragen, es hing alles nur von Gwendolyn ab. Während er hier saß und Albert ablenkte, versuchte sie, seine Robe mit dem Pulver zu präparieren, das sie irgendwo her beschafft hatte. Alle seine Gebete galten ihr … nun, nicht ihr direkt, aber zumindest den sie umgebenden Umständen. Mögen Mithras und alle seine Heiligen geben, dass die Umstände Gwendolyn nicht zu sehr in der Ausführung ihres Planes behindern würden. Wieder einmal wurde ihm schmerzlich der blasphemische Teil seiner Gedanken bewusst, aber er schob sie beiseite.
„Nein, also nicht direkt. Ich dachte nur, es gäbe mehr tote Drachen, tote Dämonen und dergleichen. Mehr Heldentum.“
„Die Geschichte der Kirche ist voller Heldentum.“
„Du weißt, was ich meine.“
Viktor rutschte mit dem Hintern etwas weiter auf den Tisch der großen Küche. Ein paar letzte Mehlspuren, übrig geblieben von den Vorbereitungen für das Festmahl am morgigen Tag, überzogen dabei seine Kehrseite. Albert warf ihm einen langen Blick zu.
„Warum soll ich dir dann drei mal dieselben Geschichten erzählen, wenn sie dir eh nicht gewaltig genug sind? Ist das tatsächlich alles was...“
Plötzlich klopfte es an der Tür. Drei mal kurz, dann zwei mal lang, dann zwei mal kurz und dann vier mal lang. Zum Schluss noch einmal lang-kurz-lang.
Viktor biss sich auf die Zähne. Was konnte das dumme Mädchen überhaupt?! Da war dieses Glühen im Magen wieder und ihm stieg die Wut rot auf die Wangen. Er hüpfte von dem Tisch und warf Albert noch eine kurze Entschuldigung zu, als er schon auf die Tür zustampfte. Gwendolyn würde sich gewaltig was anhören dürfen. Er hatte eindeutig kurz-lang-kurz gesagt.
Onkel Januschs Tobsuchtsanfall nach zu urteilen, hatte dieser Viktor längst als Strippenzieher der Heustadelsache identifiziert. Zuletzt hatte sie nur noch Viktors sehr rotes Ohr gesehen, als sein Vater es losgelassen und angefangen hatte, ihm lautstark die Leviten zu lesen. Ihre Eltern, Kataris und Holger, hatten, nachdem die Untat der Veltenbruchrabauken ruchbar geworden war, eine Magd geschickt, die die ungeratene Tochter in die Wohnstube brachte. Die Dienstbotin klopfte Gwen noch einmal aufmunternd auf die Schulter und schubste sie resolut ins Zimmer. Die kleine Übeltäterin hielt den Kopf wohlweislich und prophylaktisch reumütig gesenkt, als sie ins Zimmer schlich. Die Stirnfransen hingen ihr schon fast in die Augen, erlaubten es aber gerade noch, unter ihnen durchzulinsen. Man konnte sich damit ganz gut vor direkten Blicken drücken. Kataris zog eben einen Strumpf aus dem Korb mit den auszubessernden Kleidern, der bei drei Kindern stets nur wuchs und kaum einmal kleiner wurde.

Die Mutter gab sich redlich Mühe, ihre strenge Seite herauszukehren, aber Gwen musste nur einen Blick auf sie werfen und wusste Bescheid. Es hätte schlimmer kommen können. Und wenn man sich’s recht überlegte: Mit einem Kind wie Welf waren die Eltern ohnedies kaum aus der Ruhe zu bringen. Es war alles schon einmal dagewesen. Angekokelte Kleidersäume, weil Gwendolyn der Saum zu lang war? Welf. Er hatte nur helfen wollen und sie wegbrennen wollen. Das Ahnenporträt von Vladimir Veltenbruch, dem innovativsten Gelehrten zwischen Guldenach und Löwenstein, mit Kohlestift verzieren? Welf. Onkel Vladimir hatte so düster ausgesehen, da wollte er ihm ein Lächeln ins Gesicht zaubern. Durch das Dach des Backofens brechen? Von dort aus ließ es sich am besten auf die Scheune klettern! Nicht Gwendolyn, nicht Lucius – jawohl, Welf.

Sie gab sich trotzdem redlich Mühe, die potentiellen elterlichen Zorneswogen zu glätten. Nie hatte Gwen artiger ausgesehen, nie sich mehr Mühe gegeben, zu wirken, als könne sie kein Wässerchen trüben. Sie schielte schon vor Anstrengung, Unschuld auszustrahlen. „Lass das, Kind. Sonst bleiben die Augen noch stecken!“

Die Standpredigt war kurz und knackig. Gwen musste herbeten, was man ihr immer eingebläut hatte: „Gabel, Messer, Schere, Licht – aber Vater, ich bin doch überhaupt nicht mehr klein!“ „Das gilt auch für dumme Kinder, nicht nur kleine.“ Die Scheune stand noch? Die Pfeife hatten sie zurückgegeben? Alles im Lot. Nur bei Janusch sollte sie sich entschuldigen, aber flott, Frau Kompott.

Vater schaute streng, Mama wackelte bemüht mit dem Zeigefinger, ein Blick wurde ausgetauscht und dann hieß es: drei Wochen Hausarrest und Katzenverbot. Der Hausarrest war zu verschmerzen, nur das Katzenverbot saß. Ihr Kätzchen war erst zwei Monate alt, kohlrabenschwarz und schlief üblicherweise im Mädchenzimmer. Tagsüber tollte es durchs Haus. Kataris hatte es gerne bei sich, wenn sie nähte. Gwen hatte es „Rosenblüte“ getauft, aber Viktor hatte „Hammer“ vorgeschlagen. Ihre Brüder hatten das übernommen. Dummerweise hörte Rosenblüte nun nur mehr darauf. Die Eltern riefen die Magd wieder, die das Kätzchen süße Koseworte flötend forttrug und in die Dienstmagdkammer bringen sollte. Gwen knirschte mit den Zähnen. Im Hinausgehen schnappte sie noch auf, wie ihr Vater – Gwendolyn bildete sich ein, es war fast ein wenig stolz – bemerkte: „Hätt ich ihr gar nicht zugetraut, der Kleinen.“

