Zwei Leben
#46
Jedem gebürtigen Ravinsthaler war die Abneigung gegen den Thalwald wohl mit der Muttermilch eingeflößt worden. Jede Mutter, die etwas auf sich hielt, fügte ihren Drohungen gegen aberwitzige Zöglinge noch ein “ .. sonst setze ich Dich im Thalwald aus.” hinzu, um die Ernsthaftigkeit ihrer Worte zu unterstreichen. Aus diesem urwüchsigen Waldgebiet kam einfach nichts Gutes und die jüngsten Ereignisse von wilden, fleischfressenden Pflanzen oder Riesen bestätigten diesen Aberglauben noch.

Nora stellte da keine Ausnahme dar. Dennoch trugen sie ihre im Vergleich zum restlichen fülligen Körper eher zierlichen Füßen genau Richtung Waldrand, vorbei an den Koppeln und Feldern des Mühlen- und Jägerhofes. Ihre raschen Schritte wirbelten den Nebel auf, der wie zartes Wattegespinst den Boden bedeckte, bis die Wärme der Sonne des anbrechenden Tages ihn vertreiben würde. Zum Schutz vor der morgendlichen Kälte und dem Zittern, welches sich dank einer schlaflosen anstrengenden Nacht in ihre Glieder gefressen hatte, hatte die Frau eine wollene Stola um ihre runden Schultern gezogen, ein Weidenkorb schaukelte an ihrer Armbeuge.

Sie folgte einem schmalen Pfad, der von Holzfällern oder Jägern ins Unterholz getreten worden war, dann bog sie unvermittelt ab und tauchte unter tief herabhängenden Ästen hindurch, schlängelte sich um eine moosbewachsene Baumgruppe, sprang über einen kleinen Bachlauf und bewegte sich so in einer wohl nur in ihrem Kopf existierender Spirale tiefer und tiefer in den Wald hinein.

Ab und zu strauchelte sie - der Boden war uneben, voll mit Pilzen, bewachsenen Steinen und knorrigen Wurzeln - oder lief geradewegs in eine Dornenhecke, aus der sie sich mit emsigen Reißen und Flüchen befreite. Doch achtete sie penibel darauf, dass dem Korb nichts geschah und schützte ihn mit ihrem anderen Arm oder der Körperseite. Nach einer gefühlten Ewigkeit des stolprigen Wanderns lichtete sich der Wald zu einem kleinen Hain. Ein von einem Blitz gefällter Baumstamm lag quer im weichen Gras; die andere Hälfte ragte wie ein verbrannter mahnender Finger in den Himmel. Noras Wangen waren vom schnellen Lauf gerötet, ihr Herz schlug Kapriolen, als sie sich umblickte und den Korb enger an ihren Körper drückte. “Ihr Götter, was mache ich hier nur?”, murmelte sie halblaut in die vermeintliche Einsamkeit der Lichtung.

“Die Götter haben damit wenig zu tun, Liebes!”

Nora hatte schon immer eine romantische Ader. Als älteste von sieben Kindern wohnte sie noch immer in Rabenstein unverheiratet bei ihren Eltern und sorgte für deren Haushalt. Ihre Geschwister hatten mittlerweile alle selber eine Familie gegründet, doch kein Mann konnte Noras schwärmerischer Vorstellung einer alles verzehrenden, vor allem aufregenden Liebe erfüllen. Bis er in ihr Leben getreten war.

Hochgewachsen, schlank, mit einer weichen Stimme in der Klangfarbe der galatischen Inseln. Das rotblonde Haar unterstrich seine edlen, feingeschnittenen Züge und seine hellblauen Augen schienen geradewegs in ihre Seele zu blicken. Er hatte hervorragende Manieren, wusste sich mit Worten, die Nora gar nicht kannte, auszudrücken. Ein schöner Mann … wenn da nicht die Brandnarben gewesen wären, die eine Hälfte seines Gesichts zerstörten und sich teilweise blau geädert über seine Unterarme zogen. Jede andere hätte ihn wohl gemieden, doch gerade diese Mischung aus Perfektion und eindeutiger Verletzbarkeit hüllte ihn für Nora in ein anziehendes Mysterium. Es war eine aufregende Zeit der heimliche Treffen - er mied aus offensichtlichen Gründen die Öffentlichkeit und wollte natürlich auch ihren Ruf nicht gefährden -  und zarten Tändeleien. Zuvor hatte sie auch eine Stelle als Kindermädchen bei Familie Mendoza angenommen - kurzum, die Götter schienen endlich ein Einsehen zu haben und das Leben wandte sich scheinbar glücklicheren Pfaden zu.

Umso tiefer war die Enttäuschung, als der Mann ihres Herzens auf verquere Weise nicht an ihr, sondern an ihrer Dienstherrin interessiert war und Nora selber nur Mittel zum Zweck. Die Ministerial hatte in ihren Augen alles - eine Familie, ein Anwesen, eine ausgezeichnete Stellung - warum nun auch noch den einen Mann, der sich für sie interessierte? Nora wusste es nicht, aber gerade diese endgültige Desillusion, gepaart mit neidischer Eifersucht, hatten es ihm leicht gemacht, in ihren Geist einzudringen und sie zu kontrollieren. Sie trafen sich an Stellen, zu denen sein Wille sie hinführte, sie berichtete ihm alles, was auf dem Eichenhof vor sich ging. Und nun standen sie dort auf dieser Lichtung mitten im Thalwald und Aidan streckte seine Hand aus.

“Gib mir den Korb, Nora.” Sie gehorchte, wenn auch widerwillig. “Hat Dich jemand gesehen? Der Leutnant, Leibwächter, Ritter, irgendwer …?” Sie schüttelte den Kopf. Zugegebenermaßen hatte sie auch nicht sonderlich darauf geachtet. Zum einen war es weit vor Tagesanbruch, zum anderen ging sie bereits seit einer geraumen Weile auf dem Eichenhof ein und aus, so dass ihre Anwesenheit keinen Verdacht hervorrufen sollte.

