Jugendsünden 1393
#7
Die Dächer des Gutshofes standen mit ihren roten Ziegeln über der Baumkuppe und leuchteten geradezu im Licht des untergehenden Mithrasauges. Es war nun später Nachmittag, der Vorabend der Hochzeitsfeier. Die Grillen zirpten, als wollten sie unbedingt den Gesang der Vögel übertreffen, die ihrerseits gegen das Plätschern des kleinen Flusses und das Klappern des Wasserrades anzwitscherten. Im Wind lag dieser altbekannte Sommergeruch nach Gras, Blumen und einer reinen Luft, die man im menschenüberladenen Guldenach vergeblich suchte. Alles in allem hätte es ein herrlicher Abend werden können ... wenn er denn ein Auge dafür gehabt hätte.
Viktor saß mit einem Strohhalm in der Hand am Wasser und zürnte. Frösche waren auch nicht mehr das, was sie mal waren. Vermutlich war er mittlerweile zu groß und zu auffällig, als dass sie sich noch problemlos fangen ließen. Und dabei dachte er, dass seine Technik so ausgereift sei, dass er im Nu welche in seine Taschen hätte stopfen können. Zumindest einen. Vielleicht wussten die schleimigen Biester auch einfach, was ihnen bevorstand. Wie arrogant von ihnen! Wie konnten sie denn mit Gewissheit denken, dass er sie aufpusten wollte? Vielleicht wollte er sie auch nur Albert in die Tasche schieben! Schon mal daran gedacht, ihr blöden Kleinkröten?! Wütend schmiss er den Strohhalm weg. Verschwendete Zeit. Es hatte ihm nichts weiter eingebracht als eine nasse Hose. Gut, die Stiefel hatten auch etwas abbekommen, ehe er bemerkt hatte, dass das Wasser tiefer gewesen war als zuerst angenommen. Vater würde wieder laut werden, die Stiefel waren noch keine Woche alt, aber das kümmerte Viktor herzlich wenig.
Viel mehr wurde seine Aufmerksamkeit von diesem Wasserrad gefesselt, das in dem kleinen Bach, nur ein paar hundert Schritte hinter dem Gutshof, fröhlich seine Runden drehte, als könne es kein Wässerchen trüben. Wozu brauchte man so etwas überhaupt, wenn da keine Mühle dran war? Um eine Mühle anzutreiben wäre es eh zu klein gewesen. Dann erinnerte er sich. Das Wasserrad hatte sein Vater Janusch gebaut, vor vielen Jahren. Es sollte keinem bestimmten Zweck dienen, sondern einfach nur nett aussehen, obwohl Janusch gelegentlich im Scherz erzählte, er wolle da noch eine Stange dran bauen, um ein Schwein über dem Feuer drehen zu lassen. Bestimmt hatte das dumme Geklapper alle Frösche verscheucht. Und dabei wäre ein Frosch in der Robe die perfekte Rache am hochnäsigen Albert gewesen. Am besten noch ein aufgeblasener. Tu zusammen, was zusammen gehört.
Albert. Viktor loderte, wenn er nur an ihn dachte. So viele tolle Dinge hatte er sich ausgemalt von dem Zusammentreffen mit seinem Cousin und war von der Wirklichkeit schmerzlich enttäuscht worden. Zumindest das musste man Albert lassen: Was er versprach zu tun, das tat er auch. Er hatte gesagt, er würde petzen und nur wenige Augenblicke später kam Janusch in die Scheune gerauscht wie ein Wirbelwind und hatte das ganze Maß angemessener elterlicher Erziehung über Viktor ergehen lassen. Er wurde angeschrien und am Ohr aus der Scheune gezogen, nur um dann von Vater und Mutter zugleich eine Predigt gehalten zu bekommen, die Vater Joachimus vor Stolz hunderte weitere Lachfalten ins Gesicht gegraben hätte. Er fand es absurd, dass er noch bemerkt hatte, dass sein Vater eher den Diebstahl der Pfeife rügen wollte, seine Mutter ob eines eventuellen Feuers in der Scheune aber fast den Verstand verlor. Falls sich Gwendolyn etwas hatte anhören müssen, so hatte er das nicht mitbekommen. Wäre ja auch nichts Neues! Sie war ja schließlich nie schuldig!
