Zwei Leben
#20
Noch vor dem ersten Hahnenschrei trippelten die Schritte des Jungen die Stufen hinunter auf dem Weg Richtung Hühnerstall. Mit Feuereifer hatte Lionel nicht nur die Namensgebung sondern vor allem die Versorgung der Federviecher übernommen, von denen Cahira fand, sie konnten ihrem Sohn nicht viel anhaben und auch jener konnte nicht so viel Schaden anrichten. Außerdem war Madadh, der zotige Wolfshund, nie weit entfernt von seinem Herrn und beobachtete mit wachsamen Blick das Scharren und Gackern der Hennen und Gockel im Stall und ließ ab und zu ein warnendes, dumpfes “Wuff!” hören, sollte sich eines der Tiere zu toll gebärden.

Lionel füllte Futter und Wasser nach, stibitze den Hühnern mit einigem Geschick die gelegten Eier und sammelte die Federn für den weiteren Verkauf auf. War seine Arbeit getan, lagerte er seine Gerätschaften und Ausbeute ordentlich in den Schuppen in die dafür vorgesehenen Kisten oder Tonnen und sauste in die Küche, um sich aus dem hohen Glas auf dem Bord einen Keks zu nehmen. “Nur einen, es gibt gleich Frühstück!”, musste Cahira beinahe jeden frühen Morgen warnen. Sie hatte ihren Sohn natürlich vom Schlafzimmerfenster aus beobachtet, heimlich, um nicht den Zorn des Kleinen heraufzubeschwören, der meinte, er sei’ kein Kind mehr und kann sich sehr gut alleine um “seine” Tiere kümmern.

Doch auch trotz dieses mütterlichen Appels, sich nicht den Bauch vor dem Frühstück mit Gebäck vollzuschlagen, fand sie oft genug noch einen halb verzehrten Keks in einer Hosen- oder Manteltasche oder sah ihren Sohn fröhlich auf dem Steinlöwen reiten, mit vollen Backen und Krümeln im Gesicht. Lionel schien die Vorliebe seiner Mutter für Süßkram mit in die Wiege gelegt bekommen zu haben und konnte sich bei Krapfen, Pfannkuchen oder sonstigen Backwaren kaum zügeln. Ein waschechter Galatier eben.

Aber Cahira war ihr herumtollender, fröhlicher Junge natürlich lieb. Er schien den Umzug vom Minenhaus ins Hirschenheim gut überstanden zu haben. Es war auch nur eine kurze Wegspanne gewesen und die meisten Sachen, welche sich in dem knapp einem Jahr währenden Bezugs des Hauses im Klammthal angesammelt hatten, hatten sie und Lionel rasch gemeinsam ins neue Heim geschafft. Nur bei den großen Möbelstücken wie Bett oder Kleiderschrank hatte Filbert, der Stallknecht des “Roten Hirschen”, geholfen.

Cahira vermisste das alte Gemäuer; den Weg zwischen den Bäumen hindurch, das Glühen der Feuerstelle oder einer Kerze im Fenster, Anzeichen, dass jemand zu Hause war und sie nach wenigen Schritten in eine heimelige, warme Stube treten würde. Aber es war schlußendlich eine Vernunftsentscheidung gewesen, das Haus an Johann zu übergeben. Er war nun der Schmied im Thal und das Minenhaus hatte alles, was ein Handwerker seiner Zunft benötigte: Die Nähe zur Grube, eine kleine Esse, ein Amboss, selbst eine Seilwinde, um auch schwere Last in den ersten Stock des Hauses zu befördern, die nötige Abgeschiedenheit, um Nachbarn mit andauernden Hämmern nicht zu stören.

Der Einfall, ins Hirschenheim mit Querida zusammen zu ziehen, war kein Gedanke, der Cahira sofort ins Gedächtnis gesprungen war. Es war während der Zeit der Ahnenandacht geschehen, die erfahrungsgemäß die ruhigste, in sich gekehrteste Zeit des Jahres war. Die Feierlichkeiten hatten nicht die freudige Erwartungshaltung von Ceílil oder die brünftige, ausgelassene Schwüle des Festes des wallenden Blutes. Man zog sich zurück, erholte sich vom vergangenen Jahr und verbrachte die Zeit, vielleicht noch viel mehr als sonst, im Kreise der Familie. Zwar hielt die junge Frau es auch in Zweitürmen so, die Arbeit zum Jahreswechsel weitestgehend ruhen zu lassen, doch wie weit sie sich von der einfachen Gemütlichkeit Svesurs entfernt hatte, hatte sie spätestens bei dem Fest in Ravinsthal bemerkt, als Gabriel diesen mehr tot als lebendigen Taugenichts als Opfergabe in den Kreis des Feuers gezogen hatte.

