Zwei Leben
#43
Heute war ein guter Tag.

Die Sonne stand hoch am azurblauen Himmel und auch wenn ihre Strahlen keine Wärme schenkten, so tauchten sie die Schneelandschaft in eine glitzernde, weiße Pracht, in welche die von Mensch und Tier hinein getretenen Schneisen wie dunkle Lebensadern wirkten, die die einzelnen Höfe und Ortschaft miteinander verbanden. Hier und da lugte bereits ein aberwitziges Grün durch das Weiß oder übte ein Vogel sein Frühjahresträllern.

Cahira hatte sich mit den Kindern in der geräumigen Wohnküche des Hofes eingerichtet. Sie hatte von Isabelle einen kleinen Auftrag, Fleischspeisen für den “Tanzenden Troll”, der örtlichen Gastwirtschaft in Rabenstein, zu kochen angenommen. Normalerweise bereitete sie die Mahlzeiten für ihre Familie und ohne großes Murren wurden auch die aberwitzigsten Experimente verzehrt, aber sie genoss es ebenso, ihre Gedanken vollends auf das Zusammentragen passender Rezepte und Zutaten für eine breitere Masse zu richten und auch endlich wieder deftigere Speisen zu kochen.

Während es im Kessel ordentlich blubberte und die Fleischbrühe ihren saftigen Duft durch die Stube verströmte und Cahira zwischen Töpfen, Arbeitsfläche und Vorratsregalen hin und her flatterte, saßen die Kinder am Tisch hinter ihr, plauderten, lachten. Brynja hantierte dabei mit einem Stempel aus einer harten Rübe herum, in welche der Bruder einen Stern geschnitzt hatte und verzierte nicht nur das Hadern vor ihr sondern auch den Tisch oder ihre Kleidung mit bunter Farbe. Die Mutter nahm dies leise Seufzend zur Kenntnis und richtete sich gedanklich auf einen nächstgelegenen Waschtag ein.

Lionel versuchte derweil seiner kleinen Schwester ein paar galatische Wörter beizubringen und natürlich plapperte das Mädchen die manchesmal doch recht zungenakrobatischen Begriffe falsch nach; verdrehte einige Silben dermassen, dass keineswegs das angestrebte Wort zu vernehmen war sondern ein gänzlich anderes. Dies führte zumeist bei Lionel, der die ersten Lebensjahre auf Svesur verbracht hatte und Galatisch faktisch zu seiner Muttersprache zählte, zu regelrechten Lachanfällen. Sollte Kyron die Kinder später zu Bett bringen, würde der Junge sicher noch einen Versuch starten und auch den Vater in seine Lektionen miteinbeziehen. Doch auch diese späte Lehrstunden endeten meist mit vollständiger Kapitulation.

Cahira lauschte dieser Fröhlichkeit mit Wärme im Herzen. Den Kindern ging es gut, daran war kein Zweifel, und weder Kyrons Traum noch Dureths Prophezeiung hatten sich bewahrheitet. Dennoch konnte die Braungelockte nicht leugnen, dass sie dem Jahresende bang entgegengesehen hatte. Und auch wenn sie weder ihrem Sohn etwas angetan noch freiwillig den Weg zu ihrem Gegenspieler gesucht hatte, hatten die bloßen Gedanken daran eine Macht über sie gehabt, welche sie fest im Zaum hielt.

Jedes schärfere, rügende Wort zu ihrem Sohn wurde dreimal hinterfragt oder sie hatte sich auf die Lippen gebissen, um erst gar keine Mahnung oder Strafe auszusprechen. Jeder unzufriedene Schrei von Brynja ließ sie in Mark und Bein erschüttern und sofort alles stehen und liegen lassen, um zur Tochter zu eilen und den Missstand zu beseitigen. Zudem verließ sie den Hof nur, wenn es sein musste und auch dann wählte sie nur bekannte, kurze Pfade. Deftige Suppen, Eintöpfe oder Gulasch verursachten ihr Übelkeit, die nichts mit ihrer Schwangerschaft zu tun hatte, und sie verzichtete rigoros darauf, sehr zum Leidwesen von Tochter und Sohn, die sich vermehrt mit gekochten Karotten oder Linsensuppe zufrieden geben mussten. Mit dem Jahreswechsel war diese Last von ihr abgefallen und sie fühlte sie frei, befreit wie seit langem nicht mehr.

Ja, heute war ein guter Tag. Aber es gab auch andere. Sie hatte manchmal das Gefühl, das die fortschreitende Schwangerschaft, welche sie bislang unter etwas weiterer Garderobe kaschieren konnte, jegliche Kraft nahm. An diesen Tagen kam sie kaum aus dem Bett und wären die Kinder oder die Hoftiere nicht gewesen, hätte sie wohl schlichtweg die Decke über den Kopf gezogen und sich dem Schwächeanfall hingegeben. Dann ließ sie sich weder in der Verwaltung oder der Burg blicken, auch der Hofladen blieb geschlossen und Nora wurde bemüht, auf die Kinder ein Auge zu werfen.

Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass sie bei Lionel oder Brynja diese Art von hinfälligen Schüben gehabt hatte. Entgegen ihres besseren Wissens hatte sie Aidan gefragt, ob dies normal wäre, doch das Truggebilde schwieg sich dazu aus. Nachdem er ihr Handgelenk verbrannte hatte, ließ er sich nur selten blicken und Cahira war nicht traurig darum; die Unterhaltungen mit dem Mann haben sich auf ein Maß gesteigert, die in der Öffentlichkeit kaum zu erklären gewesen wären und sie wollte zudem vermeiden, ihrem Ehemann, der Aidans Anwesenheit als schlechtes Omen gedeutet hätte, Rede und Antwort zu stehen.

Manchmal sah sie diese Kraftlosigkeit auch als eine Strafe der Götter an. Immerhin hatten jene ihre Verbindung mit nunmehr drei Kindern gesegnet und sie hatte es gewagt, daran zu denken, nein, es gar laut auszusprechen, das Kind nicht bekommen zu wollen. Es war wie mit der Geburt selber: Am Ende verfluchte wohl jede werdende Mutter ihren geschwollenen Leib, die schmerzenden Knochen und wünschte sich nichts sehnlicheres, als das neue Leben endlich aus sich herauszupressen. Als Maßnahme, Demut zu zeigen und zum Zwecke der Züchtigung hatten die Götter den eigentlichen Akt der Geburt als blutiges, schmerzendes und gefährliches Unterfangen gestaltet. Doch obwohl Cahira kleine Opfergaben kredenzte und ihren Gedanken verbot, sich wieder auf dieses gefährliche Terrain zu wagen, besserte sich ihr wankelmütiger Zustand nicht.

Eventuell würde sie doch den Weg zum Rabenhügel oder Rielaye suchen müssen, doch heute war sie von Ermattung verschont geblieben, hatte gekocht, mit den Kindern gespielt, eine ausgiebige Runde um Koppeln und Felder des Hofes gezogen. Später, nachdem sie Lionel und Brynja zu Bett gebracht hatte, würde sie mit einem heißen Tee auf dem Schoß, eingemummelt in einen dicken Mantel auf der Veranda auf Kyrons Heimkehr warten.

Heute war ein guter Tag.
[Bild: Cahira-Sig.jpg]
Herzlichen Dank an Morrigan!
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Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 04.05.2015, 02:24
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