Zwei Leben
#49
Sonnenstrahlen zogen ihre frühlingsschwangeren Klauen durch die Nachtkälte, krochen über taufeuchte Wände und Schindeln. Momente später erbrachen sie sich in die Schlafkammern des Mendoza’schen Anwesens, allem Anschein nach mit der Absicht, jedermanns Schlaf zu stören. Nicht dass sie jemand anders als ein Kleinkind vorfanden, denn der Rest der Familie hatte die Federn bereits verlassen. Oder - wie im Falle des oftmals absenten Familienoberhauptes - niemals aufgesucht. Eine Wöchnerin hatte zu ruhen, zumindest wenn es nach dem lokalen Heilweib und dem Kindermädchen Nora ging. Natürlich musste ein Mann da den Platz räumen und mit einer Matte vor dem Kamin vorlieb nehmen, gar keine Frage! Selbst dann noch, wenn die Frau halbherzigen Protest einlegte und darauf verwies, dass die Wöchnerwoche schon lange vorbei war. Um sicher zu gehen, wie Lionels Vater betonte, nur um sicher zu gehen! Aber selbst Lionel hatte inzwischen seinen Verdacht bezüglich seines Vaters und dessen plötzlicher Bettflucht: Geister. Natürlich böse, natürlich unter seinem Bett.
Das beste Mittel gegen Geister war Salz und Asche, das wusste jedes Kind, außer die Dummen. Zumindest behauptete Hannes das, und Hannes hatte als Müllersohn Erfahrung mit finsteren Kräften. Alle Müller waren bekanntlicherweise Geisterjäger und Dämonenbändiger und alle Mühlen von Geistern und Elfen geplagt. Auch diese Behauptung vertrat Hannes mit dem Brustton vollkommener Überzeugung, und seine Fäuste waren groß genug um Lionel auf genauere Nachfragen verzichten zu lassen. Ab davon dass Lionel bewiesenermaßen nicht dumm war, Vater und Mutter bestätigten das oft genug!
Salz und Asche waren in einem landwirtschaftlichen Betrieb einfach genug zu besorgen, ihr Fehlen fiel auch niemandem auf. Schwieriger war es da schon, die staubige Mischung unter dem Bett der Eltern zu verteilen ohne dabei erwischt zu werden; Mutter würde ihm die Ohren langziehen wenn sie feststellte, dass mitnichten Vater oder sie selbst all den Dreck in die Schlafkammer geschleppt hatten, sondern ihr Sohn, und das mit voller Absicht. Hausarrest würde es dafür setzen, und gerade an diesem Tag konnte Lionel sich so etwas nicht leisten, Poltergeistbekämpfung hin oder her.
Der “Angelausflug” mit Vater war lange genug geplant gewesen um beinahe in Vergessenheit zu geraten, aber Lionel hatte am Vorabend lange und laut genug daran erinnert. Am Ende hatte Vater nachsichtig geseufzt, seine Angel aus dem Werkzeuglager geholt, und etwas altbackenes Brot mit einem scharfen Messer in Würfel geschnitten, eindeutige Zeichen dafür, dass der Ausflug wieder auf den familiären Plan gerutscht war und stattfinden würde. Insgeheim wusste Lionel natürlich, dass Angeln zwar ein Teil ihrer Aktivitäten sein würde, nicht jedoch der Hauptgrund; Vater hatte ihn eindringlich gewarnt, dass Lionel niemandem - ganz besonders nicht Hannes, egal was er behauptete! - jemals von ihren Ausflügen erzählen durfte, und dass die Sicherheit der gesamten Familie, nein, ganz Ravinsthals, von Lionels Verschwiegenheit abhing. Und Vater sprach stets was er mit ganzem Herzen glaubte, selbst wenn es unangenehm war.
“Angeln” also, Lionel und Vater gemeinsam, und sonst niemand.

Mutter war mit der Zubereitung des morgendlichen Kornbreis für Brynja beschäftigt und bot Lionel den Rücken, sodass er blitzschnell und ungesehen die Aschereste von den Fingern waschen konnte. Vater saß im Schaukelstuhl jenseits der offenstehenden Haustüre auf der Terasse, die Füße auf dem Geländer und umhüllt von der morgendlichen Pfeifenqualmwolke, die Augen starr auf den Hof gerichtet. Seine und Madadhs Miene, der neben seinem Hocker lag, glichen einander derart, dass Lionel für einen Moment überlegte, ob sein Vater vielleicht tatsächlich von Hunden aufgezogen worden war, wie einige Kinder in Rabensteins Gossen behaupteten.
