Zwei Leben
#30
Konklave 1403 - Das festliche Massaker

Aus. Vorbei. Sie konnte und sie wollte nicht mehr. Sie kam sich vor wie eine der Übungspuppen, welche sie in der Vergangenheit traktiert hatte unter dem Kommando von verschiedenen Stimmen - unter anderem Sievert, Kordian, Kyron - um ihren Körper zu stärken. Es gab wahrscheinlich keinen Knochen in ihrem Leib, der ihr nicht weh tat und sie bei jeder noch so kleinen Bewegung quälte. Nein, keine Puppe. Ein loser Sack aus Knochen.

Ein halb zu Tode geprügelter, zerkratzter Knochensack. Ihr Kleid war hin. Zerrissen von garstigen Händen, die sie am fliehen hindern wollten und es letztendlich geschafft hatten, dass sie zwar aus dem Festsaal raus aber nur ein paar Schritte weiter zu Boden geschlagen worden war und liegen blieb. Sie wusste nicht, wie oft sie den Versuch unternommen hatte, den Angreifern zu entkommen. Doch bei jeder Regung stürzten sich mindestens einer, meist jedoch mehrere dieser merkwürdig blassen Gestalten auf sie und schlugen, tritten, kratzten solange auf sie ein, bis sie sich nicht mehr rührte. Ihre Widerwehr wurde mit jeder dieser Attacken lahmer, die zurückgelegte Strecke kürzer. Die Kräfte schwanden, als ob sie ihr durch irgendeine unheilige Macht entzogen wurden. Hoffnungslosigkeit, Mutlosigkeit und Schwäche hinterließen ein großes dunkles Loch in ihrem geschundenen Leib.

Die Winterkälte frass sich bereits durch den Stoff des Kleides. Blinzelnd erkannte sie ganz nahe bei sich das Rot eines ravinsthaler Wappenrocks. Isabelle? Die Schmerzen von Platzwunden am Kopf raubte ihr zeitweise die Sinne und ließ die Umgebung flimmern. Blut lief von ihrer Stirn in ihre Augenbrauen, von ihrer Nase über Lippen und Kinn; sie schmeckte das metallischen Aroma des roten Lebenssaftes in ihrem Mund. Der Atem hörte sich in ihren eigenen Ohren seltsam schwer und röchelnd an. Sie war bei weitem keine Heilerin, aber sie vermutete eine gebrochene Rippe. Oder vielleicht mehrere. Wenn Sie Glück hatte, war es bei diesem Bruch geblieben und die zerborstenen Knochen hatten nicht noch mehr Schaden angerichtet … aber was spielte das nun noch für eine Rolle?

Sie konnte nur hoffen, dass Magda mehr Geistesgegenwart als sie selber, die nachsehen wollte, warum beim Thronsaal so ein Wirrwarr ausgebrochen war, besessen und Lionel, sich selber, ihr ungeborenes Kind in Sicherheit gebracht hatte. Dabei hatte der Tag doch so gut begonnen …

Sie wurde vom aufgeregten Lionel aufgeweckt. Nach der Morgentoilette nahmen sie ein einfaches, doch kräftigendes Frühstück ein und halfen bei der Beseitigung der Feierrückstände im ravinsthaler Quartier. Der etwas sauertöpfische Diener ließ sich für eine Führung durch die Löwenwacht erweichen, da er wohl erkannte, dass nicht alle Ravinsthaler schlitzohrige Halunken waren und der wissbegierige Sohn fragte dem Mann sprichwörtlich Löcher in den Bauch. Danach erkundeten sie die Stadt. Cahira zeigte Lionel die Markthalle, die Schmiede, wo sie Kordian und Kyron nach ihrer langen Trennung wieder getroffen hatte, die Bibliothek; sie ließen sich einfach treiben, erstanden hier und dort ein paar Kleinigkeiten zum Naschen, denn schließlich sollte es am Abend das große Festbankett geben und kehrten am späten Nachmittag mit schmerzenden Füßen und kalten, roten Wangen aber vorfreudiger Stimmung wieder zum Quartier zurück. Zur Feier selber dann begleiteten sie mit Cois den Fürsten, der sich aber mit den anderen Adligen im Thronsaal versammelte.

Gerade noch stopfte sich Lionel ein saftiges Stück Braten in den Mund und am Tisch diskutierte man über ein Trinkspiel - Cahiras Gedanken kreisten um Dinge, welche sie noch nie getan hatte, um die anderen zum trinken zu bewegen - da brach das Chaos aus.

