Zwei Leben
#12
Cois war gegangen und ließ Cahira ruhe- und schlaflos zurück. Sie wanderte im Zimmer umher, öffnete hier und da eine Lade, nahm wahllos Dinge heraus, um sie wieder abzulegen, setzte sich auf den Stuhl am Tisch, drückte am Kerzenwachs herum, nur um kurze Zeit später wieder ihren Gang durch das Haus aufzunehmen. Bei jedem Knarzen des alten Gemäuers, jedem Windstoß gegen die Fenster, jedem Schrei eines Käuzchens horchte sie auf, blickte zur Tür. Doch es waren nur die Geräusche der Nacht; nicht das so erhoffte nahende Scharren einer Rüstung, die schweren Schritte, die die wenigen Stufen zu Eingangstür nahmen, und schließlich die vertraute Gestalt mit schwarzem Schopf und blauen Augen, die in die Stube getreten kam ...

Sie hielt es drinnen nicht mehr aus. Goss sich irgend einen klaren Schnaps in einen Becher und setzte sich auf genau die Stufen vor das Haus. Die Tür ließ sie angelehnt, um die würzige Nachtluft hinein zu lassen und um lauschen zu können, ob sich Lionel regte. Sie hoffte, das die frische Luft ihren unruhigen Geist abkühlen und der Brand sie endlich so müde machen würde, dass sie einschlafen würden können.

Es war viel passiert in der letzten Zeit. Cahira konnte über Langeweile kaum klagen. Doch alle Ereignisse schienen auf diesen einen Höhepunkt am vergangenen Abend, dem Branwenfest, dem Fest des wallenden Blutes, hinauszulaufen. Sie versuchte das Bild, welches sich hinter ihre Stirn gebrannt hat, zu verbannen, und nahm zwei hastige Schluck aus dem Becher, um die Galle, welche bitter aufstieg, zu zähmen.

Das Regiment hatte zwei wichtige Missionen erfolgreich absolviert - die Erkundung der Höhlen in Candaria, die als Hauptumschlagplatz der Briganten dienten, und die Ausspähung feindlicher Lager im Gebirge zwischen Ravinsthal und Servano.

Bei der ersten Unternehmung wurde Cahira vom Rest der Gruppe getrennt. Sie hatte sich alleine zwischen all’ den Feinden wiedergefunden und musste jedes Wort dreimal überdenken, ehe sie es aussprach. Eine falsch Bemerkung und sie wäre wohl enttarnt gewesen, ganz gleich ob sie die grüne Kluft der Feinde trug oder nicht. Stechende Blicke in ihrem Nacken deuteten an, dass ihr Umherwandeln im Lager nicht unbemerkt geblieben war - im Nachhinein musste sie zugeben, wie dämlich und auffällig sie sich dabei verhalten haben musste - und sie konnte durch eine Ausfalltür in der Mauer fliehen. Im Lager im Südwald schloß sie wieder mit Kordian und Arthar auf. Sie war noch nie so glücklich gewesen, die Gesichter ihrer Vorgesetzten zu sehen - ausgenommen vielleicht, als sie Kordian nach langer Zeit in Löwenstein wieder getroffen hatte.

Die Kletterpartie in den Bergen verlief auch wesentlich problematischer als gedacht. Arthar wurde von einem Heckenschützen erwischt und Cahira selber, die auf einen Felsen geklettert war um ein feindliches Lager von diesem erhöhten Punkt aus zu sichten, nahm den Weg abwärts ungebremst auf Kyron, mit dem sie dann noch in einem menschlichen Knäuel ein Stück den Pfad herunter purzelte. Am nächsten Tag merkte sie diesen Sturz in allen Knochen. Auf dem Rückweg wurde dann auch Kyron verletzt. Kordian machte anzügliche Witze über seine verbliebende Zeugungsfähigkeit - solange die Männer noch scherzen konnten, war wohl alles in Ordnung.

Über all’ dem schwebte das unwohle Wissen über die anberaumte Heerschau. Zweitürmen hatte sich noch nicht geregt und was der Baron ausheckte, bekam sie nur durch zweite oder dritte Hand mit. Bei Mendozas jedoch war die lästige Frage, wer in diesen vermaledeiten Krieg ziehen sollte bereits geklärt. Der Mann sollte zuhause bei Heim und Herd bleiben und den Nachwuchs hüten. Kyron schien über Cahiras Entscheidung überrascht, akzeptierte diese aber ohne große Widerworte. Vielleicht war dies sein stilles Einverständnis, dass er Cahira nicht mehr als wehrloses Bauernmädchen sondern als gleichwertigen Soldaten sah.