Die Gossenkinder behaupteten auch noch andere Dinge über seinen Vater, aber sie waren einfach dumm. Sicher, Vaters Gesicht lächelte selten und meist nur wenn er Mutter sah oder jemanden verdreschen konnte, aber das machte ihn noch nicht zu einem bösen Mann. Lionel hatte noch nie etwas Böses - zumindest nicht laut Hannes' Definition - an Vater entdecken können, und er verstand auch nicht so recht, warum die anderen Kinder sich so vor ihm fürchteten. Er war sicherlich kein Werwolf, das hätte Lionel gemerkt! Und ein Bleicher war er auch nicht, immerhin tropfte er keinen schwarzen Schleim. 
Die Kinder waren dumm und hatten keine Ahnung, und das war die Wahrheit. Vater war einfach Vater, und Vater würde für ihn töten.
"Mutter, wir gehen angeln!" verkündete Lionel also, aus dem Augenwinkel ein Auge auf die rythmisch erscheinenden Rauchwolken vor der Türe werfend. Von dort kamen allerdings keine Widerworte, also war der Plan immer noch fest und Lionel würde endlich "angeln" lernen. Wie aufregend es doch war!
Mutter lächelte ihr neues Lächeln, jenes das ihre Augen traurig machte, und wandte sich vom Brei ab um ihm einen Korb anzureichen. "Falls ihr hungrig werdet, mein Schatz. Pass gut auf deinen Vater auf, ja?"
Das war ein wichtiger Auftrag und Lionel wusste es. Entsprechend ernst fiel auch sein Nicken aus, das den Griff nach dem Korb begleitete. Auf Vater aufpassen, auf Mutter aufpassen, diese Worte fielen in den letzten Tagen oft. Lionel fühlte sich immer erwachsener, umso öfter er sie hörte. Immerhin befanden seine Eltern ihn für würdig und fähig, Verantwortung für jemanden zu übernehmen! Bald schon würde er alt genug sein, um ein Handwerk zu lernen, und dann...
Lionel raffte eilig den Beutel mit den Brotstücken und die zwei Angeln - eine groß, eine klein - zusammen und lief auf die Terasse. Vater sah seltsam aus, so ohne Rüstung, aber wann immer er das schwarze Metall nicht anzog, passierten die spannendsten Dinge. Vater roch sogar anders, nicht mehr nach Metall und Waffenöl, sondern nach Kernseifenschaum, Pfeifenrauch und Schnee. Der Anblick ließ Lionels Herz rascher klopfen.
"Bereit?" fragte Vater und schwang die Beine vom Geländer als hätte er dort keine halbe Stunde gelümmelt, federnd und munter.
"Bereit!" bestätigte Lionel, breit aufgrinsend. Normalerweise versuchte er seinen Vater in dessen Gesellschaft zu imitieren und ein ernstes Gesicht zu wahren, aber die freien Tage mit Vater waren die Besten, wie konnte er da nicht grinsen?
Vater nahm ihm die Angeln ab, dann den Korb, und beauftragte ihn damit, den Beutel mit Ködern zu behüten, dann schulterte er seine Last und trat die drei Stiegen hinab in den erdigen Innenhof. Lionel folgte auf seinen Fersen, hielt aber einen Moment inne um Nora zuzuwinken. "Wir gehen angeln!" verkündete er, einfach weil die Freude irgendwohin musste.
"Großartig!" bestätigte Nora mit ihrem eigenen, verwaschenen Lächeln und hielt einen Moment inne, als hätte sie plötzlich vergessen was sie geplant hatte.
Auch Vater hielt inne, erstarrend und plötzlich angespannt während nur sein Kopf in Regung verfiel, sich Nora zuwandte, starrend als habe sie sich schlagartig in einen Bären verwandelt. Der Blick auf Vaters Gesicht war... Lionel schüttelte sich und trat hinter den Mann der da aus seinem Vater gebrochen war, einfach um dem Ausdruck auf seinem Gesicht zu entkommen. Nora hingegen schien die Veränderung gar nicht so recht zu bemerken.
"Gibt es etwas was ihr wollt, Herr Mendoza?" fragte sie mit einer gewissen freundlichen Ratlosigkeit in der Stimme und wechselte die Hand an ihrem eigenen Korb.
