Zwei Leben
#57
Sie hatte das Haus abgesucht und die Ställe. War auf die Dachböden geklettert und hatte auch bei Kordian und Anouk durch die Fenster gelinst. Zwar stöberte sie erfreulicherweise keinen Täter auf, der sich auf dem Hof noch versteckt hielt aber ebenso blieben die Kinder verschwunden. Der Gedanke, dass den beiden etwas geschehen war oder sie sich in den Händen des Mörders befanden, machte es nicht gerade einfacher darüber nachzusinnen, wo sie sich wohlmöglich versteckt hielten. Dann plötzlich ein Funke: Als die Indharimer in Candaria eingefallen waren und auch versucht hatte, einen Fuß auf Ravinsthaler Boden zu setzen, hatte sie Lionel ein Versteck in der Nähe des Hauses gezeigt.

Wenn Gefahr drohte und kein Vertrauter in der Nähe war, sollte der Junge die kleine Schwester schnappen und zu dem nahen Mienenschacht laufen, um sich dort zu verbergen, bis Mutter oder Vater sie holen kommen würden. Cahira hatte eine kleine Tasche mit warmen Sachen, Laternen, Zündholz und auch haltbaren Proviant und Wasser für diesen Zweck dort gelagert und von Zeit zu Zeit ausgetauscht. Mittlerweile waren die Indharimer vertrieben, doch Lionel war ein zu gewissenhafter Junge, als hätte er den Rat der Mutter und das geheime Lager vergessen. Und welche Definition von Gefahr war wohl passender, als wenn jemand ins Haus eindringt und dem Kindermädchen die Augen entreißt ...

Hatten Lionel und Brynja voll und ganz mitbekommen, was geschehen war? Hatten sie sich vorher in Sicherheit bringen können oder eventuell erst danach? Die Fragen verschwammen mit den dunklen Schemen der Bäume und des Unterholzes, welches Cahira im Marschgalopp unter sich zertrampelte. Sie hatte schon einige Leichen gesehen, das brachte das Soldatendasein eben so mit sich, doch selbst für sie war der Anblick der Toten kaum zu ertragen gewesen. Die dunklen Augenhöhlen starrten tot zur Decke. Weil sie Nora gekannt, mit ihr im engen Vertrauen gelebt hatte. Wie grauenhaft musste dieses Erlebnis erst für die Kinder gewesen sein.

Am Massiv angekommen, musste sie einen Moment suchen, um die Leiter zu finden, die hinauf zum Schachteingang führte. Sie kletterte das morsche Holz empor, zog sich ein paar Splitter ein und tauchte kurze Zeit später in den Stollen. Die unebenen Wände wurden flackernd vom Schein ihrer Fackel beleuchtet. Nach ein paar Schritten stieß sie gegen die Fluchttasche. Das Leder war ganz grau vor Staub und sicher waren Zwieback und Wasser darin schon verdorben. Seit ihrem letzten Besuch war niemand hier gewesen und vergessen rotteten Tasche und Inhalt dahin. “LIONELBRYNJA?” Sie konnte nicht anders, als in den Schacht hineinzurufen. Das Echo hallte verhöhend zurück. Keine Antwort.

Die Verzweiflung packte sie. Sie war sich so sicher gewesen, dass die Kinder hier waren, an die Alternative wollte sie nicht denken. Sie trat wieder ins Freie und holte tief Luft. Die Kühle des Winters lag bereits in jedem Atemzug. Doch ihr Zittern rührte nicht nur von der Abendkälte her, es war auch ein Ausdruck äusserster Angst und Angespanntheit.

Die meisten Höfe auf dem Rabenfeld standen leer und die Kinder hatten auch eigentlich keinerlei Bezug zu den Gebäuden, weswegen es Cahira unwahrscheinlich schien, dass sie sich dort hin zurück gezogen hatten. Rabenstein war eine näherliegende Wahl. Die Verwaltung war dort, die Garde - vertraute Orte, zu denen die Kinder von den Eltern ab und an mitgenommen worden waren. Noras Familie. Aber der konnte sich Cahira noch nicht stellen. Dort nach den Kindern zu suchen, würde bedeuten, Rede und Antwort zu stehen, warum jene nicht bei Nora waren. Und sie fühlte sich nicht stark genug, irgendeine Lügengeschichte aufzutischen. Darin war sie ohnehin nicht gut.

