Zwei Leben
#48
Cahira hatte es nie gesehen, oder zumindest nie gestört, dass ihr Geburtshaus im Grunde genommen nur eine abbruchreife Hütte gewesen war, die selbst die Bezeichnung “Bauernhof” zu Unrecht getragen hatte. Neben dem Haupthaus mit seinen zwei Räumen - der Wohnküche und der Schlafkammer - gab es noch einen Verschlag für die wenigen Tiere und einen Schuppen für die alten, rostigen Arbeitsgerätschaften für Feld und Koppel. Das Dach war zum großen Teil mit Stroh bedeckt, welches Vater und Brüder jeweils zum Winter hin auswechselten. In lauen Sommernächten konnte Cahira den Sternenhimmel durch dieses grobe Flechtwerk sehen; während der kalten Jahreszeit musste die Familie so manch’ eisige Nacht bei den Tieren verbringen, um sich an deren Leibern zu wärmen.

Doch trotz aller widrigen Umstände, die Armut nun einmal mit sich brachte, würde Cahira aus dem vollen Brustton der Überzeugung auf die Frage, ob sie eine schöne Kindheit dort in Silendirs Weizenfeldern unter dem azurblauen Himmel verbracht hatte, antworten: “Ja, ich hatte die beste Kindheit, die man sich nur denken konnte!” Denn ein wichtiger Faktor hatte zu dieser Sicht beigetragen: die Liebe Idas, die ihre Familie mit Herzenswärme, Zuversicht und Freundlichkeit zusammengehalten hatte, so misslich die Lage auch gewesen sein mochte.

Ida hatte über die Scherze ihrer Söhne gelacht, ihnen über erste Liebesnöte hinweg geholfen, hatte ihre Tochter zu Eigenständigkeit erzogen, ihr nahe gebracht, wie wichtig es war, dem Herzen zu folgen und hatte die beständigen Sorgen des Ehemannes, wie er seine Familie mit dem mageren Auskommen des Hofes ernähren sollte, unzählige Abenden bei einem unstet flackernden Talglicht mit guter Zurede gemildert. Sie hatte bei den Nachbarn dank ihrer Kenntnisse in Kräuterkunde als Hebamme und Heilerin ausgeholfen und wirklich jeder beschrieb die kleine, runde Frau, die einem zahmen Rebhuhn glich, als einen wahren Segen der Götter.

Als Ida starb, änderte sich alles. Der Hof wirkte nach ihrem Tod so schäbig, wie er tatsächlich war, Vater schlich mit gekrümmten Buckel umher, die Brüder, immer zu Scherz und Schabernack aufgelegt, war sämtlicher Humor abhanden gekommen, Nachbarn und Freunde blieben fern und Cahira fühlte sich so verlassen wie nie zuvor ihrem Leben. Es war, als ob jegliches Licht verschwunden war und sich eine dunkle Wolke über Hof und Gemüter der Teahans geschoben hatte.

Viel später, auf Svesur, als Cahira selber daran geglaubt hatte, Familie und Kameraden verloren zu haben, da hatte sie ihren Vater gefragt, wie er diese Zeit damals nach Mutters Tod überstehen konnte. “Ich hatte doch euch, mein Kätzchen. Dich und deine Brüder.” Und diese Antwort beschämte sie, denn Jonathan und Jovane waren nach Svesur abgewandert, und sie selber hatte in Guldenach eine Anstellung als Nachtwächter und Rattenjäger angenommen. Sie und ihre Brüder waren im Grunde genommen vor dieser unsäglichen Traurigkeit geflohen und Cahira hätte kaum sagen können, womit sie ihm genau geholfen haben sollte. Sie hatte ihn besucht, in der Tat, und später hatte sie ihn bei sich aufgenommen - eine stürmische Zeit, denn Schwiegervater und Ehemann verstanden sich nicht recht unter einem Dach  - ehe auch er entschieden hatte, zu seiner Sippe auf die Inseln zurückzukehren, aber ansonsten ....

Zugegebenermaßen, sie zählte keine sechzehn Jahre mehr und hatte ein totes Kind zu beklagen, doch der Effekt schien derselbe zu sein. Es war etwas, worauf Cahira immer viel Wert gelegt hatte, ein Heim zu erschaffen, in dem man sich wohl fühlen konnte, aber dieser Tage bestand auch dieses Heim nur aus zusammengezimmerten, wurmstichigen Brettern und diente lediglich als Ort für unruhigen Schlaf, schnelle Mahlzeiten und Schutz vor den Unbillen des Wetters, denn der Tod des Sohnes hatte ein schwarzes, Optimismus und Frohsinn verschlingendes Loch in ihr Inneres gerissen. Und dieses Loch zog Bewohner und Atmosphäre des Hofes in deprimierende Mitleidenschaft.