Vater indes schwieg, starrte mit eiskalten Augen, und schauderte. Und dann passierte etwas, das Lionel noch nie zuvor gesehen hatte: Mit einem Ruck lockerte sich jeder Muskel an seinem Vater und ein scharfes, künstliches Lächeln kroch auf seine Züge. "Nein, verzeih mir Nora. Ich dachte ich hätte etwas zu sagen, aber ich habe mich geirrt."
Plötzlich war der Angelausflug nicht mehr ganz so verlockend wie zuvor, aber wenn sein Vater so aussah, wollte Lionel nicht schwierig sein. Es war besser ihm einfach zu folgen und zu warten bis er sich beruhigt hatte. Nicht dass Lionel sich davor fürchtete, seinen Vater zu verärgern, aber manchmal, da löste sein Temperament Dinge aus die Lionel verängstigten und Mutter zum Weinen brachten, und gerade heute wollte Lionel nicht riskieren, dass all die frische Milch sauer wurde.
"Nun, dann einen schönen Ausflug, ihr Beiden!" sagte Nora, lächelte noch einmal breiter, und marschierte dann in die Stube.
Vaters Blick folgte ihr, wie er normalerweise vorbeiziehenden Giftschlangen nachstarrte. Kaum war sie aber im Hausinneren verschwunden, da setzte er sich in Bewegung, leise vor sich hin grollend. Lionel folgte hastig, den Köderbeutel eng an die Brust gedrückt. Nein, gerade war kein guter Moment zu fragen was Nora angestellt hatte. Später aber, später würde er Vater ausquetschen. Immerhin war Lionel alt genug um Verantwortung zu übernehmen, da hatte er ein Recht darauf zu wissen was vor sich ging!
[Bild: spxyfrht.png]

Pain clears the mind of thoughts
Let pain clear your mind of all thought
so that the truth may be known
(Life - Charlie Crews)
Zitieren


Nachrichten in diesem Thema
Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 04.05.2015, 02:24
RE: Zwei Leben - von Kyron Mendoza - 07.05.2015, 14:28
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 08.05.2015, 00:57
RE: Zwei Leben - von Kyron Mendoza - 09.05.2015, 04:50
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 10.05.2015, 23:08
RE: Zwei Leben - von Biriba - 12.05.2015, 16:49
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 13.05.2015, 03:53
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 18.05.2015, 02:14
RE: Zwei Leben - von Kyron Mendoza - 18.05.2015, 03:42
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 06.06.2015, 00:03
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 12.06.2015, 03:24
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 01.07.2015, 00:10
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 15.07.2015, 02:12
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 11.08.2015, 16:29
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 30.08.2015, 19:05
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 10.10.2015, 02:27
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 15.10.2015, 11:40
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 08.11.2015, 04:25
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 22.11.2015, 02:56
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 29.02.2016, 18:21
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 11.05.2016, 01:01
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 31.05.2016, 21:58
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 19.06.2016, 15:41
RE: Zwei Leben - von Kyron Mendoza - 21.06.2016, 18:00
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 24.06.2016, 00:06
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 30.09.2016, 15:38
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 15.11.2016, 23:59
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 27.12.2016, 01:33
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 28.12.2016, 03:33
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 29.12.2016, 04:20
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 31.12.2016, 03:22
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 16.02.2017, 14:28
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 23.02.2017, 01:58
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 15.05.2017, 13:56
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 17.07.2017, 01:26
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 10.10.2017, 00:34
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 23.10.2017, 23:26
RE: Zwei Leben - von Kyron Mendoza - 26.10.2017, 13:49
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 02.11.2017, 00:07
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 30.11.2017, 18:59
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 06.12.2017, 02:15
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 07.01.2018, 02:10
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 09.02.2018, 02:17
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 06.04.2018, 02:12
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 23.04.2018, 21:23
RE: Zwei Leben - von Kyron Mendoza - 09.05.2018, 20:02
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 18.05.2018, 02:33
RE: Zwei Leben - von Kyron Mendoza - 02.06.2018, 11:58
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 25.08.2018, 00:27
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 14.11.2018, 00:47
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 13.02.2019, 18:43
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 13.03.2019, 17:36
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 31.10.2019, 14:03
RE: Zwei Leben - von Kyron Mendoza - 13.11.2019, 19:38
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 15.11.2019, 00:26
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 26.11.2019, 23:38
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 27.01.2020, 23:33
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 18.04.2020, 01:41
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 15.05.2020, 16:54
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 09.08.2020, 13:20



Benutzer, die gerade dieses Thema anschauen: 1 Gast/Gäste