* * * * * * * * * * * * * *

So saß sie jetzt also in ihrem Zimmer im Schneidersitz auf dem Boden und brütete über einem Vergeltungsschlag. Sie hatte immer noch das Traktat bei sich. Albert hatte eine Rückmeldung gewollt. Lesen? Das konnte der charakterlose Cousin sich in seine ausladende Robenkapuze schmieren nach diesem unverzeihlichen Verrat. Dieser dreimalkluge Kasperl, der sich für was Besseres hielt, nur weil er aus der Hauptstadt angerauscht gekommen war, als wäre er Mithras‘ persönlicher Kammerdiener! Dieser humorlose, kleine Stöpsel! Dieser ausgetrocknete Keks!

Was tun mit dem Schriftstück? Welf hätte draufgepinkelt, aber das widerstrebte ihr. Dafür mochte sie schöne Dinge viel zu sehr. In einem Haus, in dem Handwerkskunst so hochgehalten wurde wie in diesem, zerstörte man nicht einfach mutwillig schöne Dinge, die jemand in mühevoller, sorgfältiger Arbeit hergestellt hatte. Es wäre zu schade um das hübsche, weiche Leder. Und wie genau es vernäht worden war! Gwen streichelte in Ermangelung von Hammer, nein, Rosenblüte!, die Traktatshülle geistesabwesend.

Über Onkel Josephs Gedichte hatten sie dem rechtschaffenen Cousin wohl nichts erzählt in seinem Kloster. Er war der scheuste Onkel, den sie hatten, aber seine Feder war umso leidenschaftlicher: „Verrate einen Veltenbruch und lebe mit dem Richterspruch!“ Der Satz leitete zwar eine Geschichte über einen familienfremden Schurken ein, der es gewagt hatte, ein altes Familienrezept in der Stille der Nacht zu entwenden, um in Guldenach damit Schindluder zu treiben, aber umso schlimmer, wenn man ihn sippenintern anwenden musste! Nachdem kein Richter in unmittelbarer Nähe war, würden Viktor und sie sich selbst darum kümmern müssen, das Gleichgewicht und die Einigkeit im Haushalt wieder herzustellen. Mithras würde das bestimmt gutheißen, Gerechtigkeit war ihm schließlich wichtig. Bestimmt war er schon ungehalten, weil einer seiner Diener seinen Anverwandten so übel mitgespielt hatte. Das musste unter Uneinigkeit fallen. Und Uneinigkeit war Mithras nicht recht.

Es würde an ihr hängenbleiben, einen brauchbaren Akt der Vergeltung auszuhecken, schließlich war sie das Gehirn in der heiligen Allianz der Gerechtigkeit, die sie mit Viktor eingegangen war. Allein durch die enge Verwandtschaft zu Welf hatte sie einen entschiedenen Vorteil. Etwas von seiner Begabung musste irgendwann auf sie abgefärbt haben. Viktor brauchte nicht glauben, er sei das hellere Licht. Sie hatte schon siebeneinhalb Ideen, Albert zu zeigen, wo der Hammer der Gerechtigkeit hing. Der Schlüssel zu ebendieser Gerechtigkeit war die Ledermappe und der damit verbundene Auftritt, soviel war klar.

Viktor zerbrach sich bestimmt gerade alleine den Kopf. Es half nichts, sie würde ihren Zimmerarrest verletzen müssen. Ohne ein Gehirn kam man eben nicht weiter. Außerdem hatte sie die Mappe.

* * * * * * * * * * * * * *

Juckpulver. Das war einfach perfekt. Aber es war ja auch ihre Idee gewesen. Dafür brauchte man keine Mappe. Und während Viktor nun den kleinen Albert in der Küche beschäftigte und vollschwafelte, schlich Gwen sich in den Keller. Dort hatte man ihnen ein Alchemiezimmerchen eingerichtet, damit sie ihre wahlweise stinkenden, rauchenden, explodierenden oder gar bedrohlich unauffälligen Experimente weit weg vom Tagesgeschehen durchführen konnten. Dem Impuls, sich einen eigens für den Kinderball letztes Jahr genähten Umhang überzuziehen, um damit von der öden Gwendolyn Veltenbruch zur Roten Rächerin zu werden, hatte sie nicht widerstehen können. Und dem, das Geländer hinunterzurutschen und „Für die Gerechtigkeit!“ zu jauchzen auch nicht. Es war schon ein Spaß, gerecht zu sein. Das Gute musste siegen! Sie erfand Rachegesänge, während sie sich um das Juckpulver kümmerte. Hagebutten mussten hinein, Pfeffer wurde zerstampft. Es hatte weißer UND schwarzer zu sein, damit das Zauberpulver seine Wirkung tat.

Nieder mit dem fiesen Wicht
Veltenverrat - sicher nicht
Du bist bös und wir sind gut
Pass nur auf, sei auf der Hut


Die Rote Rächerin duckte sich hinter den mit Glockenblumen bemalten Bauernkasten, als ein überquellender Wäschekorb vorbeigetragen wurde. Man musste findig und schnell sein als Fackel der Frommen, als Trösterin der Traurigen, als.. ach ja, das Juckpulver. Endlich gehörte der Korridor ihr allein. Die Hausbewohner waren üblicherweise nur zum Schlafen in diesem Trakt. Sie war auf Höhe des Mädchenzimmers versteckt. Albert hatten sie natürlich ein Einzelzimmer gegeben. Das befand sich am anderen Ende des Gangs. Damit er seine Ruhe hatte und beten konnte, hatte es geheißen. Pff. Ruhe. Selber Ruhe. Auf leisen Sohlen pirschte sich die Rote Rächerin an der Wand entlang und färbelte ihren roten Umhang dabei kalkweiß mit der Wandfarbe, ohne es zu merken. Ein Nagel und ein plötzliches, hässliches, viel zu lautes Ratschen. Der Umhang… Sie hielt die Luft an und kniff die Augen zu. Niemand rührte sich, keine Tür flog auf. Sie inspizierte die Verkleidung. Der Riss verlief an der Seite und war etwa zwei Hand breit. Nichts, was sich nicht reparieren ließ. Es blieb still. Alberts Tür war nicht versperrt und sie brauchte sie nur einen Spalt aufschieben, um sich ins Zimmer zu stehlen.