Eine Weile brütete er noch still vor sich hin, den abgründigen Blick auf das Wasserrad gerichtet. Er würde Gwendolyn trotz des Ärgers suchen müssen. Sie hatten Rache an Albert geschworen und er brauchte sie, zumindest dafür. Danach sollte sie doch dort hin gehen, wo de Pfeffer wächst. Dass er nicht wusste, wo das genau war, machte ihn nur noch wütender. Immerhin wüsste er dann aber auch, dass das von allen so geliebte Püppchen weit genug weg wäre.
Als er zum Gutshof zurück trottete, die Stiefel in den Händen, klapperte es nicht mehr. Das Wasserrad hing schief getreten in der Strömung.

"Und dann hätte er sich irgendwo hin gesetzt und Peng! Einen Knall und die Taschen voller Frosch! Was meinst du, wie der geguckt hätte!" Viktor kicherte boshaft, aber nicht lange. Gwendolyns Gesichtsausdruck verdarb ihm irgendwie den Spaß an der Vorstellung. Vermutlich fand sie es einfach eklig, aber sie war ja schließlich nur ein Mädchen. Was konnte man von denen schon erwarten? Einen guten Sinn für Humor auf jeden Fall nicht.
"Das ist gemein, Viktor. Der arme Frosch", tadelte sie ihn sanft, aber mit Nachdruck.
"Ich hab ja eh keinen bekommen, von da her müssen wir uns sowieso was anderes einfallen lassen." Eine der Hauskatzen strich ihm ums Bein. Sie saßen in der kleinen Vorkammer der Stube im Haupthaus, dort, wo alle Schuhe und Stiefel aufbewahrt wurden. Reihauf türmten sich die ledernen Fußbekleidungen neben Töpfchen voll Stiefelwichse, Stiefelkechten und Schuhkellen. Auch der ein oder andere Mantel hing hier, gleich unter einigen auf Bretter genagelten Geweihen und Dammwildschädeln. Onkel Hagen war in der Zeit seiner Jugend gelegentlich zur Jagd ausgeritten und jetzt begrüßte sein waidmännisches Glück jeden, der das Haus betrat. Das ließ den sonst so friedlichen Hof der Stellmacher in einem unerwartet wehrhaften Licht erscheinen. Nun allerdings starrten die leeren Augenhöhlen der Schädel auf die zwei jungen Veltenbruchs nieder, teils anklagend, teils neugierig wie stumme Zeugen eines Verbrechens.
Viktor saß hier, weil er zum Stiefelputzen verdonnert worden war und Gwendolyn war eher zufällig in ihn hinein gelaufen. Sie hatte Alberts Traktat bei sich.
"Wir könnten in seine Robe Löcher schneiden, wie wär das?", schlug er vor und wedelte mit der Schuhbürste, die heute noch keinen ernsthaften Strich getan hatte. "Dann will er sie anziehen und jeder sieht seinen Almarsch!" Das bewegte beide kurz zu kichern.
"Ist aber doch Blasphemie, oder? Ich meine, so eine Priesterrobe?"
"Der ist nur Novize, es wäre also nur eine kleine Blasphemie." Er war selbst schon nicht mehr so überzeugt von seiner Idee. Es wäre vielleicht ein wenig zu derb. Sein Blick fiel auf das Traktat, das noch immer in seinem ledernen Umschlag steckte. Er schnaubte abfällig.
"Gut, dann eben doch das Ding. Wird schon nicht so schwer sein. Hier und da ein paar Worte ändern, vielleicht einen Satz streichen ..."
"Er wird aber selbst wissen, was er schrieb. Und er wird vor dem Vortrag sicher noch einmal drüber gucken", erinnerte sie ihn und sah selbst unzufrieden aus.
So ging das eine Weile lang noch hin und her. Vorschläge wurden gemacht und entweder als zu schwach oder zu übertrieben abgeschmettert. Einige Pläne fielen bei den Kindern auch wegen der schieren Unumsetzbarkeit in Ungnade. Mittlerweile hatte die Sonne den Horizont längst berührt und Mithras füllte die kleine Kammer durch ein winziges Fenster mit rubinrotem Licht.
"Juckpulver." Gwendolyn lächelte triumphierend, als sie die Idee hatte. Viktor war von diesem Triumph zwar angeödet, war aber wieder hellwach, nachdem das Hin und Her ihn ermüdet hatte.
„Oooh, gute Idee! Nur … wie? Ich weiß nicht, wie man so was macht.“
Sie plusterte sich auf wie ein Rotkehlchen.
