Zwei Leben

[Cahira Mendoza]

Das Wasser im Zuber war längst erkaltet, aber Cahira konnte sich nicht durchringen, aus dem kühlen Nass zu steigen und sich den üblichen abendlichen Ritualen zu stellen. Sie wusste, dass sie den Makel, für den sie sich letztendlich selber entschieden hatte, nicht abwaschen konnte, aber die Hitze der Wanne hatte wie eine längst benötigte Umarmung gewirkt, ein tröstendes "Alles wird gut!".

Sie bereute ihre Entscheidung nicht. Es war ein Wesenszug der Teahans, ihrer Sippe, mögliche Entschlüsse wieder und wieder durchzukauen, zu besprechen, von allen Seiten zu betrachten, ehe das Urteil gefällt wurde, an was man sich dann auf Biegen und Brechen hielt. Es war einerseits eine gute Eigenheit, sich nicht allzu schnell auf eine Seite zu schlagen und sich eine Meinung zu bilden. Doch auf der anderen Seite konnte dieser Prozess recht anstrengend und kräftezehrend sein und das vollkommen Festhalten am mühsam beschlossenen Entscheid, auch sollte er sich als falsch erweisen, in einigen Fällen als fatal erweisen.

Cahira hatte lange mit sich gerungen und wäre schon eher aufgebrochen, aber ständig kamen ihr Dinge dazwischen. Brynja heulend mit einem aufgeschlagenen Knie, die kalbende Kuh oder das lose Gatter, welches dank eines ungestümen jungen Hengstes alle Tiere auf das Rabenfeld entlassen hätte, hätte sie nicht gleich zu Zaunlatten, Hammer und Nägeln gegriffen. Vielleicht hätte sie diese Verhinderungen als Zeichen deuten sollen, aber sie war bereits so stur von ihrer Tat überzeugt, dass sie dafür keinen Sinn mehr hatte und eher ungeduldiger wurde, ja weiter sich ihr Ausflug in den Flüsterwald verschob.

Doch jenen Nachmittag war es dann endlich soweit. Die Kinder bei Flint untergebracht, Tiere und Felder versorgt, ansonsten keine weiteren Pflichten - jedenfalls keine akut dringenden - Ravinsthal oder die Klinge betreffend. Sie streifte sich etwas ungelenkt ihre Rüstung über, sicher war sicher, und sattelte Kalvas auf. Im Gegensatz zu ihren Versuchen, Kyron aufzuspüren, die jedesmal in blanker Panik geendet hatten, waren ihre Handgriffe vollkommen ruhig, ihr Magen beschwerdefrei, ihre Gedanken klar auf das Ziel fokussiert.

Sie kam auf der menschenleeren Straße Richtung Passwacht gut voran. An der Festung auf dem Bergmassiv, welches Ravinsthal und Servano trennte, tauschte sie ein paar Floskeln mit den dortigen Wachen aus, dann ging es ins Eisenthal. Auch hier traf sie niemanden, der sich vielleicht gewundert hätte, warum die Ministerial gerüstet in fremden Land unterwegs war. Ab der Grenze des Flüsterwaldes ließ sie sich vollkommen vom Stein in ihrer Tasche leiten, den sie mit einer Hand fest umschlungen hielt und dann konnte sie sich eigentlich an nicht mehr viel erinnern, außer an einzelne verzerrte Episoden, Orte oder Gesichter.

Sie fühlte sich nicht anders als Stunden zuvor, als sie aufgebrochen war. Vielleicht etwas benommen, verwirrt. Sie hatte auch auf dem Rückweg, soweit sie sich jedenfalls erinnern konnte, keinen getroffen, der vielleicht eine Veränderung an ihr bemerken hätte können. Aber vielleicht kam das ja noch. Dieser scheinbar makellose Zustand machte es ihr im ersten Augenblick leicht, ihren Beschluss als nicht ganz so dramatisch anzusehen als er vielleicht tatsächlich war. Was ihr eher Sorgen bereitete, war nun das Danach. Sollte sie ihr normales Leben weiterführen, so tun, als ob nichts passiert wäre? Oder war es ratsam, diesen seltsamen Ort nochmals aufzusuchen, um weitere Unterweisungen zu erhalten, um zu studieren, wer und was sie nun war? Wenn sie überhaupt den Weg dorthin nochmal finden würde.

Eine bange Frage war zusätzlich jene, was Kyron von ihr halten würde wenn sie sich begegneten. Schlimmer als diese Trennung, plötzlich von einem Tag auf den anderen ohne ersichtlichen Grund, konnte seine Reaktion wohl kaum ausfallen. Aber ihre Entscheidung lag letztendlich auch darin begründet, ihrem Ehemann wieder näher zu kommen, neben einer gemeinsamen Vergangenheit und Kindern, die niemand so einfach leugnen konnte, noch ein zusätzliches Band der Zusammengehörigkeit geschaffen zu haben.

Er hatte lange genug die alleinige Verantwortung für die dunkle Gabe des Sohnes getragen und hatte neben dem Familienverbund ein Leben geführt, welches Cahira selber nie gänzlich verstanden hatte. Vielleicht hatte sie ihn zu sehr auf “ihre Seite” drängen wollen; ihre Seite: was was sie für richtig und gut gehalten hatte. Sie hoffte nun, dass sie einen Schritt in die richtige Richtung getan hatte zum Wohl ihrer Familie, obschon jeder vernünftige Mensch sie wahrscheinlich als vollkommen irre bezeichnet hätte, hätte sie sich jemanden anvertraut.