Der Weg zur Ortschaft zog sich elendig lang dahin. Berthold, die Torwache, nahm halbwegs Haltung an, als er erkannte, wer sich ihm nährte. “N’abend, Edle! Was ich Euch vorhin sagen wollte …”, begann der Wächter, als Cahira an ihm vorbeirauschte. “Morgen, Bert. Ich habe jetzt keine Zeit!” “Aber! Aber! Der Ser kam mit den Kindern vorbei. Vorhin!”, ratterte der Mann herunter und erreichte sein Ziel. Cahira machte auf dem Hacken kehrt. “Was habt Ihr gesagt?” “Na, dass Euer Mann hier vorhin mit dem Kindern vorbei gekommen ist. Lionel wird mal ein richtig großer Recke, wie sein Vater, und die süße Kleine …” Seine Rede erlahmte schmatzend unter Cahiras Blick. “Da so sind sie hin!” Er deutet vage in Richtung Mine, Heilerhaus, Rabenhügel und die junge Frau nahm wieder Schritt auf, winkte dankend. Sie spührte den bohrend verwirrten Blick der Wache in ihrem Rücken, aber sie konnte sich nicht mit Erklärungen aufhalten. Dies war eine erste erfolgversprechende Spur. Wenn die Kinder bei Kyron waren, waren sie in Sicherheit.

Nacktschnecke.

Als sie das Haus durchsucht hatte, war ihr etwas aufgefallen, was erst jetzt wieder, mit Erwähnung ihres Ehemannes an Gewicht gewann. Seine Rüstung war zu Hause. Ordentlich an der gewöhnlichen Stelle aufgestellt. Kyron war so gut wie nie in zivil anzutreffen und er schien geradewegs in den heiligen Stahl hineingewachsen zu sein. Ohne Rüstung war er selbst für die Kinder ein so ungewohnter Anblick, dass Brynja ihn einmal als eine Schnecke ohne Haus bezeichnet und ihr Umfeld mit ihrer Heiterkeit angesteckt hatte. Wie passte das nun alles zusammen? Der verlassene Hof, die Leiche in der Stube, die Kinder bei Kyron, seine Rüstung allerdings zu Hause … Sie hatte das Gefühl, ein Puzzle zusammenzusetzen, bei der ihr die wichtigsten Teile fehlten. Oder sie nicht wagte, die entscheidenden Teile aneinander zu fügen.

Das Heilerhaus war nun also ihre erste Anlaufstelle und sie trat ohne anzuklopfen ein. Flint döste auf einem Stuhl vor sich hin, in seinen Armen eine Rumflasche. Cahira trat unsanft gegen eines der Stuhlbeine und der ram dösige Heiler schreckte auf. “Der ist für die Kranken!” “Ich muss doch testen, ob er noch gut ist!” “Was soll an Rum schlecht …” Sie atmete tief ein. Sie war nicht hier, um mit Flint zu streiten. “Falls Ihr die Kinder abholen wollt, die schlafen hinten.” brummte der missgestimmte Heiler und schmiegte sich an die Flasche Alkohol, als wäre es eine Geliebte.

Cahiras Herz tat einen Sprung und sie musste sich natürlich selber davon überzeugen, dass die Kinder wohlbehalten waren und zog im hinteren Teil der Hütte einen Vorhang beiseite. In einem Bett dahinter schliefen Lionel und Brynja, eng aneinander geschmiegt. Vor Erleichterung drohten ihr die Knie nachzugeben. Ihre Kinder waren gesund und in Sicherheit. Sie zog den Vorhang leise wieder zu. “Warum habt Ihr keinen Boten geschickt, eine Nachricht, dass sie bei Euch sind?” Flint kratzte sich verwirrt den Kopf “Na, der Ser hat sie doch gebracht. Dachte, das ginge in Ordnung und ihr habt euch abgesprochen.” Daraufhin wusste Cahira nichts zu erwidern. Wo war Kyron?

~

Vor zwei Tagen hatten sie Nora beerdigt auf dem kleinen Friedhof vor Rabenstein. Die Eltern der jungen Frau schienen in den letzten Tagen um Jahre gealtert zu sein. Die grausame Unfassbarkeit des Todes der fleißigen, immer gut gelaunten Tochter hatte ihre Schultern nieder gedrückt und das Haar schlohweiß werden lassen. Cahira hatte sich vielen Fragen stellen müssen. Fragen, auf welche sie keine Antworten hatte.

Kurz nach der Zeremonie war sie nach Aquila aufgebrochen; Lionel und Brynja bei Noras Sippe gut aufgehoben gewusst, bis sie eine andere Lösung finden würde, finden musste. Bei der Besprechung zur Schließung des Risses hatte sie gehofft, auf einfache Anweisungen zu treffen. Sie hielt sich im Hintergrund, lauschte den Stimmen, die meisten waren ihr vertraut. Sie brauchte jetzt ein klares Ziel, welches sie ihr Schwert entgegen schmettern konnte.

Einen klar definierten Auftrag im Gegensatz zu ihren wirren Gedanken und dem Verdacht, der aufgrund des Berichtes der Kinder allmählich ein Bild der Ereignisse des unheilvollen Abends formte. Doch vollständige Gewissheit würde sie erst erlangen, wenn sie ihren Ehemann aufgespürt und zur Rede gestellt hatte ...
[Bild: Cahira-Sig.jpg]
Herzlichen Dank an Morrigan!
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