Jugendsünden 1393
#5
Er wurde mit den ersten Sonnenstrahlen wach. Das machte ihn schon ein wenig stolz, dass er es schaffte so zeitig aufzustehen auch nach all den Strapazen, welche eine so lange Reise zu Fuß für jemanden wie ihn nun einmal mit sich brachte. Es war nicht so, dass er sich lange an diesem Gefühl er freuen konnte, ganz und gar nicht. Ehe sich überhaupt so etwas dem Hochmut auch nur Ähnliches einstellen konnte, machte sich in ihm eine unglaubliche Nervosität breit und sein ganzes Inneres fühlte sich einfach nur noch wie ein dicker, schwerer Klumpen an. Jetzt galt es noch schnell in die Kapelle zu huschen, Mithras Beistand suchen bevor er sich seiner gesamten Verwandtschaft stellte. Eifrig zeichnete er mehrmals das Sonnensymbol, anschließend humpelte er so leise, wie es ihm eben möglich war die Treppe hinunter, ignorierte stur die neugierigen Blicke des schon arbeitsamen Gesindes in der Küche und atmete erst einmal durch als er das Haus endlich verlassen hatte.

Die Nervosität wurde er tatsächlich in der Kapelle los. Es war zwar nur eine kleine Kapelle, gleichwohl war sie von erhabener Architektur. Außen waren geschickt eine große Anzahl an Stützstreben angebracht, sodass die beiden Seitenwände sehr großzügig mit Buntglasfenster versehen werden konnten, anstelle eines großen Portals hatte man es beim Eingang bei einer kleinen Tür belassen, wodurch auch hier noch weitere Fenster angebracht werden konnten. So war die gesamte Kapelle rundherum von Fenstern gesäumt. Da sie ein relativ kleiner Bau war, lag das Deckengewölbe direkt auf den Außenmauern und es mussten keine weiteren Stützpfeiler hineingebaut werden. Tatsächlich entstand dadurch ein Innenraum, der, sofern sich die Sonne überhaupt zeigte, in solch hohem Maße lichtdurchflutet war, dass künstliche Beleuchtung durch Kerzen nicht notwendig war. Hinter dem Altar, der nach dem Osten hin gebaut war, ging nun also die Sonne auf und ließ die Mithrasstatue in einem höchst majestätischen Licht erscheinen. Dies verriet ihn zum einen, dass er den besten Zeitpunkt gefunden hatte die Kapelle aufzusuchen, zum anderen aber, dass seine Familie es mit der Frömmigkeit schon einmal genauer genommen haben musste, da die Kapelle außer ihm im Moment nur eine weitere Besucherin hatte. Als er diese erkannte wandelte sich das Gefühl von Erhabenheit und Entrücktheit, welches sich gerade in ihm breit zu machen begann, in eine Mischung aus Angst und Taubheit, etwas was er schon lange nicht mehr gespürt hatte. Aber als er sie betend in der Kapelle erblickte entglitten ihm jegliche Gesichtszüge. Zerline musste ihn gehört haben, zumindest drehte sie sich jetzt um, Wenn doch bloß nicht dieses verfluchte, verkrüppelte rechte Bein wäre, er hätte zumindest noch eine Chance zu fliehen. Doch, wenn er in diesem Moment ehrlich zu sich gewesen wäre, wäre ihm klar gewesen, dass er auch dann von der Situation zu gelähmt gewesen wäre um sich zu rühren. Auch Zerline riss ihre Augen nun weit auf. Sie war allerdings auch schneller in der Lage sich wieder zu fassen. Mit ernster Miene schritt sie nun auf Albert zu und ein gedämpftes „Mithras Segen Albert.“ kam von ihr in seine Richtung. Diese Worte rissen ihn zumindest aus seiner Lethargie. Eilig senkte er das Haupt, ordnete seine Gesichtszüge wieder und erwiderte hastig, kaum hörbar „Mithras Segen“ und nach einigem Zögern „Mutter.“ Die Angesprochene schritt an ihm vorüber, wobei sie ihre rechte Hand kurz und kaum merklich über seinen Kopf streichen ließ, ehe sie die Kapelle auch schon wieder verlassen hatte. Diese Berührung war nun noch weniger zu erwarten gewesen, als hier auf seine Mutter zu treffen. Und für einen recht langen Moment, mochte er nach dieser Berührung genauso erstarrt gewesen sein, wie die Mithrasstatue beim Altar. Für einen winzig kleinen Augenblick erinnerte er sich an die Zeit vor dem Unfall. Als er zumindest zu seiner Mutter so etwas wie eine normale und gesunde Beziehung hatte. Aber das war lange vorbei und es gab keine sinnvolle Erklärung für die eben erfahrene Berührung. Was wollte seine Mutter damit zum Ausdruck bringen? Und wie ernst war ihr Glaube überhaupt? Diesen lebte sie ja ohnehin erst so richtig seit Ludovig mit dem König nach Indharim war. Diese Fragen beschäftigten eine Weile, ehe er sich wieder, ohne sie zufriedenstellend beantworten zu können, von ihnen lösen konnte und er sich nun endlich dem kontemplativen Gebet zuwenden konnte. Und gleichwohl er mehrere Stunden im Gebet verbrachte, wollte sich an diesem Morgen nicht die so sehr erstrebte Ruhe in ihm einstellen.