Typisch. Nichts wies auf die Jugend seines Bewohners hin. Wo Gwendolyn sich ausbreitete, wuchsen die Bücherstapel, die bunten Kleidernester und die aus den Nähten platzenden Herbarien, die Schraubgläser mit ominösen Moosen, die Zettel mit selbstgeschriebenen Geistergeschichten und die halbfertigen Kissenbezüge oder schief genähten Schürzen, die lieblos in eine Ecke gepfeffert wurden und dort ihr trauriges Schicksal fristeten, bis eine Magd sich erbarmte und sie ihrer Bestimmung als Geschirrtuch zuwies und zerschnippelte. Wie es bei Viktor aussah, wusste sie auch. Er teilte ein Zimmer mit seinen Eltern. Sein Bett war deutlich unordentlicher gewesen als das Doppelbett und drin war allerhand Kram gelegen – eine angekaute Stulle, ein eingeschrumpelter Ball und Schreibzeug, das so alt und kaputt ausgesehen hatte, dass man damit wohl eher aufs Papier prügeln musste als eine Feder über es führen. Ein paar Holzsoldaten hatte Viktor auch mitgebracht – oder gefunden. Eigentlich war das ja Spielzeug für kleine Kinder, aber er hatte es wohl irgendwo ausgegraben. Gwen kannte derlei Figuren von ihren Brüdern, die damit Schlachten nachgespielt hatten. Die Figuren waren frisch poliert gewesen und Viktor hatte ihnen die Waffen entwendet. Stattdessen hatte er ihnen Stöckchen in die hölzernen Hände gesteckt und sie mit Papier beklebt, sodass der Eindruck von Fähnchen entstand. „Albert ist blöd“ stand da drauf.

Albert war anders. Kein Kleidungsstück lag sichtbar im Raum. Einzig der Schreibtisch zeugte davon, dass ein Mensch dieses Zimmer bewohnte. Fein säuberlich aufgereiht lagen dort ein paar Bücher – ein rascher Blick wies sie als dem Tempel zugehörig aus, sowie zusätzlich Feder und Tinte und ein paar Blatt Hadern, teilweise mit Ideen und Gedanken über den Glauben beschrieben, teilweise noch leer. Nichts davon vermochte es, ihr Interesse zu wecken. Aber sie war nicht hergekommen, um Alberts Aufzeichnungen zu durchforsten. Oh, der Schreibtisch hatte eine Schublade. Nun, wenn sie schon dabei war.. vielleicht schrieb er doch noch über andere Dinge als nur Heilige und den Glauben. Man musste den Juckpulverplan nicht notgedrungen umsetzen, wenn sich andere Wege finden ließen. Doch ihre zu rasch aufgeflammte Vorfreude wurde bitter enttäuscht. Es war nur ein Schurmesser in der Lade. Darum also seine konstant rasierte Glatze. Zurück zu Plan A.

Gwendolyn steckte flugs den begugelten Kopf in den Schrank. Aha. Da war sie, die Festtagsrobe, glänzend rot, frisch gewaschen, gestärkt, faltenlos. Sie streckte die Hand aus. Nun gab es kein Zurück mehr. Sie hielt ein weiteres Mal den Atem an und lauschte. War das die Treppe gewesen? Unruhig geworden duckte sie sich und lotete das Zimmer nach Versteckmöglichkeiten aus. Nein. Wahrscheinlich nur ein Deckenbalken. Sie hatte sich das vorher genau überlegt. Rasch die Robe am Saum hochschlagen und mit zwei Haarklemmen den unteren Saum feststecken. So konnte sie von oben durch den Halsausschnitt Juckpulver hineinschütten und es so gut wie möglich verteilen und den Stoff durchkneten, damit es gut hängenblieb. Die Ärmel hielt sie nach oben. Es sah ein bisschen aus, als würde sie mit einem Geist tanzen. Sie schmiegte sich an den weichen Stoff. Was für eine Verschwendung, das feine Gewand jemandem wie Albert zu schneidern, der es gar nicht so schätzen konnte wie sie. Die Rote Rächerin walzte durchs Zimmer und stellte sich vor, wie die dankbaren Massen sie auf Händen trugen, weil sie den gräulichen, vetterlichen Verrat bestrafte. Blumen würden sie ihr vor die Füße werfen, jawohl. Die dankbaren Massen trugen allesamt Viktors Gesicht. Albert würde sich katzbuckelnd bei den zwei Verratenen entschuldigen und weinen vor Scham, weil er seine Familie so schändlich in Schwierigkeiten gebracht hatte. Und dann würden sie ihm großmütig verzeihen und ihm noch eine Chance geben. Jeder verdiente das.
Ein Knarren. Direkt vor der Tür. Sie starrte mit schreckensgeweiteten Augen auf den Türgriff. Jemand ging draußen auf und ab. Ihre Augen flogen über die Möbel. Am besten hinter der offenstehenden Schranktür verstecken, da schaute sicher niemand nach. Plötzliches Zittern überfiel sie. Wenn jetzt nur nicht der schöne Plan zunichte gemacht wurde! Sie umklammerte die Robe, begab sich in Lauerhaltung und krallte die Finger in den Robenstoff. Dabei versuchte sie, sich zu einem dünnen Strich zu machen. Sie dachte dabei an Alberts schmächtigen Wuchs. So musste man aussehen, wenn man möglichst wenig auffallen wollte. Die Zimmertür wurde wie zuvor nur einen Spalt weit geöffnet, und wieder war es eine junge Veltenbruch, die sich hereinstahl. Auch ihr Gehabe hatte etwas deutlich Geducktes, Klandestines und gänzlich Suspektes an sich. Almas ekelhaft perfekt frisierten Hinterkopf hätte Gwendolyn unter Tausenden erkannt. Was bei Mithras wollte sie hier? Ein kurzer Blick traf den Kasten. Alma schien sich zu wundern, weil er offenstand. Aber lang hielt sie sich nicht damit auf. Sie trug etwas in einer Hand, das die effektiv Verborgene nicht erkennen konnte.

