Jugendsünden 1393
#4
Auf Gwens Kopfkissen war ein nasser Fleck. Hatte sie geweint? Eine vorwitzige Himmelfahrtsnase schob sich ans Kissen und den zerzausten Rotschopf der Jüngeren heran und der dazugehörige lange Lulatsch hockte sich neben das Bett. Alles Leben am Hof lag in trägem Schlummer, nur von Ferne trug ein Lüftchen das Geplauder der Milchmägde heran, aber nicht mal die konnten sich zu großer Aktivität aufraffen um diese Uhrzeit. Die Sonne, Diktatorin des Lebens am Hof, schickte ihre ersten Strahlen durch die offenen Fenster. Draußen ging ein lauer Wind, der noch erfrischend war, aber es würde ein drückend heißer Tag werden, genau wie die letzten.

Die Schlafende lächelte selig. Es war ein friedliches Bild. Ein perfektes Bild. So sollte ein Sommermorgen sein. Welf zwickte den Grashalm zwischen seine Daumen und trötete Gwendolyn entschlossen aus dem Schlaf. „Huammmpf!“, kam es unter dem roten Vogelnest hervor. Ein Speichelfaden hing ihr aus dem Mund. Unsanft boxte sie Welf gegen die Schulter, dann ließ sie sich wieder hinfallen. Die Vogelnestbesitzerin zog sich das Laken über den Kopf und warf sich unwirsch herum. Für Decken war es schon viel zu heiß. „Komm mit, Karotte!“, lockte eine ekelhaft muntere Stimme. „Selber Karotte. Du Depp, ich hab von Kirschkuchen geträumt und du weckst mich! Geh weg!“ „Du sabberst, Karotte! Kirschkuchen willste, eh? Ich geb dir Kuchen! So viel Kirschkuchen wie du willst, aber nur, wenn du mitgehst!“ „Lass mich in Frieden!“ Aber sie drehte sich immerhin zu ihm und zog die Decke bis zur Nase. Misstrauisch untersuchte sie sein begeistert grinsendes Gesicht. „Wohin?“ „Wirste schon sehen, jetzt zieh dich an, sonst hört uns noch die blöde Alma!“ „Wie kommst du an den Kuchen?“ Ihre Lebensgeister krochen langsam aus den Laken. So einfach würde sie es ihm nicht machen. „Elana mag mich!“ Die neue Köchin. Das stimmte allerdings. Welf trug ihr seit Wochen Töpfe durch die Gegend. „Gib mir die Bürste.“

Welfs Ideen klangen immer spektakulär, wenn er sie vorbrachte. Unterwegs, auf dem Weg zur Umsetzung, stellte sich dann bedauerlicherweise trotzdem oft heraus, wie unfassbar dämlich sie wirklich waren. Gwen versuchte, sich auf den Kirschkuchen zu konzentrieren, den sie so sicher wie das Amen im Tempel einfordern würde. Saftiger Teig. Reife Früchte. In goldgelbe Samtigkeit aus Biskuit eingesunkene Süße. Eine Ameise pisste auf ihre Füße. Sie schob sie mit dem anderen Fuß weg. Eine Heuschrecke sprang ihr auf die Nase. Sie gab sich selber einen Nasenstüber. Welf kicherte hämisch, aber selbst der war schon etwas ermattet. Zwei Stundenläufe lagen sie bestimmt schon hier im Unterholz. Die Insekten fraßen sie auf und der Schweiß lief ihnen über die Stirnen. Und sie hatte solchen Hunger..

