Zwei Leben
#59
Die letzten Wochenläufe hatte sich ein Ritual eingeschlichen. Keines, was besonders wäre oder was sie nicht schon anderswo getan hätte. Wenn das Tagwerk vollbracht und die Kinder im Bett waren - Brynja schnarchend und Lionel wahrscheinlich noch in einem seiner Rätselbücher schmökernd - zündete Cahira die Laternen am Eingangstor des Eichenhofes und entlang des Weges, welcher an den Feldern und Gesindehäusern vorbei zum eigentlichen Gehöft führte, an und setzte sich mit einer Decke um die Schultern gelegt und einem warmen Getränk auf die Terrasse ihres ehemaligen Wohnhauses und blickte auf die zurückliegenden Stunden.

Die Arbeit auf dem Hof hatte wieder zugenommen, so wie es jedes Frühjahr üblich war. Die Felder mussten auf die kommende Aussaat vorbereitet werden, die Tiere wollten aus den Ställen an die frische Luft. Sie hätte schon längst einen Aushang anbringen sollen, dass sie eine Hilfe auf dem Hof gut gebrauchen konnte, aber nach der Enttäuschung mit ihrem letzten Knecht und vor allem nachdem, was mit Nora geschehen war, konnte sie nicht so schnell wieder jemanden in ihr Leben lassen. Oder besser gesagt: sobald die Umstände des Todes der Hausangestellten nicht vollständig geklärt waren, konnte sie es nicht verantworten, jemand anderen eventuell derselben Gefahr auszusetzen auf dem Eichenhof ein plötzliches, gewaltsames Ende zu finden.

Nora fehlte ihr. Nicht nur, was sie Arbeit anging. Die Haushälterin hatte ihr viel abgenommen, viel mehr, als sie vermutet hatte. Da nun auch Kyron auf unbestimmte Zeit fort war, merkte Cahira die gesamte Last der Verantwortung für die Kinder, den Eichenhof und Ravinsthal schwerer noch als sonst auf ihren Schultern lasten. Doch was ihr wohl am meisten fehlte, waren die Gespräche im Hühnerstall oder am Küchentisch. Dann hatten die beiden Frauen ihre Gedanken ausgetauscht, gelacht, manchmal der anderen ihr Leid geklagt oder sind über den einen oder anderen - milde, wohlgemerkt! - her gezogen. Kurzum, Cahira hatte mit Nora eine Freundin verloren und die Kinder eine mit den Jahren liebgewonnene Vertrauensperson.

Der Schmerz und Schrecken über den Verlust des Kindersmächens reichte bei Lionel und Brynja sogar soweit, dass sie sich anfangs geweigerten hatten, den Hof überhaupt zu betreten. Aber Cahira konnte die beiden nicht ständig bei Noras Familie, Flint oder Aki lassen - obwohl sich gerade letzterer überraschenderweise als hervorragender Hüter ihrer Kinder herausgestellt hatte. Es hatte eine Menge an Überredungskunst, Schmeichelei, Tränen und am Ende schlichtweg das Machtwort der Mutter bedurft, damit die Kinder wieder nach Hause zurück kehrten. Murrend, zeternd, heulend - aber immerhin war ein Teil der Mendozas wieder zusammen.

Es war für Cahira ein schwerer Schlag, dass das Heim, welches sie für ihre Familie eingerichtet und zu einem sicheren Nest gemacht hatte, durch den Mord derart beschmutzt worden war, dass letztlich niemand mehr darin wohnen wollte. Sie konnte an einer Hand abzählen, wie viele Nächte sie im umgebauten und neubezogenen Haus gemeinsam mit ihrem Ehemann verbracht hatte; die Kinder lehnten es schlichtweg ab, in ihren Betten zu schlafen. Als faulen Kompromiss hatte Cahira eine Lagerstatt in ihrem alten Haus gebaut, welches nun eigentlich der Klinge als Hauptquartier und Lager diente. Aber es war ihr lieber, die Kinder dort zu wissen, als sie wieder nach Rabenstein zu geben.

