Zwei Leben
#44
Wie die meisten Ereignisse, die man über lange Zeit vorweg plante und denen man mehr oder wenig freudig entgegen sah, rauschte auch das Winterfest in einem Kaleidoskop aus Farben, Gefühlen und Gerüchen an ihr vorüber. Noch Tage später wollte sie zum Mantel am Haken bei der Tür greifen, um nach erledigtem Tagwerk gen Burg zu ziehen und erinnerte sich dann, dass nach der viertägigen Festivität und dem Abzug der Gäste es wohl an den Kammerzofen und Mägden lag, innerhalb der Festungsmauern die übliche Ordnung wieder herzustellen. Einerseits hätte Cahira noch lange so weiterfeiern mögen, andererseits wollte sie in der nächsten Zeit nichts mit Festplanung oder Organisation zu tun haben.

Als ob die Indharimer gnädig darauf gewartet hatten, dass sich alle wie gehabt dem gängigen Einerlei des Alltags hingegeben hätten, griffen sie Hohenquell an und läuteten damit die Fortsetzung des Krieges an, welcher dankenswerterweise den bisherigen Winter in einem doch recht trügerischen Frieden brach gelegen hatte. In ihrem Zustand war sie den Truppen an der Front keine große Unterstützung, dennoch machte sie sich in Begleitung ihres Leibwächters Aygo auf nach Candaria, um einige Hilfsgüter zu transportieren. Glücklicherweise schlugen sie einen gemächlichen Trab an, um die Packpferde nicht zu überfordern, dennoch spürte die junge Frau nach der Reise jeden Knochen in ihrem Körper; nach der Einlagerung der mitbrachten Güter und dem anschließenden Rundgang durch die Ortschaft, bei dem sie durch den Beamten Adelwin und Fräulein Algrid auf den aktuellsten Stand der Dinge gebracht worden war, besserte sich ihre Befindlichkeit kaum.

Obwohl sie dem Aufhebens um ihre Person dank der Adelung noch immer nichts abgewinnen konnte - und erst recht nicht in Situationen wie dem Alarmzustand im Kriegsgebiet, in welcher andere Dinge wohl wichtiger waren als das Einhalten einer starren Etikette - war sie doch ganz froh, dass sie sich nicht um eine Unterkunft sorgen musste und sie dank ihrer Stellung umstandslos ein Zimmer in der örtlichen Taverne zugewiesen bekam. Sie hatte zwar eine Tasche mit Toilettenartikeln bei sich - das rastlosen Leben als Soldat der Klinge hatte sie gelehrt, wichtige Sachen innerhalb von Augenblicken zusammenzupacken - doch als sich erstmal von Aygo zur Nacht verabschiedet hatte und die Tür ihrer Kammer hinter sich zuzog, verließen sie die Kräfte, sich aus der engen Lederkluft zu pellen und sie ließ sich auf das leise unter ihrem Gewicht aufknarrende Bett fallen. Sie dämmerte eine Weile vor sich hin; die fremden Geräusche der unbekannten Dunkelheit hielten sie wach.

“Er schläft doch nicht wieder vor der Tür, oder? Ah, doch. Ich höre ihn atmen!” Cahira konnte nicht so recht entscheiden, ob Aidan die vollkommene Pflichtversessenheit ihres Begleiters, der auf den Komfort eines Bettes zugunsten ihrer Sicherheit verzichtete, oder ihn die bloße Anwesenheit des Mannes verächtlich aufschnauben ließ. Immer hatte er sich von Adelwin eine Schlafmatte geben lassen. Sie fragte sich in der Tat, was Aygo, der mehr gab als sie zu fordern wagte, eigentlich bei ihr hielt. Bisher bestand sein Leben an ihrer Seite aus bloßen Enttäuschungen: kein Thalwälder, kein Eintritt in die Garde, kein Lohn .. und doch war er da, wenn sie ihn brauchte, ohne Fragen zu stellen, ohne Widerworte.