Sobald Nora keinen Herzanfall mehr bekam, wenn sie auch nur einen Fuß vor das Bett setzte, hatte Cahira sich fliehend vor den trüben Gedanken in die Arbeit gestürzt. Ihr wenn auch kurzes Wochenbett hatte das Tagwerk auf dem Hof zum Erliegen gebracht, und sie musste dieses Versäumnis aufholen, wenn sie zum Herbst hin eine gute Ernte haben wollte. Zudem fingen einige Akten in der Verwaltung bereits an, Staub anzusetzen und sie wusste auch gar nicht mehr so recht, wann sie sich das letzte Mal auf Burg Rabenstein gezeigt hatte, obwohl sie mutmaßte, dass in den Wirrungen des Krieges, der seine Finger auch nach Ravinsthal ausgestreckt hielt, ihr Fernbleiben gar nicht groß ins Gewicht gefallen war.

Nora schien auch noch vollkommen mitgenommen von den Ereignissen der Niederkunft. Die Haushälterin wirkte zerstreut, nicht gänzlich sie selbst und oftmals wollte sie etwas sagen, doch kaum, dass sie den Mund öffnete, war ihr der Gedanke wohl entfallen. Beim haltlosen Herumwühlen in ihren Rocktaschen war ein verknotetes Taschentuch auf den Boden gefallen, und als Cahira es aufhob mit den Worten “An was wolltet ihr euch erinnern? Deswegen macht man doch Knoten in ein Taschentuch, oder?”, war die rundliche Frau vollkommen erbleicht, hatte das Tuch regelrecht an sich gerissen und war davon gestürmt. Dennoch blieb Nora in ihren Diensten, kümmerte sich um die Kinder, putze, wusch und kochte und brachte Cahira mit den neuesten Klatschgeschichten aus Rabenstein auf andere Gedanken.

Bei einem der gemeinsamen Abendessen musterte sie ihren Ehemann, der ihr gegenüber saß und schweigend mit den vorsichtigen Bewegungen noch nicht gänzlich verheilter Verletzungen Linsensuppe löffelte, und fragte sich unwillkürlich, ob seine verfrühte Wiederaufnahme des Dienstes in der Garde auch eine Art Flucht sein mochte. Kyron war ohnehin recht umtriebig, aber die Rüstung schmerzte ihn noch und er hätte durchaus ein paar Tage länger Erholung nötig. Sie redeten wenig über den Tod des Sohnes und Cahira machte ihrem Ehemann keinesfalls Vorwürfe, denn sie wusste auch ohne großartige Beteuerungen, das er da sein würde, wenn sie ihn brauchte - auf seine Art und Weise. Er hatte dies bereits gezeigt, als er mit den schwersten Part vollbracht und den Sohn beerdigt hatte.

Lionel, der sonst immer munter vom Tag erzählte, seinem Pony oder den neuesten Kunststücken von Madadh, rührte mit dem Löffel in der Suppe. Natürlich wollte er Fragen zu seinem Bruder stellen, er war immerhin ein siebenjähriger, wissbegieriger Junge, aber das verbot ihm das blasse, eingefallene Gesicht Cahiras, so dass er seine Neugier und jungenhafte Wildheit unterdrückte. Er hatte die drei Holzsoldaten, die Kordian ihm geschnitzt hatte, Kyron am Tag der Beerdigung gegeben: “Für Eoghan. Er hätte die bestimmt gemocht.” Und Brynja, ansonsten munter und rotwangig, die ihrem Bruder alles nachäffte, ließ sich auch jetzt von seiner Bedachtheit zugunsten der leidenden Mutter anstecken und schlich wie ein kleiner, leiser Schatten im Haus und hinter dem Jungen her. Natürlich war Lionel dies manchmal recht lästig, aber in Anbetracht der Umstände ließ er sie gewähren.

Cahira wusste nicht, was an jenem Abend so besonders war, denn eigentlich war es ein Abend wie andere zuvor auch, doch als sie ihren Blick über Kinder, Ehemann und Haushälterin schweifen ließ, Kyron sie fragend über den Tisch hinweg an blickte, Lionel unterdrückt aufstieß, da er zu rasch einige Schlucken Wasser getrunken hatte, Brynja fröhlich kicherte, Nora gespielt tadelnd den Kopf schüttelte, hoben sich die Mundwinkel ganz von selbst zu einem zaghaften Lächeln, ohne dass sie darüber nachgedacht hätte. Es war ein gutes Gefühl; ein Gefühl welches die dunkle Leere in ihrem Herzen ein klein wenig mit Helligkeit füllte.

Und in diesem Moment wusste sie, welche Antwort sie ihren Kindern geben würde, sollten jene einmal fragen, wie sie trostlose Zeiten überstanden hätte: “Ich hatte doch euch und euren Vater.”
[Bild: Cahira-Sig.jpg]
Herzlichen Dank an Morrigan!
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Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 04.05.2015, 02:24
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