Während Cahira auf der Veranda sass und ihre Gedanken schweifen ließ, spielten ihre Finger mit den Talismanen in ihrer Hosentasche. Galatier waren ein sehr abergläubisches Volk und behängten sich nicht selten mit allerlei Schmuckstücken, die vielleicht auf den ersten Blick keinen Wert hatten. Doch hinter jedem Anhänger steckte eine Geschichte, eine Bedeutung. Mit Cahiras Gegenständen sah es nicht anders aus. Zum einen die Münze. Sie trug sie nicht mehr an einem Band um den Hals, seitdem sich herausgestellt hatte, das sie verflucht war. Eigentlich hatte Kordian die Münze an sich genommen, aber beim großangelegten Umzug fiel ihr das Schmuckstück einfach so in die Hände und sie hatte es dankbar an sich genommen. Sie symbolisierte die wechselvolle Geschichte ihre Beziehung mit Kyron.

Der Bergkristall, den Magda ihr einmal gegeben hatte, fühlte sich glatt und weich an und sie musste wie stets mit Wehmut an diese andere Freundin denken, die von einem auf den anderen Tag verschwunden war. Magda war da gewesen, als sie im Eisenthal Fuss gefasst hatte. Die Meinungen über diese Frau gingen auseinander, aber Cahira hatte sie geschätzt wie eine Schwester. Der rote Stein aus dem Sumpf hingegen war kalt und in seinem Inneren schien sich stets ein Nebel zu bewegen. Er war vielleicht kein Talisman auf eigentliche Art und Weise, begleitete Cahira aber nun schon eine geraume Weile. Manchmal flüsterte er zu ihr und schmeichelte, dass er die Lösung ihrer Probleme war und je länger die ungewisse Trennung zu ihrem Ehemann dauerte, je öfter ertappte sich Cahira dabei, seinem Wispern angestrengter zu lauschen.

Ein recht neues Stück war ein geflochtenes Band aus vier Fäden. Blau, rot, grün und zwei schwarze Stränge schmiegten sich fest und geschmeidig ineinander. Lionel hatte es geflochten am dritten Tag des Festes der Welten. Den Bauch weh vom übermässigen Faunergenuss hatten sie und die Kinder die traditionellen Bänder angefertigt. Brynja knotete alles eher zusammen, war aber eifrig bei der Sache. Während ihre kleinen Fingerchen mit den Strippen kämpften, lugte ihre Zungenspitze seitlich aus dem Mundwinkel hervor, die Stirn war, wie oftmals die der Mutter, kraus gezogen. Lional hatte ruhig und akkurat gearbeitet. Als er sein Band präsentierte, musste Cahira stutzen. Er wusste doch, wofür die farbigen Fäden standen. Der Junge kratzte sich verlegen am Hinterkopf. “Also … ich habe das so gesehen ... die Bänder stehen für Dich, Brynni, Nora, Athair und mich.”, hatte er dann etwas verschämt herausgebracht. Eigentlich war dies vollkommen gegen jeglichen Brauchtum, aber da die Bänder dieses Jahr auch nicht an den gesegneten blauen Flammen entzündet wurden, hatte Cahira ihren Erstgeborenen mit einem kleinen Kloß im Hals gelobt und ein Stück Band für sich behalten, um an diesen Moment erinnert zu werden.

Nicht nur den Kindern fehlte der Vater, auch Cahira vermisste ihren Ehemann gar schrecklich und schwankte zwischen bangen Hoffen, dass ihm nichts zugestossen war, und keifendem Verfluchen, dass der Mann sich nicht traute, ihr unter die Augen zu treten, ganz gleich, was vorgefallen sein mochte. Sie hatte Isabelle beschatten lassen. Wenn jemand ansatzweise wusste, wo Kyron sich befand, dann ihre Schwägerin. Und tatsächlich war jene entgegen ihres üblichen Trotts eines Tages in den Flüsterwald aufgebrochen und eine geraume Weile nicht mehr nach Rabenstein zurück gekehrt.

Es wäre ein leichtes gewesen, ganz abgesehen von ihrer bekannten Seekrankheit, die Fähre zu besteigen und den unheilvollen Forst selber zu erkunden. Ihr waren mitunter ein, zwei Ecken bekannt, in denen man sich über eine längere Zeit verbergen konnte. Aber als sie schon die Münzen für die Überfahrt in der Hand hatte, überkam sie eine regelrechte Panik. Ihr Blick flirrte, ihr Magen rebellierte, ihre Ohren sausten. Die Heller glitten aus ihrer Hand und klimperten über den Anlegesteg und konnte nur dank des beherzten Auftretens des Fährschiffers vorm Ertrinken gerettet werden. Cahira floh zurück Richtung Ortschaft unter den verdutzten Augen der Hafenarbeiter und herumlungernden Piraten.