Der zweite Eindringling stellte etwas auf dem Nachttisch ab, gleich neben der Kerze. Dann verharrte er einen Moment gebückt dort. Was tat die Cousine da nur? Es raschelte, Alma flog förmlich hinaus und mit einem kaum hörbaren Klacken ging die Tür wieder zu. Übrig blieb einer der Festtagsteller. Drauf war ein Stück Kuchen. Ungläubig starrte die Rote Rächerin von der Schranktür zu der süßen Köstlichkeit. Wozu brachte Alma Albert Kuchen?! Die Welt war ein seltsamer Ort. Aber immerhin ein Ort mit Kuchen. Sie verließ ihr Versteck, schlich hinüber zu der almaschen Gabe und schnupperte. Roch nach Rahm und Himbeeren. Ohne die danebenliegende Gabel zu benützen biss sie ein großes Stock heraus. Sollte Albert drüber grübeln, warum ihm jemand Kuchen gebracht hatte, der angebissen war. Sie kicherte.

Eilig löste sie die Haarklemmen und schüttelte die Robe mit einer grandiosen letzten Geste über Alberts offener Reisetasche aus. Schadete gar nicht, wenn es noch eine Überraschung für später gab. Blieb zu hoffen, dass sich genügend Juckpulver im Gewebe der Robe verfangen hatte. Und nun zurück in den Schrank damit. Sie drehte eine abschließende Pirouette.

Wieder war der Gang erfreulich leer.

Die Rote Rächerin sauste mit leichtem Herzen über das Geländer, landete im unteren Geschoss angekommen federnd auf beiden Füßen gleichzeitig, als sie absprang, und galoppierte durchs Haus, bis sie an der Küchentüre angelangte, hinter der ihr begabter Handlanger Albert ein Ohr abschwatzte. Wie war das Klopfzeichen gewesen? Kurz-lang-kurz? Sie konnte sich nicht entsinnen. War ja auch völlig egal. Es ging um ein Klopfzeichen und Viktor würde schon nicht Klopfzeichen mit fünf anderen Verwandten ausgemacht haben. Ein wilder Rhythmus hub an.
Erwartungsvoll schauten fast zweihundert Augen zum Ende der kleinen Kapelle, die vor zwei Generationen auf dem Familiengrund der Veltenbruchs errichtet worden war. Das Licht des jungen Tages fiel in warmen Tönen durch die hohen Buntglasfenster und tauchte die Wartenden in flüssiges Feuer. Jedes bisschen Metall blitzte im Licht und davon gab es vieles, denn zu diesem feierlichen Anlass hatte sich die ganze Familie herausgeputzt. Goldene Knöpfe an Manschetten und Reversen, silberne Ohrringe, juwelenbesetzte Ketten und schwere Ringe. Für gewöhnlich waren die Veltenbruchs ein bescheidener Schlag Menschen, der Schmuck nur sehr dezent und pointiert zur Kleidung einsetzte, doch an einem Tag, an dem man unter sich war und nur die eigenen Verwandten und einige wenige Freunde der Familie übertrumpfen musste, wurde auch bei den Veltenbruchs aufgefahren, was die Schmuckschatulle her gab. Die Luft war nicht nur geschwängert, sondern regelrecht trächtig von den Düften verschiedenster Duftwässerchen, Parfums, parfümierten Kerzen und dem aromatischen Rauch einiger Hölzer, die Vater Joachimus in die kleine Feuerschale auf dem Altar gelegt hatte. Er war es auch, der die Zeremonie führen würde, und nicht die hauseigene Priesterin Zerline. Man war überein gekommen, dass man jedem Mitglied der Familie die Gelegenheit geben wollte, die Zeremonie in vollen Zügen zu genießen und da Joachimus ein Freund der Familie war, wurde er gebeten die Hochzeit zu leiten, damit Zerline diesen Tag nicht in Gedanken an ihre Pflichten beginnen musste. Natürlich mauschelte man, dass Zerlines mürrische Miene und ihre Angewohnheit, Messen und andere Gottesdienste quälend in die Länge zu ziehen, etwas zu der Entscheidung beitrugen, aber niemand konnte wissen, ob es wirklich der Tatsache entsprach. Aus Zerlines Gesicht herauszulesen war es sicherlich nicht. Das war mürrisch wie immer und so wurde allerorten immer nur bekräftigend genickt und zustimmend gebrummt, wenn die Wahl des Priesters zur Sprache kam.
Vater Joachimus stand vor dem Altar, in jeder Hand eine jungfräuliche Kerze. Viktor fiel auf, dass der alte Mann am gestrigen Abend noch einen Barbier aufgesucht haben muss, denn das lange Haar um die Halbglatze fiel wie gestriegelt und auch der dichte Vollbart wirkte nicht ganz so struppig wie zuvor. So zurechtgemacht verlor er zwar ein wenig von dem geselligen alten Herrn, zu dessen Füßen Viktor so gern den Geschichten aus der Kirche lauschte, gewann aber gewaltig an Majestät. In dem warmen Licht, durch das der Rauch der kleinen Feuerschale träge tanzte wie ein verliebtes Paar, wirkte das Rot seiner Robe nur noch um so deutlicher. Erst recht, da er einer von nur dreien war, der so aus der Menge herausstach. In der vordersten Reihe, die traditionell den engsten Angehörigen und der Priesterschaft zustand, hoben sich auch die Roben von Albert und Zerline deutlich ab. Der Rest der Hochzeitsgesellschaft war in Weiß und Hellblau gehüllt, die stolzen Farben der Familie.
Eine kleine Musikantentruppe aus Streichern erhob sich am Rand der Kapelle von ihren Hockern, nahm Position ein und begann unaufdringlich zu spielen. Feierlich erhoben sich die Klänge und zu der Melodie von „Mithras, golden in der Höh'“ wandten sich alle Köpfe dem Eingang zu.
Als er sich umdrehte fing Viktors Blick kurz den Gwendolyns auf. Kurz starrte er das Mädchen an, ehe auch er dem Brautpaar gebührendes Staunen schenkte.