„Wir überfallen Onkel Janusch, wenn er kommt! Was meinst du, was Viktor für Augen machen wird!“ Und schon hatte er ihr einen pechschwarzen Sack übergestülpt, den die Knechte zum Kohletragen benützten. Die Gerüchte von räuberischen Banden aus Ravinsthal waren ihm wohl zu Kopf gestiegen. Gwen gab zu, es klang tatsächlich wie ein lustiger Einfall. Man würde in dem Augenblick, da sich die Kutsche der Verwandtschaft näherte, blitzschnell aus dem Graben springen und hoffentlich Süßigkeiten ernten. Janusch war berühmt-berüchtigt bei den Veltenbruchkindern für die Bonbons, die er erfand. Er experimentierte ständig mit Geschmacksrichtungen herum. Seine eigene Lieblingsvariante war „Rote Beete“. Und Welf war nicht bereit, mit Erbsenhirnen wie Alma zu teilen. „Wir luchsen ihm einfach schon vorher was ab!“ Schwarze Gugeln hatte der findige Tunichtgut auch aufgetrieben, Mithras allein wusste wo. So lagen sie schwitzend da, zwei rabenschwarze Häufchen mit kohleschwarzen Gesichtern und zerliefen unter der Silendrischen Sonne. Die Handarbeitsrunde vom Vortag war plötzlich ein Sehnsuchtsort geworden. In der Stube war’s wenigstens insektenfrei! Plötzlich ein unangenehmes Ziepen am Oberarm. Sie inspizierte ihn hektisch „Bah, ich hab eine Zecke!“ „Is‘ gesund, die saugt dir die Haarfarbe aus. Dann wirste blond!“ „Ehrlich wahr?“ „Klar, machen die Gelehrten auch so.“ „Na gut.“ Treuherzig dreinschauend ergab sie sich in ihr Schicksal und kreuzte die Arme unter dem Nacken. Wenn es ihr nur gelingen könnte, die mehrfachen Juckquellen zu vergessen.. dumpfes Hufgetrappel durchbrach den Versuch. Welfs Augen glänzten, er schob ihr den Knüppel hin. „Los jetzt! Und du bist stumm!“

Die zwei Kinder krabbelten den Hang hoch und sprangen auf die Straße – Welf mit deutlich mehr Überzeugung. Die Gugel hatte er Gwen im letzten Moment noch fest über den Rotschopf gezogen. „Süßes oder Leben!“, stieg er schon mit verstellter Stimme in die Verhandlung ein, während sie noch damit beschäftigt war, mit gesenktem Kopf die Reisegesellschaft zu inspizieren. Neben Janusch, dessen verdutztes Gesicht langsam unterdrücktem Amüsement wich, saß Viktor auf dem Kutschbock und starrte die zwei Räuber feindselig an. Januschs Augen glänzten schelmisch: „Wir sind bescheidene Handwerker, bitte tut uns nichts!“ „Wir allerdings sind ganz schlimme Finger, uns fürchten sie in der ganzen Region!“ „Ach ja? Seid wohl eine berühmte Räuberbande, was?“ „Ganz recht!“, versicherte Welf selbstbewusst, während Gwen heftig nickte. „Und wie heißt Ihr, oh garstiger Räuberhauptmann?“ „Äh. Zolderich Haudrauf! Das ist meine Kumpanin! Schlange!“ „Schlange?!“, motzte seine Schwester und fiel aus ihrer stummen Rolle. „Erst redest du mir diesen Schmarrn hier ein und dann gibste mir nicht mal einen ordentlichen Namen!“ Sie schlug die Gugel zurück und stampfte zur Kutsche, so gut sich das barfüßig eben machen ließ. „Mir reicht’s! Ich will jetzt Frühstück! Mach deinen Dreck alleine!“

Janusch brach in schallendes Gelächter aus und half seiner Nichte hinauf auf den Kutschbock, wo Viktor erst rutschte, um ihr Platz zu machen. Der kicherte, sprang dann hinunter und gesellte sich zu seinem Cousin. Gwen winkte ihrer Tante zu, die sich hinten auf der Bank gerade schlaftrunken aufrappelte, und lächelte aus ihrem kohlrabenschwarzen Gesicht in die Welt. Welf warf sich in Pose und schwang den Knüppel. Er war nicht kleinzukriegen. „Was ist jetzt mit Süßem?!“ Janusch tippte sich in einer übertriebenen Geste mit dem Finger auf die Nase. „Ich hab hier ein Kästchen. Wenn du’s aufkriegst, kannst du’s behalten. Und der Inhalt gehört dir auch. Ist aber für Erwachsene! Damit musst du noch ein paar Jährchen warten.“ Januschs breite Pranke reichte dem Jungen einen hölzernen Würfel, der in Gwens Augen völlig kompakt aussah. Wo war da die Öffnung? Wie sollte man den aufkriegen? Janusch schnalzte mit der Zunge und das Fuhrwerk setzte sich wieder in Gang. Welf und Viktor schauten verdattert drein und brauchten einen Moment zu lange. „He! Und wir?!“ Janusch rief den Buben über die Schulter zu: „Wer rauben kann, der kann auch laufen!“ Viktor protestierte noch: „Ich hab gar nix gemacht!“ „Mitgefangen, mitgehangen!“