Als er nach dem Gebet wieder ins Haupthaus ging um nun, wo das Schlimmste ohnehin schon ausgestanden war, zumindest der restlichen Familie mit so etwas wie Würde gegenüber zu treten, war von Zerline nichts zu sehen. Er fand lediglich seine beiden Onkel Janusch, den er zu diesem Zeitpunkt noch nicht kannte, sowie Kaspar und seine Tante Theresia, welche die Zwillingsschwester seines Onkels Kaspar war und die er beide gestern Abend bei seiner Ankunft zumindest noch kurz kennen gelernt hatte, vor. Sie waren wohl die letzten die sich noch beim Frühstück befanden, was bei seinem Onkel Janusch verständlich war, da er doch erst heute angekommen war, bei den Zwillingen jedoch eigentlich gänzlich unakzeptabel war, da der Morgen mittlerweile weit fortgeschritten war, sie hier lebten und auch nicht beim Gebet zu sehen gewesen waren. Selbstverständlich behielt er dies für sich, da es äußerst unhöflich gewesen wäre sie als Mitglieder des gastgebenden Haushaltes auf so etwas hinzuweisen. Im Übrigen war er sich in diesem Moment recht unschlüssig, ob er sich darüber freuen sollte, hier nun doch nur wenige Verwandte anzutreffen, was das Vorstellen vereinfachte, oder ob er sich darüber grämen sollte, dass die ganze Qual nun noch weiter in die Länge gezogen werden würde. Zumindest verlief dieser Teil der Vorstellungsrunde recht erträglich. Er erntete zwar von allen drei Anwesenden tief gerunzelte Augenbrauen als er sie, wie es die Etikette nun einmal vorgibt, mit „verehrter Onkel“ beziehungsweise „verehrte Tante“ ansprach, jedoch schien man ihm recht wohlgesonnen gegenüber zu treten. Sein Onkel Janusch hatte, obwohl er der älteste Anwesende war, etwas höchst Unerwachsenes an sich und häufig verkamen Albert und Theresia zu Statisten in diesem Gespräch, wenn Janusch und Kaspar versuchten, in einer wahren Kanonade von geistlosen Scherzen den jeweils anderen zu übertreffen, wobei stets Janusch das letzte Wort behielt. Seine Tante versuchte derweil offensichtlich ihn zu mästen und er befürchtete phasenweise, dass sie ihn zwingen wollte wirklich alle Reste des Frühstücks zu konsumieren, wo er doch mit etwas Brot, Käse und einem Becher Milch vollends zufrieden war. Er vermutete hinter dieser etwas übertriebenen Aufmerksamkeit redliche Motive. Ohnehin dauerte es nicht allzu lange ehe ein jüngeres Familienmitglied, seine Kusine Alma wie sich herausstellen sollte, die Küche betrat, die ihrerseits deutlich weniger Zurückhaltung, vor allen Dingen gegenüber den Resten der widerlichen Süßspeisen an den Tag legte. Alma war ein durch und durch seltsamer Mensch. Sie war in Etikette offenkundig gut bewandert, zeigte eine mithrasgefällige gerade Haltung und doch schien sie von einer ganz und gar maßlosen Gier durchdrungen zu sein. Schon nach wenigen Augenblicken hatte sie sich sowohl ihre Hände, als auch ihr Gesicht sowie ihr Kleid hoffnungslos mit Zucker verunglimpft und je schmutziger sie wurde umso gieriger griff sie nach dem nächsten Törtchen. Allein dadurch wurde die Atmosphäre in der Küche für Albert abstoßend und unerträglich. „Na, wo treibt sich denn mein Bube rum? Alma, hast du den vielleicht gesehen?“ wandte sich Onkel Janusch alsbald an Alma und riss Albert damit aus seiner stillen Rezitation der Bitte um Führung, die ihm diesen Aufenthalt hier erträglicher machen sollte. Alma fiel es sichtlich schwer daran zu denken noch rechtzeitig den durchgekauten Zuckerbrei herunterzuschlucken ehe sie den Mund öffnete: „Der ist mit Gwendolyn und Welf in der Scheune, aber ich hatte keine Lust mich da schmutzig zu machen.