Onkel Linhart und seine Braut standen in Kleider gehüllt vor dem Altar, für die man ein halbes Haus hätte verkaufen müssen, befand Viktor. Das war standesgemäß, nicht diese fürchterliche Kreation aus Blau-Weiß, die er trug und ihn dermaßen am Kragen juckte, dass er Mühe hatte, es nicht einem Hund gleich zu tun und sich mit dem Fuß zu kratzen. Mehrmals musste ihn seine Mutter Melinda die Hand auf die Schulter legen um ihn stumm zur Ruhe zu rufen, wenn er zu arg hin und her zappelte. Selbst Vater Joachimus konnte Viktors Aufmerksamkeit nicht recht fesseln. Der alte Priester sprach so zart, so sanft und doch so raumfüllend, wie der Junge es von ihm gewohnt war. Da steckte doch der altbekannte Joachimus unter dem geputzten Äußeren. Das Brautpaar, immer wieder den einen oder anderen schüchternen Blick tauschend, als hätten sie sich eben erst kennen gelernt und nicht schon fast ein Jahr eine innige Beziehung geführt, lauschte andächtig seiner kurzen Predigt. Auch die Familie lauschte und nur selten durchbrach ein leises Hüsteln oder das Rascheln von schwerem Brokatstoff die Stille. Viktors Blick fiel auf Alberts rasierten Hinterkopf. Warum auch immer der sich eine Glatze geschoren hatte wusste er bis heute nicht. Wie eine Statue saß Albert da, oder nein, noch eher wie eine Schaustellerspuppe mit angezogenen Fäden, dachte sich Viktor. Angespannt und fest, als sei er mit Drähten befestigt. Pffft! „Das ist eine Feier, du Blödian“, nuschelte er zerknirscht vor sich hin, was ihm einen strafenden Blick seiner Mutter einbrachte, „entspann dich ein mal in deinem Leben.“ Das weckte irrationalen Zorn in ihm. Warum konnte der Kerl sich nicht einfach mal geben wie es sein sollte? Er war nicht mal ein halbes Jahr älter als Viktor und Gwendolyn und gab sich, als sei er einer der Erwachsenen.
Vielleicht bewegte sich Albert aber auch einfach nicht, weil er sonst mit dem von Gwendolyn eingepulverten Stoff der Robe in Berührung kam? Ha, das musste es sein! Der Eumel konnte sich nicht bewegen ohne sich gänzlich zu blamieren! Doch dann kam der Schwur und alle erhoben sich. Kurz wandte Viktor den Kopf zur Seite, als besonders lautes Geraschel von Stoff seine Aufmerksamkeit weckte. Alma war in der Reihe vor Gwendolyn und ihr Festtagskleid war so opulent, dass es für zwei Mädchen gereicht hätte. Sie war so über und über behangen mit Schmuck, dass sie eher wie die Auslage eines geschmacklosen Juweliers aussah, denn wie die nach der Mode Guldenachs gekleidete Dame, die sie darstellen wollte. Viktor schauderte.
Dann fiel ihm auf, dass Gwendolyn selbst abgelenkt war. Irgendetwas fesselte die Aufmerksamkeit der Cousine auf einen Teil von Almas Rücken. Er hatte keinen guten Blick darauf, aber es sah fast so aus, als griffelte Gwendolyn an Almas Kleid herum. Mädchen! Alle gleich, dachte er sich. Kaum trägt eine ein wuchtigeres Kleid mit mehr Klunkern und schon wurden sie zickig und bissig wie …
Es fiel ihm kein rechter Vergleich darauf ein. Irgendwas mit Katzen vielleicht. Aber da sich bei den Veltenbruchs ein schlanker, gerader Wuchs mit langen Beinen durchgesetzt hatte, konnte es auch was mit Pferden sein. Egal!, schalt er sich in Gedanken. Mädchen sind eh langweilig. Und Pferde erst recht, weil Mädchen Pferde mochten.
Als er sich wieder auf Albert konzentrierte musste er feststellen, dass dieser sich doch recht behaglich erhoben hatte. Kein Zeichen einer Einschränkung, nichts, was darauf schließen lassen könnte, dass er sich absichtlich zurück hielte um ein Jucken zu meiden. War Gwendolyns Mixtur vielleicht doch nicht so effektiv gewesen, wie sie es angekündigt hatte? Zu seinem Zorn mischte sich nun ein Gefühl, das er nicht einordnen konnte. Teils war er sehr selbstzufrieden, weil Gwendolyn eben doch nicht die Meisteralchemistin war, für die seine Eltern (und so gut wie jeder andere) sie hielten, teils verstimmt über den Misserfolg der von langer Hand geplanten Aktion.
Jäh wurde er aus seinen Gedanken gerissen, als Vater Joachimus seine Kerze anhob, damit Linhart die Kerze seiner Braut daran entzünden konnte. Es wurde mucksmäuschenstill, als er zu sprechen anhob.
„Mithras ist das Licht der Welt.
Ich aber will sein das Licht deines Lebens.
Von nun an und immerdar.
Dies gelobe ich in Mithras‘ strahlendem Angesichte."
Seine Braut sprach denselben Schwur und entzündete die Kerze des Onkels an der des Priesters, nur um sie Linhart dann zurück zu reichen. Viktor hatte nicht viel für Romantik über, doch auch ihn ergriff dieser Moment und brachte das Tosen der Gefühlsregungen in ihm für einen Augenblick zum Schweigen. Er bemerkte, wie seine Mutter jappste und sich mit einer Hand Luft zufächelte, während sie mit der anderen Hand nach Janusch griff. Dann beendete Joachimus die Zeremonie.
"Der Herr Mithras hat die Glut in eure Herzen gelegt, die hier vor Seinem Angesichte zur Flamme wurde. So wie das Licht der Welt ewig über uns erstrahlt, soll auch das Licht eures Bundes niemals erlöschen. So gebietet es die Ordnung. Und jetzt küsst euch schon!"
Sie küssten sich, die Menge jubelte. Viktor nicht. Er beobachtete Albert.