„Ich aber!“ Und dann begann sie, den Plan zu erläutern. Gwendolyn würde Juckpulver herstellen und es in Alberts Robe verteilen. Sie hatte in der Nähe einen Strauch Hagebutten gefunden, die sich perfekt dafür eignen würden. Sie gab auch vor, dass sie über den komplizierten Herstellungsprozess, über den sie Viktor nicht einweihte, genau Bescheid wüsste. Es sei ein Geheimnis und nur ganz besondere Alchimisten seien darin eingeweiht. Natürlich, und sie hielt sich für ach so besonders, ging ihm im Kopf herum. Das Goldkind. Die, die alle sooo gern hatten. Gwendolyn die Fehlerlose. Es widerte ihn beinahe an. Dass er den Fakt ihrer scheinbaren Unfehlbarkeit in unrealistische Höhen hob war ihm nicht einmal bewusst und wäre es das gewesen, so wäre es ihm vermutlich auch gleich gewesen. Es war vermutlich nicht einmal ihr Können, sondern einfach die Art, wie sie Leute damit um den Finger wickelte. Ob er etwas von dem Zauberpulver auch für sie aufheben sollte ..?
Noch während Gwendolyn ihren Plan, Albert zu sabotieren, darlegte und Viktor ihr voller Genugtuung in Gedanken Juckpulver in das Unterkleid schüttete, hörten sie Schritte vor der Tür. Als darauf aber nichts folgte, setzten sie ihr Gespräch fort. Gwendolyn hatte an alles gedacht, die Herstellung des Pulvers, das Auftragen auf der Robe, denn Albert hatte Gepäck mitgebracht und sicher noch eine zweite, saubere für die Feier dabei und die Ablenkung, die Viktor übernehmen sollte
Sie waren gerade fertig, den schlimmsten Racheakt seit Thanos Zeiten zu planen, als sich die Haustür plötzlich öffnete und Alberts Kopf im Türspalt auftauchte.
Augenblicklich wurde es betreten still.
„Mithras mit euch.“ Drei Worte wie eine Ohrfeige.
„Mithras mit dir, Albert“, scholl es ihm zweifach entgegen. Viktor fiel auf, wie er seine Zähne aufeinander drückte, kaum dass er Albert sah. Es knirschte leise.
„Ich sehe, ihr habt euch schon mit meinem Traktat beschäftigt?“ Er deutete auf das noch immer unangetastet in der Lederhülle liegende Traktat. Unschuldig lag es da, und doch Anlass zur Sünde. Schuldbewusst schauten die beiden zu der Lederhülle und Viktor lief es heißkalt durch den Bauch. Jetzt war es zu spät, auch daran noch etwas zu ändern.
„Ja, äh, sicherlich.“ Es fiel ihm schwer, unter Alberts Blick zu lügen. Konnte der Klerus es spüren, wenn man log? Er zwang sich selbst zu einem Lächeln, das genauso auch aussah: als hielte man es gefangen und erpresste es mit vorgehaltenem Schwert, auf seinem Gesicht auf und ab zu exerzieren.
Der Blick, den ihm sein Vetter zuwarf, war etwas zu lang, um bloßes Interesse auszudrücken, doch zum Glück sprang ihm Gwendolyn bei.
„Wir haben es uns angeguckt, lieber Vetter, aber wir konnten einfach nichts daran finden, das man noch verbessern könnte.“
Albert nickte und trotz seines jungen Alters kam es Viktor vor, als schwenke ein Geier seinen Kopf auf der Suche nach Aas. Nicht, dass er je einen Geier gesehen hätte, aber Vater Joachimus erzählte einmal von Indharim, wo die Heiden von Mithras Zorn ganz schwarz gebrannt würden und nur Geier am Himmel flogen.
„Welcher Teil gefiel euch am besten? Ich möchte darauf dann besonders eingehen.“ Albert sprach langsamer, aber Viktor war sich sicher, dass seine Fassade hielt.
„Och, die waren eigentlich alle ganz gut, aber, hmmmm, am besten fand ich wohl den mit … Mydrion?“ Schnell wurde ein Blick mit Gwendolyn getauscht, die aber nur ebenso ausdruckslos schaute. Unmöglich, daraus einen Hinweis für das weitere Vorgehen abzulesen.
Albert griff nach dem Traktat und die ganze Bewegung hatte etwas hölzernes, was Viktor aber auf das lahme Bein schob.