Sie hatte wenig Lust, ein Gespräch mit Aidan anzufangen. Vermutlich würde Aygo bei dem leisesten Anzeichen, irgendetwas stimme nicht in ihrem Zimmer, durch das dünne, hellhörige Holz brechen, in der Befürchtung, die Indharimer wären gekommen. Aber was würde der Feind schon von ihr wollen? “Ja, was würden sie wohl nur mit einer Baroness, Ministerial des Fürstenhauses, Diplomatin, Schultheiß und Zuchtmeisterin des fürstlichen Gestüts anfangen? Mir fällt da so gar nichts ein.” Sarkasmus troff wie dicker, zäher Honig über jede einzelne Silbe und ließ Cahira schlucken. “Was machst Du hier? Wenn ich Dein Ehemann wäre, hätte ich Dir verboten, hierher zu kommen. Noch dazu in Deiner Verfassung ...” Sie nagte sich für einen Moment schuldbewusst an der Unterlippe. “Er weiß gar nicht, dass Du hier bist? Soso.” Ein Teil der Garde würde in wenigen Tagen ebenfalls an die Front verlegen und da hatten der Hauptmann und der Leutnant wohl andere Dinge im Kopf außer ihren kurzen Ausflug, zudem in Begleitung. Sie hatte keinen ihrer üblichen Zettel auf dem Küchentisch gelassen in der Gewissheit, dass die Kinder bei Nora gut aufgehoben wären und sie morgen wieder zurückreisen würden.

“Willst Du mir zu Strafe und Mahnung wieder ein Brandmal verpassen?”, wisperte sie entgegen ihren Willen gen Zimmerdecke hinauf. Das Zeichen war mittlerweile zu einem hellen Ring umrund ihres Handgelenks verblasst und weder der Schmerz noch der Umstand, das ein Geist ihres eigenen Verstandes dazu in der Lage war, bargen Entsetzen. Dass die Verwundung keine ihrer Einbildungen war, hatte Valyras Frage nach dem Mal bestätigt. Aidan raufte sich in hilfloser Gest durch das kurze Haar. “Um Dich Sturkopf aufzuhalten, müsste ich Dich wohl gänzlich auf einen Scheiterhaufen werfen …” Kaum, dass er die Worte ausgesprochen hatte, zog der Mann etwas schärfer den Atem ein und sie konnte sich vorstellen, wie sich seine fein geschnittenen Gesichtszüge dabei zu einer reuigen Grimasse verzogen. Er hatte kein angenehmes Thema für einen Hexer angeschnitten, wobei “angenehmen” noch milde ausgedrückt war.

Cahira erschauderte. Sie hatte den Tod durch die “reinigenden Flammen”, wie es die Kirche nannte, ein paar Mal miterlebt, zuletzt bei Ghalens Gefährtin Morana. Für sie war es mit der schlimmste Tod, den man sich nur vorstellen konnte. Aidans Aussage erinnerte sie an ein kurzes Gespräch am Rande des Winterfestes, und sie drückte sich empor, um ihm durch das Dämmerlicht, welches der hell und klar am dunklen Firmament stehende Mond leidlich spendete,   ins Gesicht sehen zu können. “Stimmt es, dass die Kirche auch die Familien derjenigen, welche der Hexerei als schuldig befunden wurden, auszulöschen versucht?” “Keine Ahnung.” Unwohl rollte der Mann mit den Schultern. Nein, das war eindeutig kein Sachverhalt, den er gerne diskutieren wollte. “Stimmt es?”, drängte sie ihn irrwitzigerweise zu der Antwort, welche sie doch bereits kannte. “Ja, verdammt. Ja. Wie die Bluthunde sind sie hinter den Nachkommen, der Familie her und ruhen erst, wenn sie alles und jeden den Flammen überantwortet haben. Bist Du nun zufrieden?” Seine Stimme war tonlos, endgültig und doch meinte sie einen bekannten Unterton darin zu hören, wie schon einmal als er sie am Ende verletzt hatte.

“Du hast Angst.”, stellte sie nach einigen Augenblicken zögernd fest. Es passte so ganz und gar nicht zu dem Aidan, den sie auf Svesur gekannt hatte. “Natürlich habe ich Angst um uns. Es sind gefährliche Zeiten. Und Du bist nicht mehr die Kriegerin, nicht mehr die einfache Frau die Du vielleicht gewesen bist.” Die Worte berührten und erschütterten sie gleichermaßen. Vermutlich war sie leichtfertig, weil sie sich noch an die Vergangenheit klammerte, und brachte somit nicht nur sich selber in Gefahr. Das Kind unter ihrem Herzen schien schwerer als sonst zu wiegen. “Und wenn ich verspreche, vorsichtiger zu sein?” Ihre Finger griffen hart in die mit guter Zackelschafwolle gefüllten Matratze und sie beobachtete, wie er zwei gemächlichen Schritten auf sie zukam und sich hinunter beugte. Mit sanfter Resignation hauchte Aidan ihr einen Kuss auf die Stirn. “Ich fürchte, Du wirst dieses Versprechen kaum einhalten können, Kätzchen.”
[Bild: Cahira-Sig.jpg]
Herzlichen Dank an Morrigan!
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Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 04.05.2015, 02:24
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