Unter Hochrufen wurde das Brautpaar aus der Kapelle begleitet. Kinder, die für Viktor, obwohl er selbst nur ein paar Jährchen älter war, nervende krakelende Quälbeutel darstellten, warfen mit Blumenköpfen und Blütenblättern und gingen der Prozession lärmend voran. Dabei teilten sie sich nach eigenem Gutdünken auf und verteilten ihre florale Fracht überall über dem Gutshof. Nur wenige hielten sich an die Vorgaben ihrer Eltern und bestreuten auch den richtigen Weg, hin zum großen Garten hinter dem Haupthaus, wo schon Tische und Bänke bereit standen.
Die Erwachsenen dagegen bestürmten die frisch Getrauten mit Glückwünschen, Handschlägen, Schulterklopfern und noch viel mehr Hochrufen. Bedienstete kamen herbei um auf Tabletts Erfrischungen anzubieten, aber Viktor wusste genau, was es mit diesen Erfrischungen auf sich hatte. Das war Schnaps und Wein und wenn man davon zu viel trank, wurde man alles andere als frisch. Im Alchemieunterricht mussten Gwendolyn und er auch gelegentlich mit Alkohol hantieren, doch der Lehrer achtete immer aufs Peinlichste genau darauf, dass die beiden bloß nicht davon tranken. Umso seltsamer, dass die Erwachsenen es nur so in sich hinein stürzten. Auch das Brautpaar ließ sich das eine oder andere Gläschen schmecken.
Janusch schob Viktor auf Onkel Linhart und seine Ehefrau zu.
"Gratuliere, Viktor!"
"Ich will aber nicht", protestierte er. "Ist doch nicht meine Hochzeit."
"Das macht man aber so. Das ist nur höflich", beharrte sein Vater und verstärkte den sanften Druck, mit dem er den Jungen in Richtung des Brautpaares lotste. Viktor rang es sich ab, beiden förmlich die Hand zu schütteln und ein paar Glückwunschworte heraus zu stammeln. Zu seiner Überraschung schien es dem Brautpaar kaum etwas aus zu machen, und sie bedankten sich lachend bei ihm und gingen sogar extra etwas in die Hocke. Unter all den Dingen, die ihn erzürnten, und derer gab es sehr viele, brachte so etwas das Fass fast immer zum Überlaufen. Wenn Erwachsene vor ihm in die Hocke gingen, dann behandelten sie ihn wie ein Kind und das war er schließlich nicht mehr. Er hüpfte und tanzte ja auch nicht mit Pflanzenabfall über den Hof und schrie dabei wie mit der Heugabel abgestochen. Was die Eskalation gerade noch so abwand war die mahnende Vatershand auf der Schulter des Burschen, die sanft aber bestimmt ein stummes Pass-bloß-auf-Junge-oder-es-setzt-was ausdrückte. Erleichterung durchströmte ihn, als der Pflichtteil erledigt war.

Er lungerte eine Weile am Brunnen und beobachtete die Gesellschaft, die sich grüppchenweise auflöste um dem Garten zuzustreben. Als der größte Teil hinter das Haupthaus verschwunden war, folgte auch Viktor nach. Gwendolyn hatte er irgendwann aus den Augen verloren.
Im Garten war eine kleine Bühne errichtet worden und mehrere bunt bemalte Pfosten dienten mit hoch in der Luft hängenden Girlanden als Abgrenzung. Alles war so randvoll mit Blumen und die Luft so voll ihres Duftes, dass sich Viktor fast der Magen umdrehte. Die Tische bogen sich leicht durch unter der Last der ganzen Speisen und man hatte sogar extra einen Süßwarenbäcker aus Hohenkliff kommen lassen, der einen eigenen Tisch nur mit seinen klebrigen Waren gefüllt hatte. Die Kinder, deren Eltern nicht auf sie geachtet hatten, waren innerhalb kürzester Zeit zu widerlichen Zuckerkreaturen geworden, an denen alles haften blieb, und die sich dennoch weiter bedenkenlos alles in den Mund schoben, das auch nur im Ansatz nach Praline aussah. Eine haarende Katze, die alle streicheln wollten, dazwischen herum schnurren zu sehen, machte den Anblick keineswegs angenehmer.
An das Hauptgebäude angrenzend war eine kleine Bühne errichtet, von der aus die Musikanten gerade ihre Kunst auf die Feiernden nieder rieseln ließen. Zwischen den Stücken durften Verwandte und Freunde noch einmal, in Anekdoten verpackt, ihre Geschichten mit dem Brautpaar zum Besten geben und gegen Ende sollte Albert sein Traktat vorlesen. Die Bühne war ein recht einfacher Aufbau, aber auch hier hatte man es sich nicht nehmen lassen, über ihr schwere Vorhänge und mehr Blumengestecke als Viktor es für schicklich erachtet hätte, zu befestigen. Die Bühne hatte so etwas von einem dicken, bunten Schweinchen auf dünnen Stelzen.
An einem der Tische fand er Gwendolyn, die versonnen einige kleine Würstchen und ein halbes, hartgekochtes Ei auf ihrem Teller hin und her schob. Viktor fiel auf, dass das Eigelb durch irgendwas anderes ersetzt worden war.
„Er kratzt sich gar nicht.“ Ihre Stimme klang enttäuscht. Weniger, weil Albert keinen Juckreiz zu spüren schien, sondern eher, weil ihre eigenen Fähigkeiten nicht so weitreichend waren, wie sie dachte.
„Schon viel früher gemerkt.“ Lässig, wie er dachte, lehnte er sich an den Tisch, aber seine Augen taxierten die Menge nach auffälligen roten Roben.
„Was machen wir jetzt?“, fragte Gwendolyn und drehte sich ihm zu. Beiläufig schnappte er das Ei von ihrem Teller und schob es sich in den Mund.
Noch immer kauend antwortete er ihr: „Wir müffen ihm moch härter treffem alf vorher.“
„Bah“, quittierte sie sein Kaureden und starrte ihm angewidert auf den Mund. „Wie sollen wir das...“
Viktor schnitt ihr mit einer gehobenen Hand das Wort ab. Am anderen Ende des Gartens sah er Albert. Und dieser sah ihn. Viktor hob, die Backen noch voller Ei, die Hand, um einen fröhlichen Gruß zu mimen. Gwendolyn tat es ihm hastig gleich. Albert winkte nicht.
Obwohl immer wieder Leute ihr Blickfeld durchkreuzten, hielt der Bursche in der Farbe der heiligen Kirche Mithras' den Blick lange aufrecht. Zu lange.
„Wir sind am Almarsch“, flüsterte Viktor, das Lächeln tapfer weiter tragend.
„Warum?“ Gwendolyns Rotschopf wandte sich wieder ihm zu.
„Er weiß bescheid.“
„Das meinst du nicht ernst.“ „Wann warst du das letzte Mal in Guldenach, Gwendolyn?“ „Aber.. aber du siehst aus wie eine Erfindung von Onkel Janusch. Kann ich da dran ziehen? Drehst du dich dann im Kreis? Uh, was ist das? Es blinkt! Hallo Blinki! Und die Ärmel! Siehst du überhaupt noch drüber? Hat man das so in Guldenach?“ Alma wandte sich eingeschnappt ab und wechselte klirrend, glitzernd, raschelnd, klappernd und glänzend die Kirchenbank, nur um sich in blendender Opulenz dann direkt vor Gwendolyn niederzulassen. Noch weiter vorne stand in all seiner festroblichen Pracht Albert. Neben ihm hätte wohl Silendir untergehen können und er hätte sich nicht gerührt. Gwendolyn lauerte darauf, die Wirkung des Juckpulvers an einem lebenden, menschlichen Objekt zu beobachten, ahnte aber Übles. Noch rührte der Vetter sich enttäuschend wenig. Aber es gab auch so genug zu schauen.