„Ich danke euch, für eure Mühen.“ Er drückte das Lederetui an sich.
„Gerne doch, Albert“, sprang Gwendolyn bei. „Wenn es noch etwas gibt, bei dem wir helfen können …“
„Nein. Ich ziehe mich nun zurück und werde über den Tag kontemplieren. Ich wünsche einen guten Abend.“ Und damit war er auch schon weg. Gwendolyn und Viktor sahen sich an und einen langen Moment sprach keiner. Gebrochen wurde diese Stille davon, dass Gwendolyn erleichtert den Atem ausstieß und Viktor sich zurück sinken ließ.
„Ich glaube, er hat nichts bemerkt“, sagte sie, und auch wenn Viktor daraufhin nur bestätigend nickte, so war er doch nicht völlig überzeugt.

„Erzähl mir noch einmal von Galdrion, dem Güldenen!“ Viktor saß auf dem Küchentisch, was Albert schon zwei mal strengt gerügt hatte. „Er hatte einen goldenen Helm, wie hat er das gemacht? Ist Gold nicht zu weich?“
„Der Helm war nur beschlagen, er war nicht aus purem Gold, Vetter.“ In der letzten halben Stunde waren Alberts Antworten zwar noch immer gewohnt sachlich, aber doch deutlich knapper geworden und die Worte flossen um ein Winzigstel langsamer. „Er war der Sonnenlegionär, der vor knapp 250 Jahren die Bestie des Schwarzweilers erschlagen hat. Tatsächlich fand seine Gnaden Asmodan aber vor kurzem ein Dokument, in dem beschrieben steht, dass Ehrwürden Galdrion nicht allein auszo...“
Viktor winkte ab.
„Jajaja, zerstör' nicht die gute Geschichte. Ist eh alles schon wesentlich langweiliger, als ich es erwartet habe.“ Er ließ er den Kopf erschöpft zurück fallen, dann wieder nach vorn sacken, wo er auf den Händen zu ruhen kam.
„Wie soll ich das verstehen? Dich langweilt die glorreiche Geschichte unserer geliebten heiligen Kirche?“ Gehobene Brauen, vorwurfsvolle Aussprache, Viktor hatte genug von diesem Gehabe. Als sei immer er derjenige, der an allem Schuld war, so dass ihn jeder zu schelten hatte.
Hoffentlich musste er das nicht mehr allzu lange ertragen, es hing alles nur von Gwendolyn ab. Während er hier saß und Albert ablenkte, versuchte sie, seine Robe mit dem Pulver zu präparieren, das sie irgendwo her beschafft hatte. Alle seine Gebete galten ihr … nun, nicht ihr direkt, aber zumindest den sie umgebenden Umständen. Mögen Mithras und alle seine Heiligen geben, dass die Umstände Gwendolyn nicht zu sehr in der Ausführung ihres Planes behindern würden. Wieder einmal wurde ihm schmerzlich der blasphemische Teil seiner Gedanken bewusst, aber er schob sie beiseite.
„Nein, also nicht direkt. Ich dachte nur, es gäbe mehr tote Drachen, tote Dämonen und dergleichen. Mehr Heldentum.“
„Die Geschichte der Kirche ist voller Heldentum.“
„Du weißt, was ich meine.“
Viktor rutschte mit dem Hintern etwas weiter auf den Tisch der großen Küche. Ein paar letzte Mehlspuren, übrig geblieben von den Vorbereitungen für das Festmahl am morgigen Tag, überzogen dabei seine Kehrseite. Albert warf ihm einen langen Blick zu.
„Warum soll ich dir dann drei mal dieselben Geschichten erzählen, wenn sie dir eh nicht gewaltig genug sind? Ist das tatsächlich alles was...“
Plötzlich klopfte es an der Tür. Drei mal kurz, dann zwei mal lang, dann zwei mal kurz und dann vier mal lang. Zum Schluss noch einmal lang-kurz-lang.
Viktor biss sich auf die Zähne. Was konnte das dumme Mädchen überhaupt?! Da war dieses Glühen im Magen wieder und ihm stieg die Wut rot auf die Wangen. Er hüpfte von dem Tisch und warf Albert noch eine kurze Entschuldigung zu, als er schon auf die Tür zustampfte. Gwendolyn würde sich gewaltig was anhören dürfen. Er hatte eindeutig kurz-lang-kurz gesagt.
"Novizen, die ich segne, sind großindoktriniert. Nicht."
-Elian


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