Vielleicht war die Ungewissheit, ob und was sie im Flüsterwald finden würde, gepaart mit einer unliebsamen Schifffahrt zu viel gewesen. Einige Tage später sattelte sie Kalvas auf, um auf dem Pferderücken über den Pass durch das Eisenthal den ihr recht bekannten Weg Richtung Flüsterwald zu nehmen. Doch ihre Hände begannen beim Aufzäumen zu zittern, der Atem hyperventilierte. Selbst ihr treues, gutmütiges Ross scharrte ungeduldig mit den Hufen und peitschte mit dem Schweif. Erst als sie ihr Vorhaben aufgab - und bittere Galle hervor gewürgt hatte - wurde sie wieder ruhiger. Auch die nächsten Versuche scheiterten an der aufkommenden Panik.

Während sie Lionels Band zwischen ihren Fingern gleiten ließ, hatte sie versucht, sich dieses Verhalten zu erklären. Merkwürdigerweise hatte sie dabei oft an die Nacht eines lang zurück liegenden Rituals denken müssen. Damals war Kyron den unheiligen Klauen des Kultes entkommen und hatte in Rahel des Luna eine neue Mentorin gefunden. Doch ein Band musste noch zerschnitten werden, damit die Trennung endgültig war - und dazu war damals nur der Verlobte von de Luna, Schwarzmagier Selcarion Alonso, fähig. Es hatte keine Freundschaft zwischen den Männern bestanden und Cahira fragte sich bis heute, warum er stattgegeben hatte, dieses auch für ihn gefährliche Ritual abzuhalten. Vielleicht war er das Drängen der beiden Frauen leid gewesen, vielleicht hatte er einen Weg gesehen, sich des unliebsamen, neuen Schülers seiner Verlobten zu entledigen. Die Männer entschwanden in der Nacht, während Rahel und Cahira gemeinsam des ungewissen Ausgangs harrten. Sie hatten schweren Wein getrunken, kaum gegessen, und Cahira war irgendwann in einem der dicken weichen Sessel eingeschlafen.

Das Ritual war letztendlich ein Erfolg gewesen - damals gesehen jedenfalls - aber für einige Stunden befand sich Cahira, wie auch heute, in einer Art Schwebezustand, in dem alles möglich gewesen war: Rückkehr oder Tod, Gewinn eines neuen Lebens oder Niederlage. Früher war sie jünger, zukunftsgewandter gewesen und hatte volles Vertrauen in Alonsos Fähigkeiten und Kyrons Willen, dieses Kapital seines Lebens zu beenden, gesteckt. Heute machte ihr nur die Vorstellung, was eventuell der Grund dafür sein könnte, warum ihr Ehemann seiner Familie fernblieb, Herzensangst. Hatte er sie und die Kinder wirklich verlassen und seine Bestimmung gefunden, was auch immer damit gemeint sein sollte, wie Isabelle ihr gesagt hatte? Was hatte Akis Blick an ihren Ringfinger zu bedeuten, was wusste der Schmied und verheimlichte er ihr? Warum inspizierte Anabella ihren Hals? Wenn sie ihren Ehemann zur Rede stellen würde, würde sie vor vollendete Tatsachen gestellt werden und sie wusste nicht, ob ihr das Endergebnis gefallen würde.

Doch etwas war jenen Abend anders. Das Band, welches Lionel geflochten hatte, war fest und stark und würde nicht so leicht zerfleddern. Jeder Strang ein Familienmitglied, eng mit den anderen verwunden. Nora mochte tot sein, aber sie würde immer in ihrer Erinnerung ein Teil der Familie bleiben. Kyron war fort und wandelte vielleicht auf abschüssigen Wege, aber er würde immer zu ihnen gehören und sie immer zu ihm. Drei Kinder waren Zeuge von dieser Verbindung, welche nicht zerrissen werden konnte. Eine Münze war Zeichen ihrer mehr als zehnjährigen Geschichte, die nicht getilgt werden konnte. Und es gab noch eine Sache, um dieses Band faktisch unzerstörbar zu verweben. Cahira wusste nun, was sie tun musste und ihr Herz fühlte sich seit langer Zeit wieder befreiter an.
[Bild: Cahira-Sig.jpg]
Herzlichen Dank an Morrigan!
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Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 04.05.2015, 02:24
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