Ihre Eltern waren reihenweit weg, weil Gwendolyns Vater Onkel Linharts Glaubensbürge war und schon bei dessen Kleiner Indoktrination einst mit stolzgeschwellter Brust neben Linhart verweilt hatte, als dieser offiziell in die Reihen der Gläubigen aufgenommen worden war. So auch heute, als Linhart in die Reihen des verheirateten Volks aufgenommen wurde. Welf und Lucius allerdings verharrten in all ihrem weißblauen Festaufzug direkt hinter ihrer Schwester. Sie konnte nicht umhin, Welfs Chuzpe zu bewundern. Nur ihr Bruder schaffte es, ins Stroh zu kotzen, weil er verbotenerweise an einer Pfeife gezogen hatte, sich stundenlang kleinlaut zu verkrümeln und dann mit einem Aufzug, der an den Ganzkörperschlafanzug eines Hofnarren erinnerte, wieder aufzutauchen. Hemd und Hose waren aus demselben Stoff und die Hosen waren noch dazu viel weiter geschnitten, als es üblich war. Das Faszinierende war, mit welcher Selbstverständlichkeit er ihn trug und dass er auch noch damit davonkam. Sie hatte schon einen Pulk älterer Großcousinen ausgemacht, die ganz eindeutig nicht angewidert auf ihren großen Bruder zeigten und dabei großcousinlich-erfahren raunten, wie nur ältere Mädchen raunen können, die etwas zu verbergen haben.

„Und darum sind wir heute zusammengekommen, um… !“

Ihre Aufmerksamkeit war überall, nur nicht bei der Predigt. Sich lange auf Reden zu konzentrieren, fiel ihr schwer. Albert rührte sich nicht vom Fleck. Verflixt noch eins. Der Plan schien gescheitert.

„.. werden im Sinne Mithras‘ erzogen werden, wie schon so viele vor ihnen.“

Heiraten. Kinder kriegen. Ob das nun wirklich das Gelbe vom Ei war, wie alle immer taten? Heiraten schien es erforderlich zu machen, ein Korsett anzuziehen. Das sah zunächst einmal gräulich unbequem aus. Aber vielleicht ließ sich das umgehen. Man müsste etwas finden, das kein Korsett erforderte. Meisteralchemistin in Guldenach werden zum Beispiel. Beraterin des Königs in Gelehrtenfragen! Hofarchivarin! Bezahlte Schmähbriefschreiberin! Vorkosterin. Bei Titus Falkenstein gab es bestimmt jeden Tag Rebhuhn und Knödel, Cremetorten und ganze Tempelgebilde an Keksen.

Almas Bänder lenkten ihre Gedanken zurück in die Gegenwart. In allen denkbaren Blautönen zwischen Stiefmütterchen und Gewitterhimmel baumelten sie unterschiedlich lang vom Rücken der Base und verzierten ihr Angeberkleid. Dem Blumenschmuck am Kopf der Bänke waren Bänder verpasst worden, die etwas weniger offensiv um die Aufmerksamkeit des Betrachters buhlten. Geistesabwesend fing Gwendolyn an, sich die Leinenbändchen um die Finger zu wickeln, bis ihre Hand völlig einbandagiert war und aussah wie die einer wüst Verletzten. Aber einer modebewussten mit blauen Bandagen. Ah! Man könnte aber auch…

„Mama! Gwendolyn hat mich angeflechtet!“ Ein dumpfes Plumpsen, als der cousinliche Hintern wieder auf die Bank traf, abgefedert von mehreren Lagen Organza. Das Greinen ging in dem bienenstockartigen Summen gutgelaunter Veltenbruchs unter. Und bevor man die geläuterte Handarbeiterin aus der Menge zupfen konnte, war sie schon in einem blauweißen Kleidermeer untergetaucht und heftete sich an Viktors Fersen. Er hatte sich die ganze Predigt lang nur ein einziges Mal umgedreht und wohl wie sie bemerkt, wie wenig effektiv der Juckpulverjux gewesen sein musste. Woran lag es nur? Vielleicht war das Juckpulver zu wenig frisch gewesen? Beinah war sie auf seiner Höhe, hielt schon die Hände in Position, um ihn von hinten in die Seite zu zwicken, als sie den Boden unter den Füßen verlor, weil man sie hochhob.