“Cahira!” War es Kennans Stimme, die da ihren Namen rief? Sie wurde hochgerissen und aus ihrem Schleier aus Schmerzen und Betäubung heraus merkte sie, wie sie mitgeschliffen wurde. Zwar versuchte sie so gut sie es in ihrem geschundenen Zustand vermochte behilflich zu sein, doch ihre Füße wollten ihr nicht mehr ganz gehorchen. Andere Stimmen, Laute drangen wie durch zähe Melasse zu ihrem trägen Hirn. Das meiste hatte kaum einen Sinn, erst als sie wieder irgendwo zum liegen kam, hörte sie Lionel an ihrer Seite schluchzen. Er war zwar immer noch hier, in diesem Massaker eines eigentlich freudigen Anlasses, aber er lebte, war unversehrt.

Als sie das nächste Mal erwachte, fanden sie sich mit einer kleinen Gruppe in den Untiefen der Festung der Gefängnisinsel wieder. Ihre Wunden waren notdürftig versorgt worden, der eingeflößte Heiltrank tat sein Werk und musste vorläufig ausreichen, Cois hatte ein Gebet zu den Göttern gesandt. Jedenfalls waren die Schmerzen etwas gedämpfter. Es war wohl vorhin tatsächlich Isabelle gewesen, deren Wappenrock sie gesehen hatte, denn sie saß nun an die Wand gelehnt, war blass, ebenfalls angeschlagen, aber noch immer kampfeslustig, wie sie ihren kleinen Dolch umklammerte: “Den hier traue ich kein Stück!”, womit sie wohl sämtliche Flüchtenden ausschließlich der bekannten ravinsthaler Lehensangehörigen meinte. Magda schlief vor Erschöpfung ein; Cahira befürchtete, dass der Stress zu einer verfrühten Niederkunft führen könnte. “Das wäre das schlimmste, was mir jetzt passieren könnte!”, hatte die Schwangere noch gemurmelt, ehe ihr die Augen zugefallen waren.

Die Gefängnisinsel brummte wie ein aufgeschreckter Bienenstock. Das Winseln von Verwundeten und Sterbenden untermalte das Klirren von Rüstungen, eiligen Schritten; Rufe nach Heilern wurden laut, Kinder plärrten und der Geruch von Tod und Verderben lag schwer in der abgestanden Luft. Die Geräuschkulisse von gestern Abend wäre ihr wissen die Göttern bei weitem lieber gewesen. Lionel rollte sich an ihrer Seite ein, wie er es als ganz kleiner Junge schon getan hatte und sie zog einen Umhang, der ihr dankenswerterweise von unbekannten Spender über die Schultern gelegt worden war, über ihrer beider Gestalten. Gerüchte, Vermutungen was eigentlich geschehen war erreichten sie auch hier in den Gewölben. Beinahe den gesamten Hochadel hat es dahingerafft bei dem überraschenden Angriff der Vampire. Vampire? Noch wusste sie nicht, was sie davon halten sollte. Jedenfalls waren der Fürst und Reichsritter Zornbrecht entkommen und so wie berichtet wurde, auch die meisten Ravinsthaler.

“Mama?” Beinahe verzagt nuschelte Lionel unter dem Umhang hervor und lugte mit großen Augen auf. “Der kleine Mann ist tot.” Eine schlichte Feststellung des Jungen, dessen Ohren sie kaum verschließen konnte und der trotz seiner Angst mehr mitbekommen hatte, als ihr lieb gewesen wäre. Kurz wallte Trauer für den Herzog auf, für den ehemaligen Landsmann, für den Ehemann, für den Mann, der ihrem Sohn doch gerade erst gestern auf so unnachahmlich charmante Weise eine kleine Freude gemacht hatte.

“Werden wir auch sterben?” Da war die Sache wieder mit der Wahrheit. Um genau zu sein wusste sie es nicht und sie neigte in der Tat, angedacht ihres Zustandes und dem vieler anderer wohl auch, eher dazu, diese Frage zu bejahen. Wie waren die Angreifer so rasch in den Saal gekommen und konnten sie nicht auch hier unversehens auftauchen und sie ohne große Gegenwehr niedermachen? Die Antwort kam ihr also zögerlich über die aufgeplatzten Lippen, denn es hatte keinen Sinn, den Jungen noch mehr zu verschrecken als er ohnehin schon war: “Nein, wir kommen wieder nach Hause!” Und insgeheim betete sie darum, dass dies tatsächlich der Wahrheit entsprechen würde.
[Bild: Cahira-Sig.jpg]
Herzlichen Dank an Morrigan!
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