Und Cahira brachte es einerseits nicht über das Herz, Vater und Sohn, die sich angenährt hatten, wieder zu trennen. Kyron hatte bereits vieles in der Entwicklung seines Sohnes verpaßt - das erste Wort, der erste Schritt, das erste Lächeln - und sie wusste, dass Lionel, falls ihr etwas passieren sollte, ihren Ehemann am Leben halten und ansonsten sein Pflichtgefühl und Vaterliebe dem Knirps gegenüber ihn keine Dummheit machen lassen würde. Andererseits war der Gedanke, Kyron wohlmöglich zum dritten Mal zu verlieren, unerträglich.

Schließlich war der Tag des Festes des wallenden Blutes gekommen. Sie konnte sich sehr gut an das ausgelassene Treiben auf der Insel erinnern; Galatier verstanden es zu feiern. Nach dieser Wildheit auf Svesur war die Feier am Goldenen Raben beinahe harmlos - nicht, dass es Cahira gestört hätte - und am Ende blieben die üblichen Verdächtigen noch am Feuer sitzen, während die übrigen Gästen langsam aber sicher den Heimweg angetreten hatten: Kordian, Anouk, Cois, Kyron, der Lionel im wahrsten Sinne des Wortes mitgeschleppt hatte, und sie selber. Es wurde über die Zukunft geredet, getrunken, gelacht ... und dann tauchte die Elster auf!

Isabelle McElister. Noch ein Name, eine Person aus der Vergangenheit, die eigentlich hätte verschollen bleiben sollen. Kyrons Nennschwester, Kultistin, ihre Kerkermeisterin, welche sie nicht nur körperlich sondern auch seelisch gefoltert hatte, Feindin.

Cahira merkte, wie ihr Mark und Bein gefror und Kyron, der neben ihr seinen Met ins Gras gespuckt hatte, drückte ihr Lionel auf den Schoß und erhob sich, um Isabelle eilig wegzuführen. Er und Isabelle hatten schon immer eine mehr als eigenartig zu nennende Beziehung gehabt. Abhängigkeit, vielleicht das Wissen um eine gemeinsame wenn auch unrühmliche Vergangenheit, die zusammenschweißte, vielleicht sogar so etwas wie Liebe ... Auch Kordian kam langsam in die Gänge. Er war angeschlagen und betrunken, sonst hätte er die Frau wahrscheinlich angegriffen, doch als das Objekt seines aufwallenden Zorns dank Kyron außer Reichweite war, verzogen er und Anouk sich. Cahira hatte alle Mühe Lionel zu beruhigen, der so unsanft aus dem Schlaf gerissen worden war, und ihre eigene Nervosität trug nicht gerade dazu bei.

Cois, wie immer die Ruhe selber, schlug letztendlich vor, nach den beiden zu suchen und nicht weit vom Festplatz fanden sie die beiden auch. Was sollte eine liebende Ehefrau fühlen, wenn sie ihren Mann mit einer anderen Frau engumschlungen wie ein Liebespäarchen entdeckte? Enttäuschung, Trauer, Zorn? Ja, all’ diese Gefühle loderten heiß in ihren Gedärmen. Doch über diesen Gefühlswallungen wisperte eine leise Stimme in ihrem Hinterkopf Vertrauen. So blöde es sich anhören mochte, sie vertraute Kyron, dass er nicht alles, was sie sich so mühsam erkämpft hatten, einfach wegwerfen würde. Der Elster traute sie jedoch kaum so weit wie sie spucken konnten.

So ging sie also mit dem Sohn nach Hause, nachdem sie Isabelle kurz am Schlafittchen gepackt und warnende Worte zugeraunt hatte - sollte diese nur sehen, dass sie sich nun durchaus zu wehren wusste - legte Lionel schlafen und wartete. Vertrauen hieß nicht, dass sie sich keine Sorgen oder Gedanken darüber machte, was die Zukunft bringen würde. Das hieß nicht, dass diese Bild, er und sie da auf der Lichtung, sie nicht quälte.

Cahira saß noch eine geraume Weile vor dem Haus, trank ab und an vom scharfen Gebräu, und erst als der Becher geleert und ihr Geist benebelt war, ging sie ins Haus, legte sich zu ihrem Sohn und schlief gnadenswerterweise recht rasch ein.
[Bild: Cahira-Sig.jpg]
Herzlichen Dank an Morrigan!
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Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 04.05.2015, 02:24
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