„Na, Zwerg?“ „Pscht, Papa! Nicht vor den anderen!“ Der Vater schien sich keiner Schuld bewusst, hielt sie weit genug von sich, um von ihrer ungeduldigen Strampelei nicht behelligt zu werden und lachte, als er sie wieder absetzte. Die Kindertriangel – Welf und Lucius hatten sich durchbugsiert – gesellte sich dazu und man trieb gemächlich wie menschliches Treibholz Richtung Brautpaar. Als Gwendolyn den Feuerschopf drehte, sah sie Alma mit puterrotem Kopf aus der Kirche stolzieren. Ihren eigenen zog sie wohlweislich wieder ein.

Nach dem Gratulationstamtam kümmerte man sich um die knurrenden Bäuche. Welf war in Kürze von den Großcousinen umringt, die ihn um einen Kopf überragten, aber offenbar befanden, er wäre der amüsanteste Kerl zwischen hier und Indharim. Lucius stand peinlich berührt daneben und schaufelte sich Kuchen in den Rachen. Die kleine Schwester verzichtete darauf, Welfs erstunkenen und erlogenen Geschichten zu lauschen, die ihn wenig überraschend immer glänzend dastehen ließen und wanderte zu einer Bankansammlung am Rande des Festplatzes, um sich ihrem Teller zu widmen. Wer immer auf die Idee gekommen war, das Eigelb im Spiegelei durch sattgelbe Buttercreme zu ersetzen und das Weiß aus Windgebäck zu formen, war ein verflixtes Genie.

Endlich. Ihr Spießgeselle ließ sich auch einmal wieder blicken. „Bah.“ Als er sich das Spiegelei in den Mund schaufelte und gleichzeitig redete und aß, kamen ihr die verspeisten Süßigkeiten wieder hoch. Kein bisschen Tischmanieren, der Junge! Selbst essen musste bei Viktor ein Akt der Auflehnung sein. Er musste einfach um die Burg zeigen, wie viel lässiger er war. Sein wollte! Jungs.


Ihr Kampflächeln erstarb, als Albert am Rand der Bildfläche auftauchte und sie wieder verließ. Gwendolyn beschloss, sich nicht unterbuttern zu lassen. „Dann weiß er halt Bescheid. Ich hab einen Plan.“ Viktor schaute auf sie herunter. Sein Gesichtsausdruck war zweifelnd zu nennen, wenn man guten Willens war und ungläubig, wenn das Gegenteil der Fall war.

„Dein letzter Plan ging mit Karacho in die Hose.“
„Mach’s halt besser!“
„Mach ich auch!“
„Ach ja?!“
„Ja!“

Verbissenes Schweigen. Sie fing wieder an.

„Du hast überhaupt keinen Plan!“
„Wohl!“
„Ach ja?!“
„Jaha!“
„Dann sag!“
„Dir nicht!“
„Dämlack!“
„Gans!“
„Selber!“
„Das geht nicht!“
„Wohl!“

Ihr schwante, dass es im Augenblick vielleicht nicht so wichtig war, über die Zulässigkeit von Beleidigungen zu sprechen. So murmelte sie verhalten:
„Hör zu. Wir machen’s mit Katzen.“
„Hä?“

Sie winkte ihn auf Verschwörerart auf die Bank und schaute sich viel zu auffällig um. Er setzte sich gegenüber hin und flüsterte gequält:

„Schau nicht so! Jeder Erwachsene sieht dir auf einen Blick an, dass wir was ausfressen.“ Ertappt nutzte sie die Hände als Scheuklappen und raunte eindringlich.

„Katzen! Wir holen uns Baldrian aus dem Keller, ich kipp’s in einen Becher und wir schütten es auf Alberts Robe drauf! Dann zieht er Katzen an wie der Honig die Fliegen und kann nicht reden, weil sie ihn anmiauen. Wirst sehen, das wird ganz groß!“
„Das ist ein blöder Plan. Da kann ja alles schiefgehen! Da sehen uns ja tausend Leute! Außerdem ist das viel zu auffällig, wenn wir den anschütten!“
„Dann.. geb ich’s Alma und wir rempeln sie nur!“
„Das ist *noch* viel auffälliger! Du denkst zu kompliziert. Ich hab ‘nen todsicheren Plan.“ „Ach ja?“
„Ja.“
„Ja?!“
„Willste ihn nun hören?“
„Wenn’s sein muss!“
„Mein Vater hat da was gebastelt..“

Neidvoll musste sie sich eingestehen, dass er diesen Punkt für sich entschied. Alchemie war unglücklicherweise doch nicht die Antwort auf alles. Manchmal suchte man sein Heil besser im Offensichtlichen. Der gemeine, aber tröstende Gedanke waberte ihr durchs Hirn, dass simple Gedanken ja auch zu simplen Geistern passen. Das Genie wurde eben verkannt, das war ja überall und immer so.

„Du links, ich rechts. Das braucht nur einen Zug an den Kordeln im richtigen Moment. Und dann tauchen wir unter die Bühne. Perfekt. Keiner wird uns da unten finden und das Gewächszeugs an der Bühnenseite gibt uns Sichtschutz. Der Vorhang rauscht auf ihn runter, der Käfig geht auf und die Tauben fliegen los, wie Vater es wollte. Nur nicht in dem *Moment*, in dem er’s wollte. Danach wird keinen mehr sein ödes Traktat interessier’n, alle jubeln und das hat er nun davon, der Verräter. Wenn wir Glück haben, lassen die Viehcher noch was fallen.“

„Ich will rechts sein.“

„Musst du immer das letzte Wort ha..?!“

„Ja.“
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