Zwei Leben
#22
Das Hirschenheim wirkte seltsam leer und schmucklos, nachdem sie in den letzten Tagen ihre persönliche Habe in alle möglichen Kisten und Fässer verstaut und für den Abtransport gen Ravinsthal bereit gemacht hatte. Sie hatte versucht, alles nach einem System zu verpacken, welches es ihr ermöglichte, die Dinge nach dem Umzug schnell wieder zu finden und das meiste mit Beschriftungen versehen. Leider machte dies den Packprozess, der ohnehin durch ihren gewaltigen Schwangerschaftsbauch, den schmerzenden Lenden und geschwollenen Beinen stark eingeschränkt worden war, weder leichter geschweige denn schneller.

Natürlich waren ihr auch Lionel und Loren Rabe, ihr Gehilfe, zur Hand gegangen. Doch die Mitarbeit des Sohnes artete immer mehr in Spielerei mit seinen (wieder)gefunden Spielsachen aus statt dass er wirklich voran gekommen wäre. Loren musste anfangs den Schrecken, dass Cahira Zweitürmen, ihre gesellschaftliche Stellung und die prachtvolle Behausung zugunsten des Nachbarlehens, in dem laut dem Burschen nur Taugenichtse, Strauchdiebe und Meuchelmörde hausen würden, aufgeben wollte, verdauen und sie verständigten sich zunächst darauf, dass er nach Candaria zu seiner Familie zurückkehren sollte, bis die Lage in der neuen Heimat geklärt war.

Natürlich war auch der jungen Frau mulmig zumute, wenn sie an Ravinsthal dachte. Sie war ein paar Mal zu Feierlichkeiten dort gewesen und hatte ein Auge auf die Felder des Küstenhofs von Gabriel gehabt. Das Land war zugegebenermaßen wunderschön, aber wild und ungezähmt. Und der gebürtige Ravinsthaler war ein ausgekochtes Schlitzohr, da hatte der junge Rabe nicht ganz Unrecht. Sie wusste nicht, was sie und Lionel hinter dem Pass erwarten würden. Wo würden sie unterkommen? Wie sah der Hof aus, den Kyron schon gepachtet hatte? Welche Aufgaben erwarteten sie? Wie würden sie dort aufgenommen werden? Wie würde sich Lionel in einer fremden Umgebung fühlen, nachdem die himmelhochjauchzende Freude, seinen Athair wiederzusehen, abgeklungen war? Doch die junge Frau lächelte Lorens und auch ihre Bedenken einfach fort. Was blieb ihr auch anderes übrig? Sie hatte ihren Entschluß gefasst und bereits verkündet. Auch wenn sie es sich nicht leicht gemacht hatte.

Während der Entscheidungsfindung hatte sich das Hirschenheim in eine Zuckerbäckerei verwandelt. Von jeher musste sie immer etwas zu tun haben, um ihrer Anspannung Herr zu werden. Wenn sie nicht schwanger gewesen wäre, hätte sie wohl Stunden mit körperlicher Ertüchtigung verbracht, so aber hatte sie Teig geknetet.

Kekse waren über Tellerränder getrudelt, Kuchen hatten dampfend zum Abkühlen auf jeder freien Ablagefläche gestanden und das Feuer im Ofen wurde immer wieder angefacht, um das nächste Blech mit Leckerein in den heißen Schlund zu schieben. Selbst die nimmersatten Buben hatten allmählich kein Backwerk mehr sehen können und waren froh gewesen, wenn es zum Abendbrot etwas deftiges wie Suppe gab - vor allem der junge Mendoza sich nach dem dritten Tag der süßen Teigzufuhr heimlich hinter einem Baum übergeben hatte.

Kyron hatte zum Treffen der Klinge einfach vor der Tür gestanden, als wäre er gerade erst losgezogen, um Rauchkraut zu besorgen. Cahira war zu baff gewesen, als dass sie ihm das Wiedersehen bereitet hatte, was ihm wohl zugestanden und welches sie sich in Gedanken so oft ausgemalt hatte. Stattdessen gab es kleingeschnittes Butterbrot, wie sie es ihrem fünfjährigen Sohn immer zubereitete, und, nach einem kurzem Streitgespräch, der Austritt Cois’ aus der Klinge. Es bedurfte einiger Überzeugungsarbeit, dass der Mann nicht gleich das nächste Schiff nach Galatia bestieg.

Als die junge Frau diesen Abend zu Bett gegangen war, kam sie lange Zeit nicht zur Ruhe. Ihre Hände zitterten, die Gedanken rasten. Wenn sie wollten, das Kyron blieb, musste der vorherige Pakt mit Dureth als stummes Zugeständis weitergeführt werden, ihn nicht zu belangen. Eine bittere Pille, welche sie aber zugunsten eines gemeinsamen Familienlebens geschluckt hatte; jedenfalls leichter als Cois. Dabei war ihr natürlich bewusst, dass der Feind jeden beliebigen Vorwand ins Feld führen konnte, um Mendoza wieder fester an sich zu binden. Aber es war ein Schritt voran - besser als die gezwungene, lieblose Trennung.

Und wenige Tage später, als sie ihrem heimgekehrten Ehemann gestanden hatte, ausgerechnet den Mann in die Dienste der Baronie gestellt zu haben, der seinen Sohn bedroht hatte, stellte er die unvermeidliche Frage: “Was machst Du noch hier, wenn die Klinge doch längst nach Ravinsthal gezogen ist?” Begleitend damit stellt er klar, dass er selber nicht in Zweitürmen wohnen konnte, jedenfalls nicht solange Schumann in seinen Augen eine Gefahr für die Familie darstellte. Doch dieser war nicht nur durch seinen Posten als Jagdmeister Bestandteil der Baronie, sondern vor allem durch seine Zugehörigkeit zum Haus Hohenwacht - und dies war eine Hürde, die Cahira nicht beseitigen können würde.

Sie hatte ihm die Frage nicht wirklich beantworten können; vor allem die Sitzung und das Streitgespräch über eventuellen Beteiligungen der Klinge an Überfällen in der Baronie schon zu viel Kraft und Nerven gekostet hatte. Cahira hatte Kyrons Zorn gespürt, dem sie nur ihre Sanftmütigkeit entgegen stellen konnte. Aber Kordian hatte es damals freigestellt, ob sie bleiben wollte oder nicht, als er die Einheit aus dem Regiment gezogen hatte, und auch Gabriel hatte mit keinem Wort Missfallen geäußert, dass sie noch immer in Zweitürmen geblieben ist.

Doch Mendoza hatte mit seiner Frage ins Schwarze getroffen. Sie hatte es sich in Zweitürmen gemütlich gemacht und vielleicht hatte sie einfach diesen harten Anstoß gebraucht, um wieder in die Gänge zu kommen. Außerdem, was nützte es, hier ein Heim erschaffen zu haben, welches offenbar nicht gewollt war? Also war die Entscheidung nach Ravinsthal zu gehen, egal, wie sie es drehte oder wendete, ganz gleich, wie viel Kuchen und Kekse sie bug und belanglos welche Stellung und Bequemlichkeit sie aufgeben würde, im Grunde genommen eine ganz einfache.

Heimat ist dort, wo das Herz ist. Heimat ist dort, wo die Klinge ist.
[Bild: Cahira-Sig.jpg]
Herzlichen Dank an Morrigan!
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Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 04.05.2015, 02:24
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