Gwen fühlte sich herrlich. Der Fahrtwind pfiff ihr um die Nase. Die Sonne schien. Man kutschierte sie zu ihrem Frühstück und als Kirsche auf dem Sahnehäubchen hatte sie den geliebten Onkel Janusch für sich allein. Allein mit Erwachsenen zu sein, die nicht die Eltern waren, fand sie großartig. Sie hatte auf dem Rückweg schon Tante Melindas Frisur bestaunt und sich erklären lassen, wie man sich die Haare wie sie machte, was die Tante glücklich zu stimmen schien. Janusch hatte ihr verraten, wie der geheime Mechanismus des Kästchens funktionierte. Außerdem hatten die zwei ihr dauernd Zuckerstangen zugeschoben und sogar einen kandierten Apfel. Nicht einmal die vierzehn Insektenstiche an ihren Beinen konnten ihr jetzt noch den Tag vermiesen. „Melinda, wo hast du meine Pfeife hingesteckt?“ „Ich? Ich rühr doch die heilige Pfeife nicht an, Janusch.“ Der Onkel betastete seine zahlreichen Taschen. „Gwen, kletter nach hinten und durchsuch mal unser Gepäck. Aber wisch dir die Hände vorher ab!“

Die tat wie geheißen. Melinda hatte die Augen geschlossen und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen, während Onkel Janusch ein Lied pfiff. Gwen rubbelte notdürftig die Hände an ihrem unbequemen Räubergewand ab, was reichlich wenig brachte, aber genügen musste. Die Reisesäcke waren aus feinem Leder gearbeitet, jeder hatte einen Buchstaben. Sie begann mit „J“. Gwen wühlte sich durch Januschs Siebensachen. Ein Werkzeug nach dem anderen wanderte auf die Sitzfläche, eins abstruser als das andere. „Das da sieht aus wie ein Vogelbein, Onkel!“ Er drehte den penetrant roten Rotschopf. Die anderen Verwandten munkelten, er färbte ihn mit roter Beete. „Ah, du hast meine Elsterklemme gefunden, da mit kann man hervorragend Schrauben…“ Gwen ließ ihn reden. In dem Sack war nichts, was einer Pfeife auch nur ähnelte. Sie lugte nach vorne. Melindas Ausdruck kündete von größter Entspannung, die Augen hatte sie immer noch entspannt geschlossen. Janusch redete unentwegt. Was wohl Viktor mitgebracht hatte? „Unser Gepäck“, war die Instruktion gewesen. Das schloss ja wohl auch Viktors Zeugs ein. Ganz wohl fühlte sie sich nicht, aber Janusch brauchte schließlich die Pfeife, sonst konnte er nicht denken – sagte er zumindest.

Oben lag ein steifes, blau-weißes Hemd. Darin war etwas Hartes eingewickelt. Sie schaute noch einmal nach Melinda und Janusch, aber niemand achtete auf sie. Behutsam fischte sie ein Buch heraus, dabei Acht gebend, dass sie mit ihrem Rücken die Sicht drauf verdeckte. Imposante Goldbuchstaben auf rotem Grund funkelten in der Morgensonne. „Vom Dienste an Mithras“. Die neugierige Zwölfjährige starrte das dünne Büchlein an und stopfte es eilig zurück. Den Sack zog sie ruckartig zu. „Gefunden?“ „N-n-nein!“
[Bild: Gwendolyn-Signatur.png]
Toast can never be bread again.
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