Nicht nur Nora sah übernächtigt aus, auch um seine Augen breiteten sich Schatten aus, Falten hatte sich tief umrund seiner Mundwinkel gegraben und vermutlich war diese Erschöpfung auch der Grund, dass sich seine eiserne Kandare, die sich um ihren Verstand spannte, etwas lockerte. Vorsichtig griff er mit weichen Fingern in den Korb. Es war eindeutig nicht das erste Mal, dass er einen Säugling in seinen Armen hielt. Das Kind war keine zwei Stunden alt, die Haut noch rot und runzelig, die kleinen Augen zusammengekniffen und für Momente betrachtete der Mann wie verzückt das Kind, schien die unwirtliche Umgebung sowie ihre Anwesenheit gänzlich vergessen zu haben. Je länger dieser Augenblick dauerte, umso unwohler wurde Nora zumute, bis sie ihm den Jungen am liebsten hätte entreißen mögen. Es war nicht richtig, es war falsch, ganz und gar falsch …

“Du hast es mit dem Tee übertrieben. Wir hätten sie beinahe beide verloren.”, gurrte Aidan schließlich dem Kind entgegen, doch ein eisig, markerschütternder Blick glitt zu Nora hinüber. “Ich habe nicht, ich kann nicht … sie hat ihn sich selber aufgebrüht.”, schluckte die rundliche Frau nervös und knetete ihr Taschentuch, welches sie aus ihrer Rocktasche gezogen hatte, nachdem ihre Hände leer, dem Korb beraubt worden waren. “Und was hätte es Dich interessiert, wenn Cahira gestorben wäre? Du wolltest das Kind, Du hast das Kind!” Sie trat dabei ein paar Schritte rückwärts und wäre beinahe über eine Wurzel gestolpert.

Aidan hob den Kopf nun gänzlich an. Das klare Morgenlicht fraß sich in seine Narben und ließen sein Gesicht wie eine gräßliche Maske aussehen, bei der man nicht genau wusste, welche Seite die Verkleidung darstellen sollte. “Sie hat mir mein Leben genommen. Ihr habe ich mein gutes Aussehen zu verdanken … “ Dabei grinste er hämisch auf. “Und weißt Du, wie es ist, sich aus einer Sucht heraus selber aus der Scheiße zu ziehen? Und nun nehme ich ihr ein Teil ihres Lebens. Ich will, dass sie leidet, so wie ich gelitten haben. Wenn sie gestorben wäre, hätte es mir nichts genützt.” Die Stimme war kühl und berechnend, so wie Nora sie noch nie vernommen hatte. “Und dieser Junge … er ist etwas besonderes. So wie alle Männer dieser Familie.” Er wandte sich wieder dem Säugling zu, der über diesen Monolog begonnen hatte, unleidlich zu greinen. “Du hast Hunger, mein Kleiner, nicht wahr? Jaaa, ruhig.“ Leise stimmte Aidan eine tragende Melodie an, die Nora schon von Cahira gehört hatte, ein galatisches Schlaflied.

“Sie werden Dich finden, da bin ich mir sicher. Und dann .. “, begehrte das Kindermädchen hilflos auf und drehte einen Knoten in das zerschundene Taschentuch. “Der Leutnant, er wird Dich jagen wie ein Tier … Er ist ein gnadenloser Mann und zwischen Mutter und Kind … da besteht eine Verbindung … ” Aidan lauschte milde amüsiert und unterbrach das Gestammel mit einer herrischen Geste. “Nach all’ dem Leid, welches sie bis dahin durchlitten haben, wäre das nicht das größte Geschenk, den Sohn lebend und wohlbehalten in die Arme schließen zu können? Sollen sie nur kommen, aber bis dahin bekomme ich meine Genugtuung. Geh’ nun, Du hast noch eine Aufgabe zu erfüllen.”

Nora schluckte hart und wusste nichts mehr zu sagen, nichts mehr zu tun. Sie kam gegen ihn nicht an, weder körperlich noch geistig, auch wenn er nicht auf dem Höhepunkt seiner Kräfte war, hatte er sie vollkommen in der Hand. Langsam wandte sie sich ab, doch seine Stimme hielt sie noch einmal zurück. “Hast Du nicht noch etwas vergessen, Liebes?” Er nickte deutend zu einem zweiten Korb, den er mitgebracht hatte. Nora erstarrte, der Blick schwirrte vom Korb zu Aidan und wieder zurück. “Ist es ... woher …”, hauchte sie ergriffen und nahm das Behältnis an sich, warf einen kurzen Blick hinein und erbleichte. “Ja, ist es. Das willst Du nicht wissen.” Er hatte immerhin so viel Anstand, bedrückt auszusehen und einmal schwer zu seufzen. “Deine Erinnerung an mich wird mit jedem Schritt, den Du Dich von diesem Ort entfernst, verblassen, und dann wird auch für Dich die traurige Wahrheit darin bestehen, dass das Kind, der jüngste Mendoza Spross, eine frühe Totgeburt war.”

Nora leckte sich die trockenen Lippen. “Hatten wir jeh eine Aussicht, also Du und ich …?” “In einem anderen Leben, vielleicht. In diesem hier, nein. Slàn leibh, Nora!” Aidan war mit dem Säugling im nächsten Atemzug verschwunden und ließ eine verwirrte rundliche Frau und einen Korb mit einem toten Kind zurück.
[Bild: Cahira-Sig.jpg]
Herzlichen Dank an Morrigan!
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Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 04.05.2015, 02:24
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