Auf Svesur waren sie zum Geysir gepilgert und nachdem der Druide einige Worte gesprochen hatte, konnte jeder nach vorne treten und von seinen Ahnen berichten. Einige Erzählungen reitzen zum Lachen, andere zum Weinen. Die Familien fanden sich in Grüppchen um die Wasserfontäne zusammen - die Winter waren mild, so dass man mit einem Wollumhang und einem Feuer in der Nähe gut die Nacht verbringen konnte - und man lauschte den wechselvollen Geschichten und beobachtete die Wassertropfen, welche wie funkelnde Edelsteine im Schein der Lagerfeuer auf die Anwesenden herab regnenten. Der Druide zog seine Runden, ebenso wie Aidan, der warmen Wein verteilte und Cahira im Vorbeigehen mal ein flüchtiges Lächeln zuwarf, kurz ihren Arm berühte oder einen Becher in die Hand drückte, gerade recht, um ihre trüben Gedanken an ihren damals noch als tot geltenden Ehemann und verschollenen Kameraden zu vertreiben.

Es war schließlich Lionel gewesen, der mit gerunzelter Stirn auf den vorsichtigen Bericht über Cyrils Tod - die genauen Umstände verschwieg sie ihrem Sohn - bedächtig bemerkte: “Aber dann ist ‘rida ja ganz alleine und einsam. So wie Du, seit athair nicht mehr bei uns wohnt!” und damit den Anstoss zum später vorgebrachten Vorschlag gab, mit der Füchsin den großen Hof gemeinsam zu bewirtschaften.

Cahira wusste nicht, wie viele Nächte sie grüblend wach gelegen hatte oder wie oft sie einen Tränen- oder Wutausbruch entweder gerade noch verhindert oder sich, alleine wähnend, hingegeben hatte seitdem Kyron von einem Tag auf den anderen verschwunden war und sie sich so hilflos, nutzlos, ungeliebt gefühlt hatte. Lionel hatte davon natürlich nichts mitbekommen sollen, umso erschreckend war es, wie feinfühlig der Junge doch war. Denn er hatte Recht. Trotz Kollegen, Kameraden, der vielen Arbeit fühlte sie sich immer etwas abseits stehend, wie unter einer Glocke, welche die Geräusche und Klänge von außen nur dumpf an sie heranließ.

So ganz uneineigenmützig wie es anfangs schien, war dieses Angebot nicht. Lionel verehrte Cyrils Verlobte nachdem er einige Zeit bei ihr im Südwald verbracht hatte und Cahira musste sich, gerade was Koch- und Backkünste betraf, sehr oft einen für sie nicht vorteilhaften Vergleich stellen. Sie würde viel von Querida lernen können, denn obwohl sie selber das Kind eines galatischen Bauern und Pferdezüchters war, hatten die Götter zunächst einen anderen Weg für sie vorgesehen. Der Junge würde die Frau aufmuntern, so wie er auch in den schwersten Stunden auf ihre Lippen ein Lächeln zaubern konnte, und sie selber hätte weniger Gewissensbisse ihrer Arbeit - Klinge und Verwaltung der Baronie - nachzugehen, da sie wusste, der Sohn wäre in guten Händen. Und zum Anfang des Sommers stand die Geburt des zweiten Kindes an und da war es vielleicht ganz gut, nicht nur mit einem kleinen Jungen, seinem Wolfshund und ein paar Hühnern unter einem Dach zu leben. Zudem hätte Zweitürmen mit Querida eine hervorragende Landwirtin verloren.

Doch ebenso wie das Jahr 1402 auf den Inseln mit einer freudigen Veränderung - ihrer Verlobung mit dem angesehenen Heiler Aidan - und dann mit Enttäuschung - der Mann entpuppte sich als Schwindler und viel schlimmer als garstiger Hexer - begonnen hatte, fing auch das Jahr 1403 in Servano, Zweitürmen an. Die Hochstimmung des Umzugs wich ungewollter Einsamkeit, als Querida doch entschied, fort zu gehen. Cahira konnte ihr das kaum verübeln, schließlich lauerten in jeder Ecke des Hauses Erinnerungen an den toten Verlobten und keiner als sie konnte besser verstehen, wie schwer es war, mit einem plötzlich vor dem inneren Auge stehenden Bildes aus glücklichen Tagen überwältig zu werden.

