Zwei Leben
#47
Alles ist nur Übergang.
Merke wohl die ernsten Worte:
Von der Stunde, von dem Orte
Treibt dich eingepflanzter Drang.
Tod ist Leben, Sterben Pforte.
Alles ist nur Übergang.


~ Brückeninschrift in Wien

Die schwarze Stute war ein Schemen zwischen mondschattigen Bäumen, ihr selbstzufriedenes Schnauben und das Mahlen ihrer Zähne kaum mehr als ein weiterer Klang im Lied des nächtlichen Waldes. Fischäugig und kopfscheu wie sie war, ebenso schnell und sanft waren ihre Schritte, Balsam für die gepeinigten Rippen die Kyrons Heimreise ins schier Unendliche verzögert hatten. Die Rappstute war eben wie ihr Reiter; ein Desaster, das unter bestimmten Umständen und zu bestimmten Konditionen Unmögliches zu leisten vermochte, und doch nie von dem ihr angedachten Pfad durch dieses Jammertal abkommen konnte.
Seit dem Moment an dem die Wehen eingesetzt hatten, war Kyron mehr von Nora als seiner Frau vor die Türen verbannt worden, und nachdem die ersten zehn Stunden des vereinzelten Schreiens und Ächzens und der motivierenden Zurufe Gesellschaft von widerlichem Sprühregen bekommen hatten, hatte Kyron sein Heil in der Flucht zu Pferd gesucht und die Stadt patroulliert. Ohne Rüstung und kaum fähig sich ordentlich im Sattel zu halten, aber umso entschlossener.
Es war nicht seine beste Idee gewesen, soviel wagte er sich einzugestehen. Ein weiteres Desaster. Ein kataklysmischer Fehlentschluss gar.

Es war die Stille gewesen, die ihn gewarnt hatte. Das sonst so lebendige, Frohsinn atmende Haus saß in seiner kleinen Lichtung wie ein Fels, tot und reglos, still und verschlossen. Keine Kinderschreie, kein Säuglingsweinen, kein Licht in der Küche, nur sanftes, bedecktes Kerzenflackern im oberen Stockwerk. Kyron hatte seine Rappstute bereits am sonst so einladenden Torbogen gezügelt, zähnebleckend ob der leeren, schwarzen Wolke die über dem Gehöft hing, und er hatte der Feigheit nachgegeben.
Das Ross gewendet, davon galoppiert, trotz der stechenden Schmerzen in seiner Seite. Direkt in den Wald, verrufen wie er war, ohne Gedanken an die Wölfe und Eber, die Geister und Flüche, bis er eine kleine Lichtung erreicht hatte. Alles war besser als nach Hause zu gehen.
Das Wispern der schwarzen Thalwaldstimmen plätscherte unerschütterlich wie stets an ihm vorbei, stieß auf taube Ohren mit den Verlockungen, Versprechungen, verräterischen Gedanken, Erzählungen, Lügengeschichten. Der Wald war stets eine gute Übung gewesen, sowohl für ihn als auch zunehmend für seinen Sohn, aber an diesem Abend kostete es keine zusätzliche Kraft, sich den Stimmen zu verschließen. Nein, in dieser Nacht war nichts in Kyron bereit, sich mit der Anderswelt auch nur einen Atemzug lang zu beschäftigen.

Was soll ich tun?

Die alles entscheidende Frage blieb unbeantwortet. Schlimmer noch, selbst nach zwei Stunden des Nachdenkens wollte Kyron niemand einfallen, den er zu dieser Angelegenheit befragen konnte. Niemand, der statt Mitleidsbekundungen mit kaltem Kalkül herangehen und ihm in praktischen Worten sagen würde, wie er sich verhalten sollte und was er tun oder nicht tun sollte. Keine Mutter, die ihm weise Ratschläge geben konnte, kein Vater der es ihm vorgelebt hatte, keine Anvertrauten, die weit genug von ihm und Cahira entfernt gewesen wären um nicht selbst im Elend zu versinken. Sein Buchwissen gab ihm nur wenig Aufschluss, rieten doch die meisten Bücher zu Etikette dazu, dass der Ehemann der Fels in der Brandung für seine Frau sein sollte, ohne allerdings ins Detail dazu zu gehen, wie ein solcher Fels sich denn schlussendlich gab. Kalt, hart und unerschütterlich? Das klang doch recht grausam und erschien selbst Kyron wie ein inadäquates Mittel. Jovial und optimistisch im Angesicht der Tragödie? Nein, das wäre zu nahe an einer Lüge gewesen, denn weder befand Kyron sich als Optimist, noch war er jemals sonderlich fröhlich. Sachlich und produktiv? Das war Cahiras Bereich, nicht der seine, und es fühlte sich schlicht zu distanziert an.

Mein Kind ist tot.
Den Toten ist nicht mehr zu helfen, denk an die Lebenden.


Mit einem Schaudern schüttelte Kyron die alte Frauenstimme ab, knirschte die Zähne gegen die letzten Nachwehen des Schmerzes und drückte sich hoch. Was zu tun war erschien ihm immer noch wie ein Rätsel, aber die Kälte würde ihn früher oder später hinein treiben. Und wenn man keine Antwort hatte, so war es stets der vernünftigste Weg, mehr Informationen zu besorgen. Wie zum Beispiel herauszufinden was passiert war, wie es Cahira ging, wo der Säugling war, ein Grab für die seelenlosen Überreste auszuheben, ein Brett zu schnitzen um das Grab zu kennzeichnen,... praktische Dinge. Dinge, die mit Gefühlen nichts zutun hatten. Kalte Dinge, die Cahira die Pflicht abnahmen.
Die Stute hob den Kopf und setzte sich in Gang, ihm wie selbstverständlich folgend als er sich gedankenverloren auf den Rückweg machte. An Reiten war nun nicht zu denken, es würde ihm viel zu viel Denkzeit abnehmen, und dank der Frühnebel würde er einen Beinbruch am Ross riskieren den er an diesem Tag ganz sicherlich nicht auf sich lasten wollte.
Erst als er auf dem Karrenweg zum Hof ankam, bemerkte er die rundliche, ungelenke Gestalt Noras, die mit einem Weidenkorb zielstrebig auf sein Heim zuhielt, die Schritte zögerlich und unkonzentriert, mal schneller, mal langsamer, begleitet von einem Murmeln als würde sie unter dem Atem zu sich selbst sprechen, während sie den Korb mal an sich drückte, mal wie einen verkrätzten Welpen von sich hielt.

Die verplapperte Frau war allerdings die letzte Person, die er gerade sehen wollte, und so folgte er ihr mit einigem Abstand, ließ sie das Haus zuerst betreten, ließ sie Lichter entzünden, und lauschte mit hüpfendem Herzen und brennendem Magen dem kurze Zeit später einsetzenden Klageweinen aus dem ersten Stock.
Niemals waren Schritte so schwer gewesen, wie an diesem Abend und durch diese Tür.
[Bild: spxyfrht.png]

Pain clears the mind of thoughts
Let pain clear your mind of all thought
so that the truth may be known
(Life - Charlie Crews)
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Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 04.05.2015, 02:24
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