“ Faszinierenderweise sagte sie dies, während sie sich die die zuckerverklebte Hand ein weiteres Mal an ihrem mittlerweile zuckerverklebten Kleid abwischte. „Ach? Gwendolyn ist bei ihm? Dann ist es ja gut.“ antwortete der Onkel daraufhin seltsam erleichtert. „Hey Albert, willst du nicht einmal in der Scheune nachsehen was die anderen da treiben?“ fragte ihn Onkel Kaspar nun mit einem ziemlich unerträglichen Grinsen. „Ja, es wird ohnehin Zeit, dass du mal die Gleichaltrigen kennenlernst!“ fügte seine Tante nicht minder grinsend bei. Auch hier setze Albert wohlwollende Absichten voraus und befand das es ohnehin der rechte Zeitpunkt wäre sich aus der Küche zu verabschieden. „Sehr wohl verehrte Onkel und verehrte Tante, dies werde ich tun. Mithras schenke einen wohlen Tag.“ Er hatte sich gerade mühsam erhoben und zur Tür begeben als Onkel Janusch noch sagte „Und sag meinem Buben, dass er ja keinen Blödsinn anstellen soll! Und er soll Gwendolyn nicht ärgern.“ Diesmal war nichts Schelmenhaftes mehr in seiner Stimme und Albert nickte lediglich.

Bevor Albert sich jedoch zur Scheune aufmachte, mühte er sich noch einmal die Treppe zu seinem Zimmer hinauf, um dort noch schnell sein Traktat in einer Lederrolle zu verstauen. Wenn er jetzt schon seine Kusine und seine Vetter traf war es nur sinnvoll sogleich um Hilfe bei dem Traktat zu bitten. Mit der Schriftrolle humpelte er die eben erst erklommene Treppe wieder hinab und machte sich mit eher verhalten schnellen Schritten auf den Weg zur Scheune. Jetzt die jungen Leute zu treffen machte ihn eher noch nervöser, als er es schon bei den Alten gewesen war. Erwachsene traf er jeden Tag im Tempel, das war gewohnt. Irgendwie zumindest. Vielleicht hätte er doch die Chance nutzen sollen an Alma das Gespräch mit jungen Leuten einzuüben? Aber das hatte er nicht über sich gebracht, so wie sie ein Törtchen nach dem anderen aus dem Sein ins Nichts beförderte, nein, wirklich nicht. Er hoffte, dass ihm eine gute Begrüßung einfallen würde, denn er hatte einmal gehört, dass junge Leute in diesem Alter auf den ersten Eindruck sehr viel wert legen und sie mit größter Grausamkeit denjenigen behandeln der keinen Guten hinterlässt. In solcherlei Gedanken versunken erreichte er schließlich die Scheune, dort erblickte er drei Rotschöpfe die gerade dabei waren eiligst ein Feuer auszuschlagen, Mithras sei Dank mit einigem Erfolg. Einer von ihnen wirkte furchtbar blass und kaum in der Lage sich auf den Beinen zu halten, der andere wirkte, trotz der beinahe eingetretenen Katastrophe recht gefasst und dem einzigen Mädchen in der Runde war vor allem der Schrecken anzusehen. Und ihre Sommersprossen. Für einen kleinen Augenblick war er versucht sie alle zu zählen, entschied sich aber recht schnell dagegen, da dies zum einen sicher unhöflich gewesen wäre und er zum anderen vermutlich an seinem Lebensende noch nicht alle gezählt haben würde. Zumindest fiel ihm nun eine pfiffige Begrüßung ein, die sicher Eindruck schinden würde: „Manchmal ist es ein blasphemischer Akt, ein Feuer zu löschen, aber hier ist es vermutlich angebracht.“ Es dauerte einen kleinen Augenblick bis die anderen sich ihm zuwendeten und erst dann versuchte er freundlich zu lächeln und ergänzte: „Mithras zum Gruße.“ Er war sich sicher einen guten ersten Eindruck gemacht zu haben.
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