Auch Kordian fand nach langer Reise Anfang des Jahres seinen Weg zurück ins Thal und versetzte die Mitglieder der Klinge in den vibrierenden Tatendrang vergangener Tage. Viel mehr noch, mit dem Hauptmann war die Person zurück gekehrt, die Kyron aus dem Einfluß von Dureth befreien konnte - so hoffte sie jedenfalls. Tatsächlich fand sich auch der Leutnant in Zweitürmen ein, als wenn Kordians Aura ihn angezogen hätte. Und ob Mendoza das nun bewusst war oder nicht, er machte an einem dieser seltenen gemeinsamen dafür umso wertvolleren Abenden eine große Liebeserklärung: er hätte sich aufgeopfert, damit es keinen Krieg zwischen Kult und Klinge geben und zwangsläufig die Personen zu Schaden kommen würden, die ihm am meisten bedeuteten. Zwar hätte sich Cahira gewünscht, er hätte mehr auf seine eigene Stärke und die seiner Familie vertraut, aber es war nun einmal geschehen.

Doch auch Kordian schien es nicht lange bei seinen Kameraden zu halten, trotz großartig gesprochener Worte und Pläne. Cahira liebten den Mann wie einen Vater, einen großen Bruder, aber sie musste wohl einsehen, dass sie sich nicht auf ihn verlassen konnte - weder was die Klinge anging noch in der Angelegenheit mit Kyron. Hier stand sie nun wieder genauso ratlos da wie zuvor und sie wusste nicht, ob sie nicht lieber die Füße stillhalten sollte, zumindest bis nach der Geburt, oder sie die Schritte, welche sie noch geplant hatte, bevor Kordian aufgetaucht war, nicht doch noch tätigen sollte, denn jeder Tag, den ihr Ehemann im Dunstkreis von Dureth verbrachte, war ein Tag zuviel. Vielleicht zögerte sie auch, weil sie fürchtete, ihre Taten machten alles noch schlimmer, wie Kyron jedenfalls behauptet hatte, oder weil sie bange war, was geschehen würde, wenn ihre Anstrengungen auf keinen Erfolg stossen und ihr Repertoire an Hilfsmaßnahmen erloschen sein würde ...

Jedenfalls hatte sich die junge Frau mit dem Umzug ins Hirschenheim und dem ganzen Hausrat, den Cyril und Querida hinterlassen hatten, wirtschaftlich zwar besser gestellt, aber sie fragte sich doch, ob sie sich ungewollt nicht etwas übernommen hatte. Immerhin hatte sie auch noch für die Baracke der Klinge und die Pferdekoppel Sorge zu tragen, und obschon ihr Sohn eine große Hilfe war, musste sie sich wohl früher oder später einen Knecht oder Magd ins Haus holen. Sie hatte Glück, dass ihre Schwangerschaft bislang nicht allzu einschränkend gewesen war - vermutlich lag es an ihren täglichen Leibesertüchtigungen, welche ihre Figur in Zaum und die Muskeln geschmeidig hielten - aber allmählich schmerzten ihre Füßen oder der Rücken, wenn sie zu lange auf den Beinen war und einige ihrer Kleidungsstücke wollten auch trotz noch so raffinierter Schnürung oder festigenden Mieders nicht mehr passen.

Obwohl sie ein hoffungsfroher Mensch war, dachte sie manchesmal doch mit einem Flattern in der Magengrube an die unmittelbare Zukunft. Unter anderem fragte sie sich natürlich was mit Kyron geschehen würde, mit ihr und Lionel, dem noch nicht geborenen Kind? Oder welche Ereignisse würden sich in Zweitürmen abspielen; was hatte die Klinge geplant? Sie hielt sich dann an den Gedanken fest, dass, obwohl 1402 mit einem Schock begonnen hatte, sie doch daraufhin ihre Kameraden und Ehemann wiedergefunden hatte und sie vermutlich nie zur Suche aufgebrochen wäre, wenn nicht die Ereignisse so stattgefunden hätten, wie sie nun einmal passiert waren. Sie konnte nur hoffen und den Göttern vertrauen, dass auch 1403 mit überraschenden, hauptsächlich erfreulichen Wendungen aufwarten würde …
[Bild: Cahira-Sig.jpg]
Herzlichen Dank an Morrigan!
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Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 04.05.2015, 02:24
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